Nicht immer willkommen

Von Josef Heieis und Irmtraud Gemmer

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Ich muss vorwegnehmen, dass es zwischen der „Flucht“ meiner Vorfahren und den heutigen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten keine Parallelen gibt. Meine Vorfahren, darunter mein heute noch lebender fast 93-jähriger Vater, waren keine Flüchtlinge aus Eigeninitiative, sie wurden vertrieben aus ihrer angestammten Heimat und verloren nach langen Schikanen durch die tschechische Bevölkerung ihr komplettes Hab und Gut. Es wurde beschlagnahmt. Sie mussten innerhalb einer Stunde ihre Wohnung verlassen im Jahre 1946 mit 50 kg Gepäck (was nicht viel ist, wenn man einen Bauernhof mit zwei Wohnhäusern bessesen hat) und wurden in ein Sammellager überstellt in der Kreisstadt Mies, von wo aus sie mit Viehwaggons nach einigen Tagen nach Deutschland verfrachtet wurden. Erst einmal waren sie der Willkür der Tschechen ausgesetzt und wurden nochmals ihres letzten Hab und Gutes beraubt. Sie hatten kein Geld für Schlepper, konnten kein Eigentum vorab verkaufen und keine freiwilligen Helfer und hergerrichtete Notunterkünfte wie heute und schon gar keine Familie, die Geld sammeln konnte um einzelnen Mitgliedern der Sippe die Flucht zu ermöglichen. Sie waren enteignet. Die einzige Parallele in diesen Geschichten ist die, dass auch schon damals die Amerikaner das besetzte Sudentenland, so wie heute den Irak oder Afgahnistan, einfach der Willkür überliesen und ihre Truppen abzogen Richtung Bayern. Da hat man nichts dazu gelernt.

Die beiden verheirateten Schwestern meines Vaters (damals Mitte dreißig) kamen mit ihrer Familie, mit drei bzw. vier Kindern in Lauterbach in Oberhessen (von Mies in Böhmen bis Lauterbach im Viehwaggon) an und wurden dann mit einem Persnenzug nach Hirzenhain gebracht, von wo aus sie in die umliegenden Dörfer verteilt wurden. Die Bauern haben sie mit Pferdefuhrwerken abgeholt und in einen Wirtshaussaal im kleinen Örtchen Usenborn (heute Ortenberg) gebracht. Hier war bereits kurz vorher schon ein Flüchtlingstransport aus Mähren angekommen und die Unterkünfte waren knapp. Die Flüchtlinge wurden zwangseingewiesen auf die einzelen Häuser im Dorf. Jede Familie bekam ein Zimmer und sie waren nicht immer sehr willkommen, da die Dorfbevölkerung auch noch an den Folgen des zweiten Weltkrieges zu leiden hatte. Viele Männer waren noch nicht aus der Gefangenschaft zurück gekehrt oder kamen gar nicht mehr nach Hause. Das war dann eine Möglichkeit, auf den Höfen mitzuarbeiten, da vor allem die Männer fehlten. Durch diese Arbeit kam man sich auch näher und das Bild der einheimischen Bevölkerung von den „Pollaken“ wurde in ein anderes Licht gerückt.

Heieis 2 1948Josef Heieis arbeitete
nach seiner Ankunft
1948 als Knecht.
Foto: privat

Meine Großeltern, die Eltern meines Vaters, mit ihren beiden noch nicht verheirateten Kindern (24 und 14) kamen in Gera, der damaligen russischen Zone an und wurden auf einem Bauernhof in Illsitz (Nähe Altenburg) eingewiesen, da waren bereits zwei Flüchtlingsfamilien untergebracht. Vor der Unterbringung mussten sie erst eine Woche in Quarantäne verbringen in Gera, da meine Großmutter nicht mehr laufen konnte aufgrund eines langen Rheumaleidens. Das ist heute unvorstellbar. Mein Opa war damals 57 Jahre alt, hatte von einem Tag auf den anderen sein ganzes bisheriges Leben verloren und musste für die Russen arbeiten bei der Demontage und beim Abtransport einer ostdeutschen Fabrik. Der 14jähriger Bruder meines Vaters (ist noch am Leben) musste sich für sein täglich Brot bei einem Bauern im Nachbarort verdingen (es gab kein Essen und keinTaschengeld wie heute und auch keine Kleidung, heute würde man das Kinderarbeit nennen) und die 24jährige Schwester arbeitete im Haushalt des Bauern mit, bei dem sie untergebracht waren.

Dem jüngsten Bruder gelang 1948 die Flucht aus der DDR zu seinen älteren Schwestern in Usenborn. Eine dieser Schwestern mit Familie hat sich dann einen Bauernhof in Franken gepachtet (dem Herkunftsland der Sudetendeutschen). Die andere Familie kaufte sich ein älters Anwesen in Usenborn, nachdem der Ehemann eine Anstellung bei Buderus in Hirzenhain gefunden hatte.

Heieis Josef 2016Mein Vater war lange in französicher Kriegsgefangenschaft in der Bretagne, zum Schluss auch freiwillig, da er kein Zuhause und keinen Ort mehr hatte, wo er hingehen konnte. Er fand seine beiden ältern Schwestern in Hessen über das Rote Kreuz wieder. Seine Eltern, meine Großeltern, holte er 1950 aus der Nähe von Altenburg nach Westdeutschland, nachdem er in der Lage war, für sie ein Zimmer bereit zu stellen. Meine Großeltern haben nie wieder mehr als ein Zimmer gehabt in ihrem restlichen Leben.

Josef Heieis im Alter von 93 Jahren.
Geboren 1923 in Pernharz / Kries Mies im Sudentenland.
Lebt seit 1948 in Ortenberg. Verwitwet, drei Töchter,
sieben Enkel und eine Urenkelin. Foto: privat

Die in der DDR verbliebene Schwester heiratete den Sohn des Bauern in Illsitz, bei dem sie eingewiesen waren. Der Bauer  war allerdings mittlerweile durch das Regime der DDR enteignet und hatte sich das Leben genommen.

Mein Vater ist auf einem Bauernhof, der mittlerweile auch nicht mehr existiert, eingeheiratet und ist heute Rentner. Für eine Berufausbildung blieb ihm keine Zeit und keine Möglichkeit, da er von der Schulbank weg in den Krieg ziehen musste und anschließend um das tägliche Überleben kämpfen musste.

Sein ältester Bruder kam nicht mehr aus Russland zurück und die gesamte Familie ist durch dieses Vertreibungsschicksal über ganz Deutschland verteilt worden. Die alten Strukturen konnten nie wieder hergestellt werden und als wir nach der Wende, Anfang der 90er Jahre, das Dorf Pernharz im heutigen Tschechien besucht haben, waren wir alle entsetzt über den Zerfall des ehemaligen Heimatdorfes meiner Familie, das diese nach eigenen Angaben geordnet verlassen hatte.

Gemmer 2016Allerdings gab es auch tschechische Bürger, die sich an meinen Vater und dessen Bruder erinnerten und uns herzlich und auch unter Tränen begrüßten. Mein Großvater war einmal der Bürgermeister von Pernharz.

Irmtraud Gemmer aus Nidderau
hat diese Erinnerungen ihres Vaters
Josef Heieis, 93 Jahre, aufgezeichnet.
Bild: privat

 

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29 Kommentare zu “Nicht immer willkommen

  1. Schon dem ersten Satz möchte ich widersprechen: Meine Vorfahren…waren keine Flüchtlinge aus Eigeninitiative, sie wurden vertrieben… Ja, was meint der Schreiber denn, was den Flüchtlingen von heute geschah? Sie wurden auch vertrieben – von Bomben. Herzlichen Dank. Der Ton des ganzen Briefes gefällt mir nicht. Es wäre besser gewesen, Herr Heieis hätte nicht ständig mit heutigen Verhältnissen verglichen, die er mehr oder minder nur aus der Zeitung kennt, sondern schlicht erzählt, was ihm geschah.

  2. Auch ich bin, ähnlich wie Frederike Frei, bei diesem Bericht über zwei Dinge gestolpert:
    Erstens die Abgrenzung von „Vertriebenen“ gegenüber „Flüchtlingen“ infolge von Kriegsereignissen, die den Eindruck erweckt, als sei ersteres ein härteres Schicksal. Das kann ich nicht nachvollziehen. Mir erscheint eher, dass hier der von Vertriebenenverbänden überJahrzehnte aufrecht erhaltene Anspruch auf Rückkehr in die „alte Heimat“ resp. Entschädigung nachwirkt. Ein Grund übrigens, warum Tschechien, aus Angst vor Kompensationsforderungen, eine Ungültigerklärung der Benes-Dekrete bis heute verhindert.
    Zweitens der undifferenzierte Sprachgebrauch „der Willkür der Tschechen ausgesetzt“, der am Schluss des Berichts nur teilweise relativiert wird. Dieser Sprachgebrauch mag zwar richtig die Gefühle der Betroffenen wiedergeben und, auf die Zeitumstände bezogen, auch weitgehend zutreffen, von einem Bericht aus einem Abstand von 70 Jahren ist dennoch mehr Differenziertheit zu erwarten.

