Der Klang der Sprache einer fernen Welt

Von Gerhard Köberlin


Es war wohl 1948, als ich zum ersten Mal im DULAG war. Als ich 1947 vier Jahre alt war, war ich mit meiner Familie nach Dachau gezogen. Ich kann mich nicht erinnern, daß von einem KZ die Rede war, aber ich wußte, was das DULAG ist. Heute weiß ich, daß das das KZ war. Damals war es das „Durchgangslager“ – Durchgang für die Flüchtlinge. Mein Vater nahm mich zu Besuchen mit ins DULAG. Er war der evangelische Pfarrer von Dachau.

koeberlin-1949Ich lernte, was eine Baracke ist. Ich erinnere mich genau an die Baracken. Eine stand neben der anderen, unzählig viele, alle in einer Reihe. Sie standen auf Betonklötzen, und kurze Holztreppen führten zu den Türen hinauf. Ich glaube, daß hinter jeder Türe mindestens eine Familie wohnte und die langen Baracken also viele Türen hatten. (Die historischen Fotos der KZ-Baracken zeigen nicht so viele Türen. Die Baracken waren 1948 für die Flüchtlinge umgebaut worden.) Als ich die Stufen hochstieg, hinter meinem Vater her, merkte ich, wie dunkel es in dieser Baracke ist. Es war eng drinnen und es gab viele Leute in diesem Raum und viele Kinder, und es gab einen Holzfußboden aus knarzenden Brettern. Und wir wurden herzlich empfangen.

Gerhard Köberlin im Jahr 1949
beim Hausbau in Dachau.
Foto: privat.

Da hörte ich zum ersten Mal, wie Leute ein anderes Deutsch sprachen. Für mich war das gleichbedeutend mit Flüchtling – das sind die, die anders Deutsch sprechen. Und dann schnappte ich Worte auf, die mich tief beeindruckten, solche schönen Worte, die ganz fremd und geheimnisvoll waren: Batschka, Bukowina, Dobrudscha, Bessarabien (ich dachte dabei an Arabien und Märchen), Wolga, Ural, Wolhynien. Ich wußte nicht, was diese Worte bedeuten, aber ich hörte sie aus den Gesprächen der Erwachsenen. Ich jedenfalls wußte, daß diese Worte und der Klang der Sprache aus einer fernen Welt stammt, und diese Erwachsenen und Kinder aus eben dieser fremden Welt kamen. Ich fand das aufregend. Am schönsten fand ich, wenn einer sagte: ich komme aus der Batschka. Was für ein Wort! Keine Ahnung damals. (Später fuhr ich selber in der Nähe der Batschka vorbei, auf der Autoput nach Griechenland…)

Ich erlebte dann mit, wie einige der Leute, die mein Vater mit mir im DULAG kennengelernt hatte, in Dachau blieben, nachdem das Lager aufgelöst war. Mich beeindruckte, wie sie im Dachauer Moos sofort anfingen, sich eine Hütte zu mieten und einen Garten anzulegen und Gemüse zogen, wunderbares Gemüse, und eventuell auch eine Ziege hatten. Und was für ausgezeichnete Handwerker sie waren. Davon profitierte die evangelische Kirche in Dachau (deren Gemeinde ja dann mehrheitlich aus den Flüchtlingen von Südosteuropa bestand). Natürlich kam der Mesner aus dieser Flüchtlingswelt und konnte alles reparieren.

Erst sehr viel später, nach der Auflösung des DULAG, nach der mühsam erkämpften Erinnerung an das KZ in Dachau, betrat ich das Gelände als Jugendlicher wieder. Dann erst lernte ich die Vorgeschichte der Flüchtlingswelt kennen – die Baracken als Häftlingsbaracken. Aber das war eine andere Geschichte.

Zur Geschichte des DULAGs Dachau:

29.4.1945 Befreiung des KZ, damals über 32.000 Häftlinge. Umwandlung zum amerikanischen Internierungslager. 1948 nach dem Ende der Dachauer Prozesse Übergabe des KZ durch die US-Militärregierung an die bayerischen Behörden. Daraufhin Umwandlung zum DULAG/ Wohnlager Dachau-Ost für Flüchtlinge aus (Süd-)Osteuropa, etwa 2400 Plätze. Baracke 30 wurde zur Lagerschule.
koeberlin-1Ab 1950 Wohnungsbau für die Flüchtlinge, Auszug aus dem Lager. 1955 finden die ehemaligen Gefangenen zum Jahrestag das Lager in verwahrlostem Zustand vor. Sehr schwieriger Prozeß bis zur Umwandlung des Lagers als Gedächtnisstätte heute.

Gerhard Köberlin, geb. 1943 in Marktredwitz/Ofr.
Aufgewachsen in Dachau bis 1962.
Später Pfarrer der evang. Kirche in Bayern
und dann international tätig.
Seit 2006 Ruhestand in Hamburg.
Foto: Privat


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