Auf der Müllkippe
von Hilda Kohler
Meine erste Erinnerung: Ich sitze mit Ursel unter einem Tisch und teile mir mit ihr ein Stück Brot. Meine beiden Schwestern spielen draußen vor dem Flüchtlingslager.
Ich bin die jüngste, war schon als Säugling mit meinen Eltern auf der Flucht. Meine Eltern – Baltendeutsche aus Litauen – wurden im Frühjahr 1941 „heim ins Reich“ ausgesiedelt und so kamen sie über verschiedene Flüchtlingslager 1944 nach Seesen am Harz. Hier bekamen sie eine Wohnung zugewiesen und mein Vater – in Litauen ein selbständiger Bauer – bekam Arbeit bei der Stadt. So hatten wir ein Auskommen, ärmlich und von Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmt.
Hilda Kohler als Zweijährige
(vorne in der Mitte).
Bild: privat
Jedoch schlimmer war für mich, dass ich von den einheimischen Kindern gehänselt wurde: Flüchtling, Flüchtling riefen sie hinter mir her. Ich schämte mich – konnte doch nichts dafür.
Besser wurde die Situation für mich, als ich in die Schule kam, durch gute Schulleistungen konnte ich die Schmach ausgleichen. Schon im 1. Schuljahr wusste ich, welches Kind ein Flüchtlingskind oder ein einheimisches war. Auch die Lehrer machten entsprechend Unterschiede, einheimische bevorzugten die Seesener Lehrer aus dem Osten die Flüchtlingskinder.
Hinter dem Wohnhaus bewirtschaftete meine Mutter einen kleinen Nutzgarten. Eines Tages entstand auf dem Grundstück ein Gerätehaus für die Stadt. Als Ersatz bekamen meine Eltern auf einem Schuttabladeplatz ein Stück Land zugewiesen. Diese Müllkippe war auf einer Erdfalle (einem Erdloch) errichtet. Sie zäunten das Land ein. Wir bearbeiteten „den Garten“ wie ein normales Stück Land, obwohl die Müllkippe noch teilweise genutzt wurde, vor sich hin schwelte und stank.
Ich fand häufig eine Scherbe blau goldenes Porzellan, wischte es sauber und bewahrte es auf, – So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen…
Wie viel Ignoranz, Gleichgültigkeit oder Verachtung spricht daraus, einem Bauern einen von Kriegsmüll, Abfällen und Gift verseuchten Grundstück als Garten anzubieten.
Das Schamgefühl ein Flüchtling zu sein, saß tief in mir. Ein Leben lang. Inzwischen bin ich 75 Jahre alt.
Hilda Kohler aus Wilhelmshaven,
geboren 1941 in Obschruten (Litauen).
Die Pädagogin ist verheiratet
und hat eine Tochter.