    Zum Vergleich gehe ich hier auf einzelne Aspekte des Schicksals unserer Familie ein. Genaueres unter http://frblog.de/anf-engelmann/
    Meine eigene Familie fällt unter die Kategorie „Flüchtlinge“, die übrige Verwandtschaft unter „Heimatvertriebene“ mit ähnlichen Erfahrungen wie die von Irmtraud Gemmer geschilderten.
    Die Flucht unserer Familie steht in Zusammenhang mit einem Aufstand tschechischer Arbeiter in dem Betrieb, bei dem mein Vater Mitbesitzer war. Bei Wikipedia findet sich unter „Triesch/Trest“ (20 km südlich von Iglau/Jhlava) folgender Hinweis:
    „1945 gründete sich in Triesch ein revolutionärer Volksausschuss, der in den letzten Kriegstagen den bewaffneten Aufstand gegen die deutschen Besatzer aufnahm. Bei den Kämpfen fielen 23 Einwohner der Stadt. Nach der Niederschlagung des Maiaufstandes wurde auf dem Hof des Gefängnisses 33 der Aufständischen hingerichtet.“
    Auch hier ein Beispiel einer undifferenzierten, politisch gefärbten und unkorrekten Darstellung (diesmal aus tschechischer Sicht). Die angeblichen „deutschen Besatzer“, waren seit langem ansässige deutsche Familien, darunter meine Familie (nach Recherchen meines Onkels seit mindestens 300 Jahren in der Iglauer Sprachinsel ansässig). In Triesch (außerhalb der Iglauer Sprachinsel) sind nur zwei deutsche Familien nachgewiesen.
    Die Hinrichtung meines Vaters 1946 durch ein tschechisches „Volksgericht“ stand in Zusammenhang mit der genannten Erschießung von 33 „Aufständischen“. Auch dies hatte nichts mit „Besatzung“ zu tun. Sie erfolgte vielmehr durch deutsches Militär, das sich auf dem Rückzug von der Ostfront befand. Dies hatte zuvor meinen Vater befreit, der von den „Aufständischen“ gefangen genommen und misshandeltworden war. Die Erschießung war ein Revancheakt des Militärs, für den man – offensichtlich, da man sonst keiner anderen „Verantwortlichen“ habhaft werden konnte – im Nachhinein meinen Vater mit verantwortlich machte, obwohl er nach Zeugenaussagen die Militärführung angefleht hatte, davon Abstand zu nehmen.
    Zur Qualität dieser „Volksgerichte“ nach Benes-Dekret vom 19.6.1945 findet sich bei „Justiz und Erinnerung“ der Hinweis auf völlig fehlende juristische Kenntnisse, „ungenügende Intelligenz“ sowie die Forderung des (tschechischen) Nationalausschusses auf „rasche Aburteilung, um wachsender Neigung zu Lynchjustiz in der tschechischen Bevölkerung zuvorzukommen“ (vgl. oben genannte Dokumentation, Fußnote).
    Dies als Beispiel für die Komplexität der wirklichen Sachverhalte, denen eine pauschalisierende Darstellung nicht gerecht wird: die Version meiner Mutter („von den Tschechen umgebracht“) ebenso wenig wie in in Wikipedia.
    Auch der Verteibung der Verwandtschaft meiner Mutter sind wir nachgegangen. Vor ca. 10 Jahren habe ich mit meiner (älteren) Schwester das Geburtshaus meiner Mutter aufgesucht (Doppelbauernhof nahe Iglau, ein Teil gehörte der Verwandtschaft meiner Tante). Die Besitzerin zu diesem Zeitpunkt (offensichtlich Frau eines früheren Knechts) erinnerte sich gut an meine Tante, wiederholte mehrmals „gut Frau, gut Frau“. Wir vermieden es, nach Einzelheiten zu fragen. Ihre Reaktion und ihr Wunsch, uns wieder zu sehen, machten aber deutlich, dass sie von den Bedingungen und konkreten Umstände der Vertreibung nach den Benes-Dekreten (von den Aliierten im Nachhinein gebilligt) keine Ahnung hatte.
    Dies möge verdeutlichen, dass nicht nur in Bezug auf die gegenwärtigen Beziehungen, sondern auch hinsichtlich der historischen Ereignisse – aller verständlichen Betroffenheit zum Trotz – auf größtmögliche Präzision und eine möglichst distanzierte Sicht zu achten ist.

  3. Frau Frei stellt eine Frage, die nie behandelt und deshalb auch nie geklärt worden ist: Muss man einen Unterschied machen zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen?
    Historisch ist die Antwort klar, zumindest anhand der deutschen Geschichte des Jahres 1945: Wer bis zum Kriegsende seine Heimat östlich von Oder und Neiße verlassen hat aus Angst vor dem Krieg und vor den Russen – also nicht freiwillig, ist geflohen; wer trotz Angst und Todesgefahr geblieben war und von den Siegern danach aufgrund der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz gewaltsam zum Verlassen seiner Heimat gezwungen wurde, ist ver-trieben worden.
    Politische Bedeutung hatte die Frage „Flüchtling oder Vertriebener“ bekommen, als Stalin auf der Potsdamer Konferenz Einwende der Westalliierten gegen die Annexion der deutschen Ostgebiete mit der Behauptung konterte, die Gebiete seien bereits von den Deutschen auf-gegeben worden und menschenleer. Ob es sich dabei um die zynische Lüge eines macht-gierigen Diktators oder um eine reale Zustandsbeschreibung handelt, kann offen bleiben, geklärt werden müsste aber die Frage, wie groß der Anteil der noch während des Krieges Geflohenen und wie groß der Anteil der nach Kriegsende Vertriebenen an den 12 Millionen Ostdeutschen waren, die nach dem Krieg im Restdeutschland aufgenommen werden muss-ten. Ich schätze, dass es zwei Drittel Flüchtlinge und ein Drittel Vertriebene waren, auf jeden Fall scheint der Anteil an Flüchtlingen wesentlich größer gewesen zu sein.
    Damit stellt sich die bittere und äußerst schwer zu beantwortende Frage: Wären die Be-schlüsse der Potsdamer Konferenz zu den Ostgebieten anders ausgefallen, wenn bis zum Kriegsende kein Deutscher seine Heimat im Osten verlassen hätte?
    Ich erwarte, dass diese Frage Entrüstung auslösen wird und mache dazu folgende Anmer-kung: Ich habe als kleiner Junge das Kriegsende in Berlin erlebt. Als ich später nachgefragt habe, konnte ich feststellen, dass, abgesehen von ausgemachten Nazis, weder meine El-tern, noch Verwandte, noch Freunde, Nachbarn oder andere Bekannte in Berlin auch nur einen Moment daran gedacht haben, ebenfalls zu fliehen, obwohl doch bei uns derselbe Krieg und dieselben Russen vorbeikommen würden. Wohin sollte man denn auch fliehen? Das habe ich immer wieder auch meine beiden Cousinen gefragt, die damals mit ihren Eltern – bestimmt keine Nazis – aus Pommern zu uns nach Berlin geflohen waren: „Wohin wolltet Ihr?“ Die Antwort ist bis heute immer die gleiche: „Ins Reichsgebiet!“
    Ich habe nachgefragt und muss diese Antwort interpretieren zum einen als Ausdruck eines Jahrhunderte alten Gefühls der Deutschen im Osten, „Reichsdeutsche“ gewesen zu sein, die sich in den Gebieten jenseits der Oder gegenüber den Polen, Kaschuben oder anderen Sla-wen immer als Pioniere, Kolonisten oder gar als Herren verstanden haben, zum anderen als ein Ausdruck der Furcht vor den anstürmenden Russen; denn durch Berichte von Frontsol-daten, durch die Nazipropaganda, vielleicht aber auch wegen dieses „Reichsdeutschen“-Gefühls, war allen Ostdeutschen klar, dass mit der Rache der Russen zu rechnen war. In das „Reichsgebiet“ aber würden sie nicht vordringen können, durch den entschlossenen Wi-derstand der Wehrmacht oder durch die Wunderwaffen oder vielleicht sogar durch die Ame-rikaner daran gehindert.
    Ich will nicht behaupten, meine Cousinen und die anderen Flüchtlinge seien wegen dieser heute absurd erscheinenden Einschätzung der damaligen Kriegslage selbst Schuld daran gewesen, dass sie ihre Heimat endgültig verloren haben, aber mich würde interessieren, ob andere Betroffene damals auch so wie die beiden Mädels (heute beide über 80 Jahre alt) empfunden haben.

  4. @ Klaus Bölling
    Danke für die Klärung des Unterschiedes zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Was mir an Ihrem Text allerdings nicht gefällt, ist die naive – oder eher provokante – Frage, warum denn die Menschen aus den Ostgebieten vor den Russen geflohen seien. Sie scheinen noch nie etwas von den massenhaften Vergewaltigungen durch russische Soldaten gehört zu haben. Und das waren Tatsachen und keine Nazipropaganda. Und genau davor hofften die Frauen im „Reichsgebiet“ besser geschützt zu werden (dass das möglicherweise eine Illusion war, steht auf einem anderen Blatt). Manch eine Frau wird lieber die Heimat verlassen haben als einer oder mehreren Vergewaltigung(en) zum Opfer zu fallen. Wenn Ihnen Ihre Cousinen das nicht so deutlich erklärt haben, dann wahrscheinlich aus Scham. Wer weiß, ob sie dieses Schicksal auf der Flucht nicht doch erleiden mussten, manche Frauen haben bis zu ihrem Tod nicht von diesen traumatischen Erlebnissen gesprochen. Als Mann sollte man deswegen mit seiner Kritik etwas vorsichtig sein.

