Stellt Euch vor, es ist Wahlkampf, und keiner geht hin. Okay, Europa-Wahlkampf. Hier kommt ein Gastbeitrag der Frankfurter Stadtverordneten Dr. Ezhar Cezairli zur Frage des Beitritts der Türkei zur EU.
Die Türkei sollte ihren Platz in der EU bekommen
von Dr. Ezhar Cezairli
Die Türkei – ein großes Land mit einer jungen, dynamischen und konsumorientierten Bevölkerungsstruktur, ein Land, das durch seine Lage und seine Kultur schon immer eine Brücke zwischen West und Ost dargestellt hat und deshalb auch strategisch eine wichtige Rolle spielt – ein EU-Mitglied!?
Tatsächlich ist die Türkei bereits seit vielen Jahren an Europa angebunden; sie hat enge wirtschaftliche Beziehungen zur EU und ist ein Nato-Mitglied. Hinzu kommt, dass eine große Zahl von Menschen aus der Türkei bereits in Europa – davon die meisten in Deutschland – lebt und arbeitet. Viele von Ihnen haben bereits den deutschen, somit den europäischen Pass!
Das sind viele Faktoren, die die Türkei als potenzielles EU-Mitglied darstellen; doch ist für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein starkes Wirtschaftswachstum, eine junge Bevölkerung und eine in vielerlei Hinsicht strategisch günstige Lage eines Landes ausreichend, um ein Mitglied der EU zu werden? Der aktuell in der Geschichte der Türkei größte Korruptionsskandal, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und insbesondere die andauernden Proteste vieler Menschen gegen Einschränkungen ihrer Freiheiten und demokratischen Bürgerrechte haben das Vertrauen der Europäer in das aufstrebende Land erschüttert.
Allein wirtschaftliche und strategische Faktoren können und dürfen nicht als Argumente für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union sein!
Die Frage über die mögliche Mitgliedschaft der Türkei oder eines anderen Kandidaten ist die Frage über das Selbstverständnis von Europa! Was macht Europa aus? Was sind die Besonderheiten, die diesen Kontinent von anderen unterscheiden? Außer einer gemeinsamen Geschichte, der politischen und gesellschaftlichen Kultur, dem persönlichen Umgang miteinander und ein gemeinsames Wertefundament, ist Europa – im Vergleich zu vielen anderen Kontinenten – ganz wesentlich geprägt von den unterschiedlichen Epochen, darunter ganz besonders von den Errungenschaften des Humanismus und der Aufklärung, welche die modernen Zivilgesellschaften Europas hervorgebracht haben.
Europa, das Kriege, ethnische Säuberungen und Vernichtung erlebt hat, steht heute mit der Europäischen Union für Frieden, Freiheit, Menschenrechte, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Ohne die aktuellen Probleme einiger EU-Länder zu leugnen, steht Europa auch für Wohlstand und Fortschritt, sowie für eine freie Wissenschaft, Kunst und Kultur und Europa hat eine ethische Tradition.
Die Aufnahme der Türkei in die EU wird nunmehr seit über 50 Jahren diskutiert, und immer wieder ist dem Land Hoffnung auf eine Mitgliedschaft gemacht worden, um sie wieder zu vertrösten. Sie wird seit Jahrzehnten hingehalten. Damals war die Türkei wirtschaftlich noch nicht so stark, wie sie heute ist; in ihrer Verfassung war jedoch die Trennung von Staat und Islam klar und deutlich festgeschrieben. Trotz der mehrheitlich islamischen Bevölkerung, war sie kein islamischer Staat! Heute ist diese Trennung nicht mehr so eindeutig, und die Islamisierung in Staat und Gesellschaft wird immer deutlicher. Diese Entwicklung spiegelt sich in der türkischstämmigen Bevölkerung Deutschlands und Europas, welches die größte Gruppe der „Muslime“ darstellt, genauso wieder und ist täglich zu beobachten.
Hinzu kommt der schwierige Prozess der europäischen Einigung, die Integration der neuen EU-Mitgliedstaaten, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Herausforderungen der Globalisierung, größere Diskrepanzen zwischen arm und reich, Konflikte im Nahen Osten, Flüchtlingsströme nach Europa, der weltweite Wettbewerb um wirtschaftliche und politische Vormachtstellung bei gleichzeitiger Verknappung von Energiequellen.
Auch stellt sich die Frage, ob angesichts des demographischen Wandels – Europäer werden weniger und älter –, der Zuwanderung nach Europa und die Zunahme des Bevölkerungsanteils von immer mehr Menschen in Europa, deren Wertevorstellungen und Demokratieverständnis eine andere ist als die der Europäer, die Aufnahme der Türkei, wie sie sich heute darstellt, eine Chance oder eine Gefahr sein könnte.