    @ Frederike Frei
    Nicht alle, die im letzten Jahr zu uns eingewandert sind, mussten vor Bomben fliehen. Wer aus den Maghrebstaaten oder aus den Süd-Balkanstaaten kam und nicht politisch oder etwa aufgrund seiner sexuellen Orientierung verfolgt wurde, bekam deshalb ja auch weder politisches Asyl noch fiel er/sie unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Anmerkungen zu diesen Unterschieden waren meiner Ansicht nach durchaus berechtigt und vedienten keine derart harsche Kritik.

  5. Oh, doch, Frau Ernst, ich habe schon einmal etwas von den Vergewaltigungen gehört. Das erste Mal als Fünfjähriger im April 1945, als ich die Angst meiner Mutter beim Auftauchen des ersten Russen im Garten unseres Hauses in Berlin direkt miterleben musste. Ich meine, diese Angst noch heute spüren zu können, obwohl damals gottlob nichts passiert ist. Dass meine Cousinen mir diese Angst nicht erklärt haben, liegt vermutlich daran, dass sie damals erst elf und dreizehn Jahre alt waren. Sie könnten also auf Ihre Empfehlung an mich „als Mann“ getrost verzichten.
    Diskussionen über dieses Thema leiden immer darunter, dass man nicht genau liest oder nicht genau zuhört. Die Frage, die Ihnen, Frau Ernst, nicht gefällt, lautete nicht „warum“ die Menschen geflohen sind – das steht außer Frage, sondern „wohin“ sie angesichts der aussichtslosen Lage fliehen wollten; denn die Russen waren 100 km hinter ihnen, die Amerikaner aber 1000 km vor ihnen. Und im „Reichsgebiet“ geschützt zu sein, war nicht „möglicherweise“, sonder tatsächlich – meiner Einschätzung nach auch schon damals deutlich erkennbar – eine Illusion. Das genau aber steht nicht auf einem anderen Blatt; denn die Frage ist, ob es möglicherweise keine Vertriebenen gegeben hätte, wenn vorher nicht so viele geflohen wären – aus verständlichen Gründen, aber letzten Endes sinnlos. Weiter muss man fragen, ob die geschätzt zwei Millionen Opfer, die dann auf der Flucht ums Leben gekommen sind, auch zu beklagen gewesen wären, wenn es die Angst vor den Russen nicht gegeben hätte und alle zuhause geblieben wären.

  6. @ Peter Bläsig, 25. Juni 2016 um 14:13

    Zur Unterscheidung Flüchtlinge – Vertriebene:
    Zunächst zum Thema: „Nicht immer willkommen“, dazu das Projekt „Ankunft nach Flucht“. Es handelt sich also um subjektive Berichte über Flucht und Neubeginn danach. In diesem Zusammenhang kann ich nicht erkennen, welche Relevanz dieser Unterscheidung zukommen soll.
    Anders sieht es wohl auf politischer Ebene aus. Erkennbar schon daran, dass es einen Vertriebenenverband nicht nur mit dem Ziel des Gedenkens, sondern auch handfester Interessenvertretung gab (und noch gibt), aber keinen entsprechenden Flüchtlingsverband. Für die Unterscheidung ist der Bezug auf die Potsdamer Konferenz zwar ein Indiz, aber unzureichend. Diese sanktionierte lediglich Massenvertreibungen, die vor allem auf tschechischem und polnischem Gebiet längst im Gange waren. Dazu bei Wikipedia: „Im August 1945 hatte Churchill im Unterhaus öffentlich gegen das Ausmaß der von Polen angestrebten Gebietserweiterung und gegen die Praxis der Massenaustreibung Protest erhoben.“ Und zur Behauptung Stalins, dass die deutsche Bevölkerung bereits „fortgegangen“ sei: „Um diese Behauptung glaubwürdig erscheinen zu lassen, hatte er jedoch im Juni in einem Streifen von 100 bis 200 km östlich von Oder und Neiße alle Deutschen vertreiben lassen.“
    Vor allem die Vermutungen von Peter Bläsig bez. der Motive der Flucht erscheinen mir sehr spekulativ. Hilfreicher ist da wohl, von Fakten auszugehen, die dem damaligen Erkenntnisstand der Betroffenen entsprechen. Ich beschränke mich dabei im Folgenden auf die Situation in der Tschechoslowakei.
    Dazu aus Wikipedia, Art. „Vertreibung“:
    „Als die Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945 eröffnet wurde, hatte in der Tschechoslowakei die Vertreibung allerdings längst begonnen: Bis dahin war bereits eine Dreiviertelmillion Sudetendeutscher vertrieben worden.“
    Des Weiteren: „Im Oktober 1943 äußerte Edvard Beneš in London in kleinem Kreis: „Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben.“ Und am 16. Mai 1945 öffentlich in Prag, dass „es nötig sein wird, vor allem kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei zu eliminieren“. Im November 1944, als das Land noch bis auf die Ostslowakei von deutschen Truppen besetzt war, rief Militärbefehlshaber Sergej Ingr in der BBC auf: „Schlagt sie, tötet sie, lasst niemanden am Leben.“ „Die öffentlichen Ansprachen Beneš’ am 12. und 16. Mai, in denen er die Entfernung der Deutschen als absolute Notwendigkeit erklärte, bildeten sodann den entscheidenden Impuls zur Intensivierung der „wilden Vertreibungen“ (tschech. divoký odsun), bei der es zu brutalen Exzessen und mörderischen Angriffen gegen Deutsche kam.“
    Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass – zumindest den politisch Interessierteren diese Fakten bekannt waren und sie wohl wussten, was ihnen bevorstand, bevor die Benes-Dekrete erlassen wurden, nach denen „bis 1947 etwa 2,9 Millionen Personen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerung pauschal zu Staatsfeinden erklärt und ausgebürgert“ wurden. „Der Todesmarsch aus Brünn/Brno, 30.–31. Mai 1945: Vertreibung von etwa 27.000 Deutschen, wahrscheinlich etwa 5200 Tote“ war nur der schlimmste der darauf folgenden Exzesse. Angst vor Vergewaltigungen durch russische Soldaten ist demgegenüber lediglich als zusätzliches Movens, keinesfalls als alleiniger Grund anzusehen.
    Angesichts dieser Fakten erscheint es mir fast zynisch, Schicksale von Vertriebenen und von Flüchtlingen gegeneinander auszuspielen. Dazu zähle ich auch Spekulationen, Flucht darauf zurückzuführen, dass man sich „als Herren verstanden“ habe. Mit einer kritiklosen Übernahme von geschichtsklitternden Rechtfertigungsversuchen (ob von deutscher oder anderer Seite), wie sie vor allem in nationalistischen Kreisen üblich sind, ist niemandem gedient. (Dafür, dass sich solches auch bei Wikipedia findet, habe ich in meinem Beitrag vom 21. Juni ein Beispiel gegeben.)
    Statt dessen sollten kritische und selbstkritische Ansätze verfolgt werden, wie sie etwa der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel in der Vertriebenenfrage zeigte. So auch der Bürgermeister Pavel Vokřál von Brünn, der den 70. Jahrestag der (so wörtlich) „gewaltsamen Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Brünn“ (30. Mai 2015) zum Anlass für gemeinsames Gedenken mit Deutschen und Österreichern nahm.
    – Hinweis: Wegen einer Reise werde ich in den nächsten 18 Tagen vermutlich zu keiner weiteren Antwort in der Lage sein.

  7. @ Peter Bläsing
    Die Frage, wohin sie hätten fliehen sollen, halte ich ja nun wirklich für müßig. Man hat Angst vor den Russen, sie rücken von Osten her heran, und dann soll man sich die Frage stellen, wohin man fliehem soll? Sinnvollerweise doch lieber nicht in die Richtung derer, die einem Angst machen, also nach Osten, sondern eher die die Gegenrichtung, nämlich nach Westen. Ist das so schwer nachzuvollziehen?
    Zu Ihren Cousinen: auch 11- bis 13jährige wurden vergewaltigt, ich fürchte, da sind Sie unzureichend unterrichtet.

    Ich halte es grundsätzlich für müßig, sich zu fragen, warum und wohin Menschen fliehen, die sich an Leib und Leben bedroht fühlen. Weder die Flüchtlinge damals noch die heute können abschätzen, welches Verhalten aus der Sicht der späteren Historiker sinnvoll gewesen wäre. Denen, die damals aus den Ostgebieten geflohen sind, heute indirekt vorzuwerfen, sie hätten die Vertreibung anderer verursacht, halte ich für blanken Zynismus. Leute, die um ihr Leben rennen, denken vielleicht nicht so rational wie jemand, der die Ereignisse 70 Jahre später gemütlich daheim auf dem Sofa überdenkt.
    Und werden die heutigen Flüchtlinge denn etwa von ihrer Ratio gesteuert? Es gibt doch jetzt schon eine Menge von Syrern und Afghanen, die den Rückweg in die Heimat antreten, weil sie sich von ihrem Leben in Europa falsche Vorstellungen gemacht haben. Und später, wenn die Kriege im Nahen und Mittleren Osten igendwann einmal vorbei sind, wird es dann auch ein paar Klugschnacker geben die sagen: „Wären nicht so viele aus diesen Gebieten geflohen, wäre der Vormarsch de IS besser zu stoppen gewesen und die zerstörten Städte könnten schneller wieder aufgebaut werden.“?
    Ich gebe Ihnen recht: Fluchtbewegungen sind sinnlos, aber nicht, weil die Flüchtenden sinnlos handeln, sondern weil Kriege sinnlos sind.

  8. Frau Ernst und Herr Engelmann erklären meine Frage, ob 1945 die Flucht der Ostdeutschen in das Reichsgebiet sinnvoll war, für spekulativ und deshalb für unzulässig. 70 Jahre später dürfe man, auf dem bequemen Sofa sitzend, so etwas nicht fragen. Daraus ergibt sich aber die nächste Frage: Warum betreiben wir dann Geschichte? Warum hat die FR die Aktion zur Erinnerung an die Flucht von 1945 überhaupt gestartet? Es geht doch wohl darum, aus der Vergangenheit zu lernen. Das kann man aber nur, wenn man die geschichtlichen Vorgänge so genau wie möglich analysiert und sie möglichst frei von Emotionen beurteilt. Das darf in Ausnahmefällen auch dazu führen, dass man sie verurteilt. Als Beispiel für eine solche Verurteilung aufgrund geschichtlicher Untersuchungen kann die Wehrmachtsausstellung mit der Darstellung der Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg bezeichnet werden. Sie ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass eine solche Verurteilung einer bislang als ehrenhaft eingestuften Organisation erhebliche Turbulenzen auslösen kann. Nichtsdestoweniger erscheint eine geschichtliche Aufarbeitung zwingend notwendig, gemäß dem alten Spruch: „Wer aus den Fehlern der Vergangenheit nichts lernt, wird sie noch einmal begehen müssen.“
    Zu den Turbulenzen, die ich bisher ausgelöst habe, ist festzustellen, dass sie, wie erwartet, schwierig zu führenden Diskussionen hervorrufen. Frau Ernst weigert sich weiterhin standhaft, meinen Text genau zu lesen. Ich frage nicht, wohin die Menschen fliehen sollten, sondern ich versuche herauszufinden, welches Ziel sie erreichen wollten; denn angesichts der Kriegslage gab es keinen für sie erreichbaren sicheren Ort, Flucht war also sinnlos. Frau Ernst bestätigt das, wenn sie hartnäckig darauf besteht, dass meine Cousinen während der Flucht vergewaltigt worden sind; denn gerade das sollte ja durch die Flucht verhindert werden. Im Gegensatz dazu sind die Syrer und Afghanen vor IS und Taliban in Sicherheit, wenn sie die Türkei oder schließlich Deutschland erreicht haben. Dass viele von ihnen wieder zurückgehen, verleitet Frau Ernst zu der Spekulation, dass es ihnen bei uns nicht gefallen hat. Vielleicht hoffen sie ja auch, möglichst bald mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte beginnen zu können? Übrigens haben mein Großvater und ein Onkel schon im Mai 1945 eingesehen, dass die Flucht ein Fehler war und wollten wieder zurück, aber die Polen haben sie nicht gelassen. Da waren sie von Flüchtlingen zu Vertriebenen geworden.

    Herr Engelmann will, wenn ich ihn richtig verstanden habe, anhand des Beispiels der Sudetendeutschen meine Vermutung widerlegen, dass Flucht erst Vertreibung ermöglicht hat. Für das Sudetenland mit seiner besonderen Vorgeschichte der Annexion durch Deutschland aufgrund des Münchener Abkommens ist das richtig, erklärt aber nicht die Vorgänge in Ostpreußen, Pommern und Schlesien, wo die Deutschen keine Minderheit waren, die glaubte, sich kämpferisch zur Wehr setzen zu müssen, anstatt zu fliehen.

  9. @ Peter Bläsing
    Mir scheint, nicht ich habe Ihren Text falsch gelesen, sondern Sie haben ihn falsch in Erinnerung. Ich darf Sie zitieren: „Die Frage, die Ihnen, Frau Ernst, nicht gefällt, lautet nicht, „warum“ die Menschen geflohen sind – das steht außer Frage, sondern, „wohin“ sie angesichts der aussichtslosen Lage fliehen wollten.“
    Genau auf diese Textpassage habe ich geantwortet. Ob es den Fliehenden damals, wie Sie behaupten, schon deutlich erkennbar war, dass sie im „Reichsgebiet“ nicht gechützt sein würden, wage ich zu bezweifeln. Dass man den offiziellen Verlautbarungen der Heeresleitung kaum glauben konnte, war den meisten wahrscheinlich klar. Welche Truppenverbände aber tatsächlich wo standen, konnten die breite Bevölkerung wohl kaum abschätzen. Nicht jeder hatte die Möglichkeit oder den Mut, die Rundfunksendungen der Alliierten abzuhören, andere Informationsquellen gab es nicht.

    Ich bestehe auch nicht „hartnäckig“ darauf, dass Ihre Cousinen vergewaltigt wurden, sondern ich habe die Möglichkeit, dass dies hätte geschehen können, aufgezeigt und somit ein mögliches Fluchtmotiv für die Familie genannt. Den Cousinen selbst wird das angesichts ihres jugendlichen Alters sicher nicht mitgeteilt worden sein.

    Hätten Sie meinen Text richtig gelesen, wäre Ihnen auch klar geworden, dass ich mitnichten die Legitimität von historischen Analysen angezweifelt habe, sondern dass ich es für unangemessen, ja unfair halte, Menschen, die aus ihrer subjektiven Sicht um ihr Leben gerannt sind, nachträglich vom gemütlichen Sofa aus vorzuhalten, sie hätten besser zu Hause bleiben und sich den feindlichen truppen ausliefern sollen. Menschen in Kriegssituationen verhalten sich nicht immer rational. Das sieht man z.B. an den heutigen Kriegsflüchtlingen, wenn sie sich lieber der Todesgefahr einer Überfahrt über das Mittelmeer aussetzen, anstatt in den relativ sicheren Flüchtlingslagern in der Türkei oder Libyens auszuharren. Wollen Sie ihnen das vorwerfen?
    Die Analyse der Geschichte kann zukünftigen Kriegsopfern mit Sicherheit keinen Leitfaden liefern, wie sie sich in solchen Notsituationen zu verhalten haben. Die Lehren, die aus der Geschichte zu ziehen sind, können nur in politischer Wachsamkeit und in der Vermeidung von Fluchtursachen, sprich Kriegen, bestehen.

  10. Zunächst möchte ich mich bei Ihnen, Frau Ernst, für ihre prompten Beiträge bedanken. Offenbar interessiert Sie das Thema „Flucht 1945“ genau so stark wie mich.
    Einen substanziellen Hinweis darauf, wie die Flüchtlinge geglaubt haben, der drohenden Gefahr entkommen zu können, habe ich bei Ihnen nicht gefunden. Sie beantworten am 27.6.,18:58, zunächst eine Frage, die ich nicht gestellt habe:

    die naive – oder eher provokante – Frage, warum denn die Menschen aus den Ost-gebieten vor den Russen geflohen seien.

    Dann erklären Sie am 28.6.,9:41:

    Die Frage, wohin sie hätten fliehen sollen, halte ich ja nun wirklich für müßig….

    Auch diese Frage hatte ich nicht gestellt. Ich möchte herausfinden, welche Vorstellungen die Flüchtlinge vom Sinn ihrer Flucht gehabt haben könnten, um beurteilen zu können, ob sie sich in ihrer Angst und Verzweiflung der Aussichtslosigkeit ihrer Flucht bewusst waren oder hätten bewusst sein können.
    Sie schreiben dann weiter:

    Ich halte es grundsätzlich für müßig, sich zu fragen, warum und wohin Menschen fliehen, die sich an Leib und Leben bedroht fühlen. Weder die Flüchtlinge damals noch die heute können abschätzen, welches Verhalten aus der Sicht der späteren Historiker sinnvoll gewesen wäre. Denen, die damals aus den Ostgebieten geflohen sind, heute indirekt vorzuwerfen, sie hätten die Vertreibung anderer verursacht, halte ich für blanken Zynismus. Leute, die um ihr Leben rennen, denken vielleicht nicht so rational wie jemand, der die Ereignisse 70 Jahre später gemütlich daheim auf dem Sofa überdenkt.