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die Verhandlungen der EU mit der Türkei fortgesetzt werden und die Türkei ihren Platz in Europa haben sollte. Doch, statt besonders die Wirtschaftskraft und das starke Wachstum hervorzuheben, sollte die EU klarer zu ihren Werten und ihrem Verständnis von einer modernen auf Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gründenden Gesellschaftsordnung stehen und diese von der Türkei – wie von allen anderen Kandidaten – einfordern. Ebenso, sollte sie die „auf dem Papier stehenden“ Reformen und die zu erfüllenden Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft im Hinblick auf deren praktische Umsetzung kritisch überprüfen. Die in der Türkei stattfindenden und andauernden Proteste der Zivilbevölkerung gegen die Regierung und deren Staatsmacht – in Form von Polizei und Justiz – und deren Umgang mit friedlichen Demonstranten geben Anlass genug, dies zu tun. Das sind wir diesen Menschen schuldig: den Schülern, Studenten, Lehrern, Professoren, Journalisten, Politikern, Rechtsanwälten, Ärzten, Unternehmern, Gewerkschaftlern, Arbeitnehmern, Hausfrauen, Müttern und Vätern, die nicht die Meinung der Regierungspartei vertreten oder sie auch nur teilweise kritisieren. Viele von Ihnen sind Repressalien ausgesetzt oder sitzen im Gefängnis.
Dennoch: die andauernden Proteste haben der ganzen Welt gezeigt, dass es durchaus eine starke Zivilgesellschaft in der Türkei gibt, die trotz der massiven Gewalt und der Festnahmen durch die Staatsmacht für ihre demokratischen Rechte wie Versammlungsrecht, Demonstrationsrecht, für Meinungsfreiheit, für individuelle Selbstbestimmung statt staatliche Bevormundung bis ins Private hinein, wochenlang auf die Straße gegangen sind.
Europa braucht diese Zivilgesellschaft, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, sie braucht Menschen, die sich mit den europäischen Werten identifizieren, Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernehmen, sich für mehr Demokratie, Freiheit und Bürgerrechte engagieren. Angesichts des wachsenden Bevölkerungsanteils von Menschen nichteuropäischer Herkunft in Deutschland und Europa können sie als Europäer „mit Migrationshintergrund“ (zu denen ich mich persönlich zähle) eine Vermittlungs- und Vorbildfunktion ausüben. Sie sind es, die die europäischen Werte tragen werden, auf dem Weg der Türkei in die EU.
Für ein lebendiges und starkes Europa brauchen wir mehr überzeugte Europäer, ein Europa der Menschen, kein Europa von Regierungsvertretern! Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um mit der Türkei die Verhandlungskapitel Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgerrechte zu öffnen – auch, um das Vertrauen in Europa und die Glaubwürdigkeit Europas zu stärken!
Dr. Ezhar Cezairli, Stadtverordnete (CDU), Kandidatin fürs EU-Parlament, Frankfurt
Der Einschätzung von Dr. Ezhar Cezairli stimme ich voll zu. „Die in der Türkei stattfindenden und andauernden Proteste der Zivilbevölkerung gegen die Regierung und deren Staatsmacht“ sollten Anlass zu Reflexionen über die Blockadehaltung gegenüber einem seit 50 Jahren gewünschten EU-Beitritt der Türkei sein, insbesondere in der CDU.
Natürlich ist zu berücksichtigen, dass Verlautbarungen europäischer Regierungen oder der EU dazu Erdogan als „Beweis“ für die Behauptung von den ferngesteuerten Protesten dienen würden, also kontraproduktiv wären. Aber muss Angela Merkel ihm deshalb gleich eine perfekte Bühne für einen Wahlkampfauftritt in Deutschland bieten? Man stelle sich einen vergleichbaren Auftritt deutscher Regierungsvertreter in der Türkei vor (oder, schlimmer noch, zu dem vor 2 Jahren in Köln): Erdogan würde schäumen vor Wut über solche Einmischung in innere Angelegenheiten.
Man vergleiche auch den Unterschied zu den Auftritten von Steinmeier und anderer EU-Vertreter in der Ukraine! – Man wird den Verdacht nicht los, dass zumindest einer Frau Merkel (und vermutlich auch anderen Blockierern) die Proteste in der Türkei gar nicht so sehr in den Kram passen. Merkwürdig auch, dass aus Kreisen des Regierungspartners SPD so gar nichts dazu zu hören ist.
Dr Ezhar Cezairli bringt es im letzten Absatz auf den Punkt.
Doch ist auch EUROPA jetzt schon soweit gefestigt, um ernsthaft über ein Paket „Demokratie und Bürgerrechte“ zu verhandeln ? Lassen wir uns mal die Europawahlen zum Parlament abwarten und was sich daraus entwickelt.
Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich weder die Türkei noch Europa „reif“ für solch weitreichende Entscheidungen.
Grundsätzlich halte ich auch die unterschiedlichen Religionen, die leider wieder eine immer größere Rolle zu spielen scheinen, für ein starkes Hindernis.