    Ich habe mich und andere – natürlich auch Frauen – durchaus in Situationen erlebt, in der Leib und Leben bedroht waren. Ich kann nicht sagen, dass dann der Verstand immer ausgeschaltet war und ein logisches Abschätzen der Möglichkeiten der Rettung nicht stattfinden konnte. Ich denke, dass das auch bei der überwiegenden Mehrheit der damaligen Flüchtlinge so gewesen sein wird. Die vielen Schilderungen von Fluchterlebnissen, denen ich in den letzten 70 Jahren zugehört habe, lassen diesen Schluss zu. Das ist aber genau mein Punkt. Ich versuche herauszufinden, zu welchen Ergebnissen diese Abschätzungen damals geführt haben könnten und warum die Flucht dann die Konsequenz war. Nachfragen oder Diskussionen darüber sind aber erst in der letzten Zeit möglich, nachdem der Schmerz und das Heimweh etwas nachgelassen haben.
    Sie äußern sich dazu leider auch hier nicht. Ich verstehe diesen Abschnitt so, dass Sie eine spätere Untersuchung und Bewertung solcher Vorgänge prinzipiell für unzulässig halten. Dass mir dieses Nachfragen ungerechte Verdächtigungen und den Vorwurf des Zynismus eintragen wird, war zu erwarten.
    Also bleibt die Antwort „Ins Reichsgebiet“ die einzige authentische Antwort auf die Frage „Wohin wollten sie“. Am 29.6., 21:35 schreiben Sie dazu:

    Ob es den Fliehenden damals, wie Sie behaupten, schon deutlich erkennbar war, dass sie im „Reichsgebiet“ nicht geschützt sein würden, wage ich zu bezweifeln. Dass man den offiziellen Verlautbarungen der Heeresleitung kaum glauben konnte, war den meisten wahrscheinlich klar. Welche Truppenverbände aber tatsächlich wo standen, konnten die breite Bevölkerung wohl kaum abschätzen. Nicht jeder hatte die Möglichkeit oder den Mut, die Rundfunksendungen der Alliierten abzuhören, andere Informationsquellen gab es nicht.

    Mehr als Mutmaßungen und Zweifel an meinen Einschätzungen stehen Ihnen demnach auch nicht zur Verfügung. Leider.
    Ich muss bis auf weiteres bei meiner Annahme bleiben, dass die Flüchtlinge die Sinnlosigkeit ihrer Flucht hätten erkennen können und dass es weniger Opfer gegeben hätte, wenn auch in den Ostgebieten, so wie im Reichsgebiet, alle zuhause geblieben wären. Ob dann die Annexion dieser Gebiete und die Vertreibung unterblieben wären, ist in der Tat eine Vermutung, die sehr spekulativ ist. Sie wird kaum zweifelsfrei zu klären sein, es sei denn, aus russischen Archiven kommen eines Tages wunderliche Dinge zutage.

  11. @ Peter Bläsing

    Na gut, dann steht also Annahme gegen Annahme. Sie nehmen, ohne dies belegen zu können, an, die damaligen Flüchtlinge hätten erkennen können, dass ihre Flucht sinnlos war; ich dagegen glaube, dass ihnen das nicht möglich gewesen sei. Und für meine Position spricht immerhin, dass diejenigen, die ihre Heimat verlassen haben, doch ganz offensichtlich von der Alternativlosigkeit ihres Tuns überzeugt waren, sonst wären sie ja zu Hause geblieben. Oder glauben Sie ernsthaft, Menschen verlassen Heimat und Landbesitz, obwohl sie erkannt haben, dass dies der falsche Weg ist? Sie müssten ja ziemlich dämlich sein!
    Des Weiteren vertreten Sie die These, es wäre nicht zu den massiven Opfern und gekommen, wären die Flüchtlinge in den damaligen deutschen Ostgebieten geblieben. Auch dafür liefern Sie keine Beweise. Und Ihre Annahme, dass in diesem Fall die Annexion dieser Gebiete unterblieben wäre, nennen Sie selbst spekulativ.

    Eine spätere Untersuchung der Überlegungen, die zur Flucht geführt haben, halte ich keineswegs für unzulässig. Ich weise lediglich darauf hin, dass die Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen zukünftigen Kriegsopfern kaum bei ihrer Entscheidung, ob sie fleihen oder bleiben sollen, helfen werden.

  12. @ Brigitte Ernst

    Ohne Zweifel war den Flüchtlingen nicht klar, dass ihre Flucht keinen Sinn hatte. Dass es ihnen nicht klar war, soll beweisen, dass es ihnen nicht klar sein konnte? Das ist ja eine putzige Beweisführung.
    Den Beweis dafür, dass den Ostpreußen, Pommern und Schlesiern weniger passiert wäre, wenn sie zuhause geblieben wären, haben die Mecklenburger, Brandenburger und Sachsen „im Reichsgebiet“ geliefert. Obwohl zu ihnen derselbe Krieg und dieselben Russen gekommen waren und sie nicht geflohen waren, haben die meisten von ihnen überlebt und ihre Häuser und Höfe behalten. Sie konnten dann später sogar viele der Ostpreußen, Pommern und Schlesier bei sich aufnehmen.
    Immerhin muss Stalin mit der Behauptung, die Gebiete seien menschenleer – ob richtig oder nicht – gegen Truman und Churchill/Attlee argumentiert haben. Die Tatsache, dass so viele geflohen waren, hat also in den Verhandlungen in Potsdam eine Rolle gespielt. Und es dürfte klar sein, dass die Vertreibung der Ostdeutschen, wenn sie alle zuhause geblieben wären, von Stalin schwieriger durchzusetzen gewesen wäre als die dann tatsächlich beschlossene Vertreibung des bei Kriegsende noch in den Gebieten verbliebenen Drittels. Ob das dann gereicht hätte, die Annexion zu verhindern, weiß keiner.
    Die Untersuchung, welche Überlegungen zur Flucht geführt haben könnten, ist also doch nicht müßig – eine Hilfe für zukünftige Kriegsopfer ist daraus allerdings kaum abzuleiten, das stimmt. Das ist auch nicht mein Ziel. Wenn es gelänge klarzumachen, dass der sinnlose, verheerende Exodus aus den deutschen Ostgebieten von 1945 auf eine Massenpsychose zurückzuführen ist, die aus einer Jahrhunderte langen und von den Nazis mit dem Begriff vom „Untermenschen“ auf die Spitze getriebene Hetze gegen die Russen entstanden war, und diese Hetze heute noch immer nachwirkt, dann wäre für die korrekte Bewertung der derzeitigen Lage in Osteuropa schon viel gewonnen.

  13. @ Peter Bläsing

    „Den Beweis dafür, dass den Ostpreußen, Pommern und Schlesiern weniger passiert wäre, wenn sie zuhause geblieben wären, haben die Mecklenburger, Brandenburger und Sachsen „im Reichsgebiet“ geliefert. Obwohl zu ihnen derselbe Krieg und dieselben Russen gekommen waren und sie nicht geflohen waren, haben die meisten von ihnen überlebt und ihre Häuser und Höfe behalten.“
    Diese Argumentation finde ich nun wiederum putzig. Die sowjetische Armee kam ja erst kurz vor Kriegsende in diese Gebiete, und man kann davon ausgehen, dass die Frustrationen und Aggressionen der sowjetischen Soldaten nach der deutschen Kapitulation schon etwas abgemildert waren und ihre Führung daran interessiert war, als Teil der allierten Siegermächte in den von ihnen offiziell besetzten Gebieten relativ bald geordnete Zustände einkehren zu lassen. Dennoch sind Massaker an der Zivilbevölkerung dokumentiert, z.B. im brandenburgischen Treuenbrietzen und in Demmin in Vorpommern. Wenn man einige der Vorwürfe an die Sowjetarmee vielleicht auch deutscher Legendenbildung zuschreiben kann, so gibt die Dokumentation von polnischer Seite zu den Ereignissen im Dorf Przyszowice nahe Gleiwitz ein gutes Beispiel für die Gewalt, mit der die deutsche Bevölkerung rechnen musste, wenn sie in ihren Heimatorten blieb. In der irrigen Annahme, sich bereits auf deutschem Territorium zu befinden, steckten die sowjetischen Soldaten dort Ende April 1945 viele Häuser in Brand und erschossen 54 bis 60 Ziviliste, als diese versuchten, die Brände zu löschen.
    Bereits im Herbst 1944 waren mehrere von Sowjets besetzte ostpreußische Orte niedergebrannt worden und es war dort zu Plünderungen und Massenvergewaltigungen gekommen. Weder Sie, Herr Bläsing, noch ich oder irgendein Historiker kann heute sichere Aussagen darüber machen, wie es der ostpreußischen, schlesischen und pommerschen Bevölkerung ergangen wäre, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Das sind reine Spekulationen.
    Schließlich waren die vielen Toten auf der Flucht auch der Tatsache geschuldet, dass es nicht zu einer rechtzeitigen Evakuierung dieser Gebiete gekommen war, weil die Fluchtwilligen von Seiten der Nazi-Gauleiter lange am Verlassen ihrer Gebiete gehindert wurden und sie so erst im letzten Moment vor Eintreffen der Roten Armee (und vor Beginn des Winters) aufbrechen konnten.
    Zum Schicksal der Daheimgebliebenen äußert sich Arnulf Scuba vom Deutschen Historischen Museum in Berlin am 15. Mai 2015 folgendermaßen: „Viele der Daheimgebliebenen waren der Rache vor allem von Tschechen und Polen ausgesetzt. Tausende wurden ermordet.“

    Was auch immer Sie unter „weniger passiert“ verstehen: Was die Vergewaltigungen seitens der Sowjetsoldaten angeht (die Schätzungen liegen zwischen 500 000 und zwei Millionen Taten begangen an deutschne Frauen, dazu noch ca. 50 000 an Ungarinnen), so musste jede Frau damit rechnen, dieses Schicksal zu erleiden, ob sie nun zu Hause geblieben war oder unterwegs (weil zu spät geflohen) den sowjetischen Soldaten in die Hände fiel, in Berlin genauso wie in Ostpreußen oder Pommern. In einigen Orten kam es daraufhin zu Massenselbstmorden unter Frauen, aus Furchst vor Vergewaltigung oder aus Scham über die erlittene sexuelle Gewalt. Nicht wenige überlebten die Angriffe gar nicht.
    Also, von Massenpsychose würde ich hier nicht gerne reden, eher von einer objektiv berechtigten Angst.
    Dabei kann man sich natürlich fragen, was höher zu bewerten ist: Tausende im günstigsten Fall vor Vergewaltigung gerettetete Frauen oder die Erhaltung von Grundbesitz. Wie auch immer Ihre Bewertung ausfällt, Herr Bläsing, die ostdeutschen Frauen (und es waren ja vor allem Frauen, die mit ihren Kindern flohen) haben eindeutig der erhofften körperlichen (und seelischen) Unversehrtheit den Vorzug gegeben.

  14. @ Peter Bläsing

    „Weder Sie, Herr Bläsing, noch ich oder irgendein Historiker kann heute sichere Aussagen darüber machen, wie es der ostpreußischen, schlesischen und pommerschen Bevölkerung ergangen wäre, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Das sind reine Spekulationen.“ (Brigitte Ernst)

    An dieser Stelle irrt Brigitte Ernst. Es bedarf keines Historikers, es reicht eigentlich ein Abitur (mit nicht ausgefallenem Geschichtsunterricht) um diese Frage zu beantworten:

    „Auf der Teheran-Konferenz 1943 und den Folgekonferenzen in Jalta und Potsdam wurde von den alliierten Westmächten und der UdSSR beschlossen, dass der Staat Polen wiederhergestellt, aber dauerhaft nach Westen verschoben werden sollte (Westverschiebung Polens). Die deutsche Bevölkerung sollte „ausgesiedelt“ werden. Ostpolen wurde endgültig Teil der Sowjetunion. Seine polnische Minderheitsbevölkerung wurde in die ehemals deutschen Gebiete umgesiedelt. Im Osten handelte es sich also – ausgehend von den von 1918 bis 1939 anerkannten Grenzen der Zweiten Polnischen Republik – um eine Teilung des ehemaligen Staatsgebiets. Zum Ausgleich sollte Polen im Westen Gebiete hinzugewinnen.“

    Zitat Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Teilung_Polens#Westverschiebung

    Die Vertreibungen sowohl der Polen als auch der Deutschen aus ihren jeweiligen Ostgebieten war eine offiziell beschlossene Sache.

  15. @ Frank Wohlgemuth

    Danke für die Ergänzung.

    Peter Bläsings Annahme, die Flucht habe bei der späteren Entscheidung zur Annexion der deutschen Ostgebiete eine entscheidende Rolle gespielt, wäre damit widerlegt.
    Darauf bezog sich mein letzter Beitrag aber nicht.
    Worum es mir ging, war P.B.s Behauptung, die Flüchtenden hätten wissen können, dass ihre Flucht zu einer derart großen Zahl von Todesopfern führen würde, und seine Annahme, sie hätten weniger (durch Tod, Vergewaltigung und Misshandlung) gelitten, wenn sie zu Hause geblieben wären.

  16. @ Brigitte Ernst

    Wenn ein ostpreußischer Bauer, der 1933 wie 56,5% seiner Landsleute NSDAP gewählt hatte, am 16. Januar 1945 seine Frau und die beiden Töchter auf den Pferdewagen gesetzt hat, um mit ihnen ins „Reichsgebiet“ zu fliehen, welchen Überblick über die Kriegslage konnte der haben?
    Laut Frau Ernst: keinen.
    Weshalb tat er es dann?
    Weil er Angst vor den Russen hatte und die anderen um ihn herum es taten, weil auch sie diese Angst hatten.
    Wie nennt man so etwas?
    Eine Massenpsychose!
    Warum hatten sie Angst vor den Russen? Welche Informationen über die Grausamkeit der Russen konnten sie zu diesem Zeitpunkt gehabt haben?
    Nur die Nazipropaganda mit den gestellten Bildern aus Nemersdorf vom Oktober 1944, denn andere Kriegsverbrechen von Russen an Deutschen waren da noch nicht passiert. In Nemersdorf war laut Aussage der einzigen Frau, die die Erschießungen durch die Russen überlebt hatte, niemand vergewaltigt oder ans Tor genagelt oder mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen worden.
    Übrigens hat die Nazipropaganda später über die dann tatsächlich passierten Grausamkeiten nie berichtet. Die Propagandarakete aus Nemersdorf war in die falsche Richtung losgegangen. Sie sollte die Kampfkraft der Wehrmacht stärken, aber die war ohnehin schon am Anschlag. Stattdessen erzeugte sie in der Zivilbevölkerung eine Massenpsychose, löste gegen den Willen der Naziführung die „Große Flucht“ aus und versetzte damit dem „Glauben an den Endsieg“ einen schweren Schlag.

    @ Frank Wohlgemuth

    Von wikipedia kann man auch abschreiben, wenn man kein Abitur hat.
    Die Oder-Neiße-Grenze ist von den Westalliierten erst in Potsdam bestätigt worden. Es könnte aber sein, dass Stalin zum Erreichen dieses Zieles schon während des Vormarsches der Roten Armee zur Oder den Befehl zur Vertreibung gegeben hat. Davon ist aber nichts bekannt. Auf jeden Fall hätten Deutsche, die sich, wie einst Nettelbeck in Kolberg, „mit den Fingernägeln an ihren Heimatboden gekrallt“ hätten, den Prozess erschwert, verhindert wahrscheinlich nicht.
    Die Holocaust-Überlebenden sind von ihren Kindern gefragt worden, warum sie sich nicht gewehrt haben. Wir hätten unsere Flüchtlinge das auch fragen können.

  17. @ Peter Bläsing

    Wie viele ostpreußische Bauern konnten ihre Familie denn im Januar 1945 auf einen Pferdewagen setzen? Die meisten Männer in diesem Alter waren als Soldaten an der Front, vielleicht irgendwo in der Ukraine auf der Flucht, in Kriegsgefangenschaft oder bereits gefallen.
    Und die Frauen, die sich zur Flucht entschlossen, hatten ja wohl die richtige Vorstellung von dem, was sie erwarten würde, wenn sie sowjetischen Soldaten in die Hände fielen. Nicht jede berechtigte Angst ist eine Massenpsychose.

  18. Nachtrag
    Weshalb sich die Flüchtlinge nicht gewehrt haben, ergibt sich aus dem Obigen: Was hätten die Frauen, Kinder und wenigen, meist alten Männer gegen Unmengen bewaffneter Soldaten wohl ausrichten können? Und diejenigen, die versucht haben, sich zu wehren, wurden doch sowieso gleich an die Wand gestellt.
    Die Frage allein finde ich völlig daneben. Wahrscheinlich gehören Sie, Herr Bläsing, auch zu denen, die den syrischen Flüchtlingen vorwerfen, dass sie fliehen, anstatt sich gegen den IS und die Schlächter Assads zu wehren.

  19. @ Peter Bläsing

    Die Leute hatten vor ihrer Flucht nicht nur offizielle Nazipropaganda zu hören bekommen, sondern waren auch von den vor der Front fliehenden deutschen Soldaten gewarnt worden. Und die wussten, wovor sie warnten, weil sie ähnlich gehaust hatten, als sie noch im Vormarsch waren. Die siegestrunkene Soldateska auf dem Vormarsch ist kein spezifisch russisches Problem. Wobei bei denen allerdings dazu kam, dass sie nun bei der Quelle ihres Leidens der letzten Jahre angekommen waren.

    Dass die Leute in den KZs sich nicht gewehrt haben, ist auch für mich schwierig, sowohl angesichts der moralischen Situation als auch des Zahlenverhältnisses von Bewachern und Bewachten. Allerdings sind wir nicht wirklich in der Lage, uns in sie hineinzuversetzen, weil wir anders sozialisiert sind – wir haben ein anderes Verständnis von Obrigkeit. Das Zahlenverhältnis von anrückender Armee und den restlichen Bewohnern in den Orten war ein ganz anderes, und diese anrückende Armee war bisher nur durch das verwüstete eigene Gebiet marschiert: Welchen Grund hätten die haben sollen, beim geringsten Zeichen des Widerstandes nicht alles „platt zu machen“? Ich schließe auch nicht aus, dass bei einigen, die da geflohen sind, auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen wegen der Taten der eigenen Leute dabei war, nicht unbedingt bewusst. Ganz abgesehen davon, dass man diese Leute nicht mehr fragen kann, es leben praktisch nur noch die, die als Kinder geflohen sind, wäre die Frage, warum die sich nicht gewehrt haben, nur ein Zeugnis des Unverständnisses für jede Dimension der damaligen Situation.

    btw: Ich habe zitiert, das ist etwas anderes als Abschreiben, aber auch Zitieren verlangt wenigstens die Kenntnis der richtigen Stelle. Wikipedia allein reicht also nicht. Der Artikel zur Oder-Neiße-Grenze könnte übrigens auch für Sie erhellend sein. Oder waren Sie als Zeitzeuge überall dabei?

    (Wobei auch Zeitzeugen mit Vorsicht zu genießen sind: Erinnerungen sind Konstruktionen. Als mein Vater mir erzählte, wie das im Polenfeldzug „wirklich“ war, haben wir das gemeinsam in seiner Abfolge nur anhand der Kalenderdaten überprüft, und er war anschließend drei Wochen krank, weil die Reihenfolge der Ereignisse, die für ihn wegen der Begründung wichtig war, bei ihm falsch war.)

  20. p.s. nicht @ Peter Bläsing

    Webnn ich da eben etwas von der Möglichkeit eines schlechten Gewissens bei den Flüchtlingen geschrieben habe, bedeutet das nicht, dass ich sie für Täter halte. Die Haltung „Die waren doch selbst schuld.“, der ich bei Diskussionen mit Jüngeren zu diesem Thema regelmäßig begegne, halte ich für Blödsinn. Auch die deutschen Vertriebenen waren Opfer des zweiten Weltkrieges und damit in letzter Konsequenz Opfer des Nationalsozialismus.

    Das zweite war ihnen nur leider regelmäßig nicht bewusst, was sich genauso regelmäßig in der Geschichte ihrer Verbände ablesen lässt.

  21. @ Brigitte Ernst

    „Weshalb sich die Flüchtlinge nicht gewehrt haben, ergibt sich aus dem Obigen: Was hätten die Frauen, Kinder und wenigen, meist alten Männer gegen Unmengen bewaffneter Soldaten wohl ausrichten können? Und diejenigen, die versucht haben, sich zu wehren, wurden doch sowieso gleich an die Wand gestellt.
    Die Frage allein finde ich völlig daneben. Wahrscheinlich gehören Sie, Herr Bläsing, auch zu denen, die den syrischen Flüchtlingen vorwerfen, dass sie fliehen, anstatt sich gegen den IS und die Schlächter Assads zu wehren.“ (Brigitte Ernst)

    Herr Bläsing schreibt einige komische Sachen, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie selbst die Frage, die Sie ihm unterstellen, auf den Tisch legen, indem Sie so bestimmt auf die Verteilung der Alter und Geschlechter hinweisen.

    In Syrien sind es im Wesentlichen die Frauen, Kinder und wenige, meist alte Männer, die im Kriegsgebiet bleiben …..

  22. @ Brigitte Ernst

    Ein letztes Mal bitte ich Sie, Frau Ernst, meine Texte unvoreingenommen und genau zu lesen und meine Aussagen nicht so umzubiegen, dass sie in ihr Meinungsschema passen. Sie sollten auch Herrn Wohlgemuths Hinweis, dass sie mir Fragen unterstellen, beachten.
    Ostpreußen war ein Bauernland, Bauern gehörten zum „Nährstand“ und waren weitgehend vom Wehrdienst befreit, denn irgendjemand musste ja für Butter und Brot sorgen. Ich glaube, man kann merken, dass ich den Bauern, von dem ich da rede, persönlich gekannt habe. Er hatte tatsächlich 1933 NSDAP gewählt, hat am 16.1.45 seine Frau und seine beiden Töchter (eine davon ist meine Schwägerin) auf den Wagen gesetzt und ist solange vor den Russen geflohen, bis sie ihn und seine Familie in der Nähe von Köslin in Pommern, rund 120 km vor der rettenden (!) Oder eingeholt haben. Sie sind dann in die Uckermark weitergezogen, wurden nicht vergewaltigt oder sonst wie gepeinigt. Er ist zeitlebens ein schlimmer Nazi und Russenhasser geblieben.
    Aber ist es für unser Thema wirklich wichtig, welches Geschlecht die Flüchtlinge hatten? Es geht doch darum, woher die Flüchtlinge beiderlei Geschlecht denn ihre „richtige“ Vorstellung und ihre „berechtigte“ Furcht hatten, die sie antrieb, Haus und Hof zu verlassen. Dazu sagen sie nichts.

    Meinen Sie im Ernst, Frau Ernst, ich hätte erwartet, dass Frauen, Kinder und alte Männer sich gegen bewaffnete Soldaten zur Wehr setzen? Ich erwarte von Leuten, mit denen ich diskutiere, dass sie abstrahieren können. Wenn Sie meine Meinung zu Syrien wirklich interessiert, können wir, anstatt zu polemisieren, gerne einen neuen Blog aufmachen, Herr Wohlgemuth scheint auch Interesse zu haben.

    @ Frank Wohlgemuth

    Natürlich hat es auch andere Informationsquellen gegeben. Die Berichte der Frontsoldaten hatte ich in meinem ersten Beitrag (25.6.) schon erwähnt. Aber sie dürften genau so wie der Empfang englischer Radiosendungen oder Flugblätter wie die der Weißen Rose, besonders in Ostpreußen, verglichen mit der Nazipropaganda eher zweitrangig gewesen sein.
    Ich empfehle, sich in Youtube die ZDF-Dokumentation „Die Große Flucht“, Teil 1, anzusehen. Ich bin im Wesentlichen durch diese Sendung dazu gebracht worden, über die Beweggründe der Flüchtlinge nachzudenken.

  23. @ Peter Bläsing

    Wenn diese ZDF-Dokumentation Ihr Ausgangspunkt war, über die Beweggründe der Flüchtlinge nachzudenken, haben Sie sich geistig aber sehr weit von ihr entfernt. Da war auch u.a. die Rede von Stalins Befehl, Verbrechen an der Zivilbevölkerung nicht zu verfolgen. Ich weiß aus der eigenen Verwandschaft, dass es trotzdem russische Offiziere gab, die sie verhindert haben, aber das waren Ausnahmen, und allgemein galt, dass Frauen, die sich in die Hände eines Offiziers begaben, nur einen Vergewaltiger hatten. (Meine Mutter, die 45 mit meinem damals 2-jährigen ältesten Bruder von Danzig in den Westerwald geflohen ist, hat über diese Flucht nie sprechen können)

    Die (aus der damaligen Situation verständliche) Wut der russischen Soldaten wird schon in der Tatsache der Bombardierung der Flüchtlingstrecks sichtbar. Diese Ziele waren 1. mit Sicherheit aufgeklärt (d.h. als nicht-militärisch erkannt) und 2. für Tiefflieger während des Angriffs direkt als Flüchtlingstrecks erkennbar, diese Angriffe hatten kein militärisches Ziel mehr, nicht mal auf der psychologischen Ebene. Die Gräuelpropaganda der Nazis, das wird auch in der Dokumentation gesagt, brauchte die russischen Verbrechen mit ihren Opferzahlen nicht zu erfinden, ihre Übertreibung bezog sich auf die individuelle Dimension. Dass Sie in Ihrer Verwandschaft bzw. der Familie Ihrer Frau nicht von Vergewaltigungen betroffen waren, ist einfach großes Glück gewesen, vielleicht auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese Begegnungen schon später und weiter im Westen stattfanden, als der Krieg schon weitgehend entschieden war – Sie sollte aber nicht versuchen, diese Erfahrungen zu verallgemeinern.

    Auch die russischen Zeugenaussagen innerhalb der Dokumentation erzählen nichts anderes. Gerade nachdem ich mir diese Dokumentation nun noch einmal angesehen habe, ist für mich nicht erklärbar, dass Sie hier von einer Massenpsychose sprechen: Die Angst der Flüchtlinge war objektiv berechtigt, und ob es mit einem Verbleiben im Land und Abwarten der Vertreibung mehr oder weniger Tote gegeben hätte, lässt sich nicht wirklich erkennen.

    Zur Westverschiebung Polens: Die war schon auf der Teheran-Konferenz beschlossene Sache und die Ostgrenze Polens bereits dort auf die Curzon-Linie festgesetzt. Da die polnische Bevölkerung den Stalinismus bereits kennengelernt hatte, war damit (zumindest für die Polen) auch klar, dass Polen Platz im Westen brauchen würde, und es ohne Vertreibung der Deutschen nicht gehen würde. Die Vertreibungen, die anschließend in Potsdam beschlossen wurden, waren zum großen Teil bereits „wild“ vollzogen worden, nicht nur von den Russen, sondern auch von den Polen und den Tschechen. Man hatte für die Konferenz bereits vollendete Tatsachen geschaffen.

  24. Mein Thema sind die Beweggründe der Flüchtlinge, Haus und Hof zu verlassen. Der ZDF-Film hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, weil er nur einen einzigen Beweggrund nennt:

    IDA SLOMIANKA, Flüchtling aus Ostpreußen:
    „Weg, weg, weg, weg. Bloß keinen Russen sehen. Weg, weg, weg. Und wenn ich verwie…., und wenn ich Tag und Nacht fahre und mir die Pferde vor dem Wagen umkippen, aber bloß weg, weg, weg.“

    Dann erklärt der Film mit bemerkenswerter Ausführlichkeit den Grund für Frau Slomiankas Angst, Russen überhaupt sehen zu müssen: die Naziwochenschau mit den gestellten Bildern aus Nemmersdorf.
    Weiter war mir dann aufgefallen, dass der Film in der Sequenz über das friedliche Leben in Ostpreußen bis zum Herbst 1944 die Tatsache verschweigt, dass die dort gezeigten Bauern in großer Mehrheit überzeugte Nazis waren. Daraus habe ich abgeleitet, dass auch diese Dokumentation die Tendenz hat, zu zeigen, dass die Flüchtlinge erbarmungswürdige Opfer waren – und nichts sonst.
    Alles, was der Film – und auch seine restlichen vier Teile – dann noch bringen, und alles, was Sie, verehrter Herr Wohlgemuth, dann repetieren, geht in diese Richtung und ist für mein Thema nicht von Belang. Insofern stimmt Ihr Vorwurf, ich hätte mich von dem Film „geistig entfernt“- ein legitimes Recht des Fernsehzuschauers, wie ich finde.
    Glauben Sie bitte nicht, Ihre und die übrigen – erstaunlich wenigen – Reaktionen auf meine These von der Mitverantwortung der Flüchtlinge für ihr Schicksal hätten mich gewundert. Ich habe ohne Überraschung zur Kenntnis genommen, dass nach Ihrer und Frau Ernsts Meinung für den Verlust der Ostgebiete einzig und allein die Russen und ihr Anführer verantwortlich zu machen sind. Daraus folgt für mich eine letzte Verallgemeinerung: Die Angst vor den Russen und ihrem Anführer hält unvermindert an und wird weiterhin hingebungsvoll gepflegt. Niemand darf dabei stören.
    Bronski hat unsere Diskussion von der Startseite des Blogs entfernt. Er scheint der Meinung zu sein, dass es nun genug ist. Ich schließe mich dem an.

  25. @ Peter Bläsing

    „Bronski hat unsere Diskussion von der Startseite des Blogs entfernt.“

    Dazu eine Anmerkung: In dem Maß, in dem neue Threads (Diskussionen) aufgemacht werden, rutschen ältere auf der Startseite nach unten. Zurzeit ist das FR-Blog so eingestellt, dass die aktuellsten zehn Diskussionen auf der Startseite gehalten werden. Das ist eine willkürliche Entscheidung, es könnten auch 16 oder 20 Diskussionen sein. Das würde allerdings ein wenig unübersichtlich. Grundsätzlich gilt: Jede einzelne Diskussion ist 28 Tage lang offen, egal ob sie noch auf der Startseite gezeigt wird oder nicht. Über die Randspalte „Kommentiert“ können Sie trotzdem immer sehen, wenn neue Kommentare zu Ihrem Thema veröffentlicht wurden. Außerdem finden Sie sie jederzeit wieder, indem Sie auf „Archiv“ in der Navigationsleiste klicken. Wenn Sie anschließend links oben unter „Archiv nach Kategorien“ die Kategorie „Ankunft nach Flucht“ aussuchen, finden Sie die Fluchtgründediskussion schnell wieder unter der Überschrift „Nicht immer willkommen“.

    Bronski „scheint der Meinung zu sein, dass es nun genug ist“.

    Diese Entscheidung treffen Sie bzw. die UserInnen, die zu diesem Thema diskutieren, nicht ich. Dass die Diskussion über die Fluchtgründe nicht mehr auf der Startseite zu finden ist, verstehen Sie bitte nicht als Wink von mir. Das hat wie gesagt rein organisatorische Gründe.

  26. Ich möchte nicht in die Diskussion einsteigen. Nur eine kurze Anmerkung: es wird aus den Tieffliegerangriffen auf Flüchtlinge auf die Wut der russischen Soldaten geschlossen. Meiner Mutter hat mir erzählt, dass sie und ihre Familie auch auf der Landstrasse von Tieffliegern beschossen wurden, aber im heutigen Niedersachsen, also von englischen oder amerikanischen Maschinen.

  27. @ Peter Bläsing
    „Ich habe ohne Überraschung zur Kenntnis genommen, dass nach Ihrer und Frau Ernsts Meinung für den Verlust der Ostgebiete einzig und allein die Russen und ihr Anführer verantwortlich zu machen sind.“ (Peter Bläsing)

    Äääh nein. Wo haben Sie das her?
    Ich hatte geschrieben:
    „Auch die deutschen Vertriebenen waren Opfer des zweiten Weltkrieges und damit in letzter Konsequenz Opfer des Nationalsozialismus.“

    Opfer ist für mich jeder, dessen schlechtes Schicksal nicht auf seinen persönlichen Taten beruht.

    Und lassen wir mal dahingestellt sein, ob die Leute in Ostpreussen von ihrer Einstellung eher nationalistisch oder nationalsozialistisch war – die Enfernung vom Zentrum lässt dieses häufig um so schöner erstrahlen, je größer die Entfernung ist – selbst Nazi-sein war allein noch kein Verbrechen, für das man bestraft gehört. Dass es die Ostpreussen traf, ist der geschichtlichen Situation mit den Akteuren Hitler und Stalin und der geografischen Lage Ostpreussens geschuldet – und nicht den Ostpreussen. Insofern sind sie alle, nicht nur die Frauen und Kinder, erstmal Opfer, unabhängig davon, wieviel einzelne von ihnen zu Tätern geworden waren.

    Kann es sein, dass Ihre Logik ein Stück Sippenhaft enthält?

  28. Nun muss ich doch noch mal antworten, weil bei Ihnen aufgrund einer ungenauen Ausdrucksweise von mir ein Missverständnis entstanden ist.
    Ich denke, ich kann aus gutem Grund annehmen, dass viele Ostpreußen Nazis waren. Erstens hatten bei der Wahl im März 1933 in Ostpreußen 56,5% für die NSDAP gestimmt – der höchste Wert in ganz Deutschland, und zweitens sind alle –alle – Ostpreußen, die ich kenne, schlimme Nazis. Und ich bin schon der Meinung, dass Nazisein ein Verbrechen war, aber das ist hier nur insofern relevant, als das Nichterwähnen dieses Verbrechens mich die Tendenz des Filmes erkennen ließ, die Ostpreußen als gute, arbeitsame und vor allem unschuldige Menschen erscheinen zu lassen.
    Für mich ist aber für die Frage nach den Beweggründen wichtig, dass die Ostpreußen als Anhänger von Hitler, Goebbels und Himmler besonders anfällig für die antirussische Propaganda à la Nemmersdorf waren und sie deshalb auch leichter dieser Massenpsychose zum Opfer gefallen sind. Nur insofern besteht nach meiner Ansicht ein Zusammenhang zwischen der Gesinnung der Ostpreußen und ihrem Schicksal.

  29. @ Peter Bläsing

    „Erstens hatten bei der Wahl im März 1933 in Ostpreußen 56,5% für die NSDAP gestimmt – der höchste Wert in ganz Deutschland, und zweitens sind alle –alle – Ostpreußen, die ich kenne, schlimme Nazis. Und ich bin schon der Meinung, dass Nazisein ein Verbrechen war, ….“ (Peter Bläsing)

    Da hat die NSDAP geerntet, was durch die geografischen Regelungen des Versailler Vertrags 1919 gesät worden war – weder der polnische Korridor noch die Stellung Danzigs entsprach dem Selbstbestimmungrecht der Völker und es ist völlig klar, dass die von diesen Regelungen direkt betroffenen, weil zur Exklave erklärten, Ostpreussen dem nachgelaufen sind, der sie wieder „heim ins Reich“ zu holen versprach. Das ist im Kern die Haltung, die die, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, dann aber auch bis ins Grab verteidigt haben.

    Ich nehme jetzt mal exemplarisch die Haltung meines Vaters in diesen Diskussionen: Es war natürlich Blödsinn, wenn er behauptete, dass Hitlers weitere Ziele damals für sie nicht zu erkennen waren, dafür gab es zu viele, die sie erkannt haben. Die Voraussetzung für dieses Erkennen bestand allerdings darin, in einer anderen Bindung zu den Begriffen Volk, Nation, Gehorsam usw. aufgewachsen zu sein. Die gefühlsmäßige Beladung dieser Begriffe, die in der spätwilhelminischen Erziehung normal war, sorgte für eine praktisch blinde Zustimmung, sobald sie genügend von diesem Nebel in einen Text setzten – diese Technik gab es früher übrigens regelmäßig genug auch in CDU-nahen Texten.

    Ich kürze jetzt ab: Verbrechen sind Handlungen, die bestimmte Regeln verletzen. Eine Haltung, für die man ungefähr so viel kann, wie für die Religion, in der man aufwächst, kann kein Verbrechen sein, auch wenn eine Haltung in Verbrechen münden oder Verbrechen unterstützen kann – das können Religionen übrigens auch.

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