FR-Leserin Susanne Herzel findet das Gerede über die Mütterrente und die Lebensleistungsrente ungerecht. Diese staatlichen Zusatzleistungen wurden – auch in der FR-Berichterstattung – als teuer und unverhältnismäßig zu Lasten der jungen Leute gehend dargestellt. Dabei hören auch betagte Menschen nicht zwangsläufig auf, ihr Lebensleistungswerk fortzusetzen und die Familien und die Gemeinschaft auf diese Weise zu entlasten. Ich veröffentliche daher hier ihren Gastbeitrag, der am Ende beherzt zum Frauenstreik aufruft, um den Leuten einmal klarzumachen, wie viel von der Leistung der Frauen – auch der betagten Frauen – eigentlich abhängt:
Lebenslange zivile Einsatzarmee für alle Generationen
von Susanne Herzel
Als langjährige aufmerksame Leserin der „Frankfurter Rundschau“ habe ich mich zuletzt geärgert – wie wahrscheinlich viele meiner Alters- bzw. Generationsgenossinnen der Geburtsjahrgänge um 1930, – weil meine Lebens- und Wirtschaftsleistung in der Zeitung fast nur unter den Todesanzeigen auftauchte, u. a. als Frau, Mutter, Großmutter oder Urgroßmutter. Jetzt aber – ganz neu – als „die Kinder der Hundertjährigen“ in der Verantwortung für die Pflege von betagten Eltern. Gemeinsame Erfahrungen zeigen mir, dass die Gesellschaft der Herstellung und Aufrechterhaltung der sozialen Normalität nicht ihren wahren, auch wirtschaftlichen Wert beimisst.
1. Dazu nur einige Beispiele meiner Generation: Ich treffe eine rüstige Frau, aus deren Einkaufskorb ein Büschel Dill heraushängt – wir haben beide Dill gekauft, um ihn kleinzuschneiden, einzufrieren und unseren Kindern weiterzugeben. Sie ist, um einige Cents zu sparen, sogar noch durch den Stadtteil von einem Markt zum anderen gegangen. Am nächsten Tag fährt sie einige Tage zu ihrer Mutter, um dort auf dem Markt Vorräte einzukaufen und „den Geschirrschrank sauberzumachen“. Aber ihre „Mutter macht noch alles allein, kocht und backt auch für eine Nachbarin“. Am Freitag kommt ihre jüngere Schwester zur Mutter, um die Finanzen zu regeln. Dann fährt die Frau nämlich zu ihren Enkeln, um auf die Urenkel aufzupassen. Ich, überrascht, frage nach ihrem Alter. Antwort: „Ich bin 80 und meine Mutter ist 98 Jahre alt“.
Sie ist die älteste Tochter, ihre Mutter hat 5 Kinder, also hat sie seit Kinderzeiten Verantwortung für andere gehabt. Sie selbst hat auch 5 Kinder, die Zahl der Enkel und Urenkel habe ich nicht behalten. Das bedeutet lebenslange aktiv e Mitverantwortung für fünf (5) Generationen.
Eine andere Nachbarin, Mitte 70 Jahre, vier Kinder, jahrzehntelang berufstätig, springt oft tagelang ein bei einer Enkelin mit sechs Kindern. Sie hat in den letzten Jahren ihren Ehemann bis zum Tode versorgt. Sie bearbeitet den Kleingarten; gelegentlich renoviert sie beim Umzug eines Sohnes. Ihre Tochter liegt schon lange im Wachkoma nach einem Herzinfarkt („austherapiert“) und wird zuhause durchgehend von deren Ehemann versorgt, der dafür seine Arbeitsstelle aufgegeben hat.
Eine politische Freundin, 80 Jahre, vier Kinder, qualifiziert berufstätig, lebenslang in politischen Funktionen aktiv, hat ihren Ehemann bis zum Tod gepflegt. Ihre Tochter ist Juristin, hat vier Kinder und steigt wieder als Rechtsanwältin in eine Praxis ein. Die Mutter fährt also täglich mit Bahn und Bus zum Wohnort der Tochter, holt die kleineren Kinder aus Kita und Grundschule ab, bereitet das Mittagessen vor, isst mit den 4 Kindern und betreut sie, auch bei Schularbeiten, bis die Tochter(Kindermutter) wieder kommt und sie nach Hause fahren kann. Nach einer Weile bekommt sie einen leichten Schlaganfall, versorgt weiter ihren Haushalt mit großem Garten und verarbeitet die Ernte zu Konserven und Marmeladen für die Familie.
Eine Frau, Mitte 70, drei Kinder, darunter eine Tochter mit Behinderung, langjährig berufstätig, versorgt jetzt den Geschäftshaushalt ihres Sohnes, eines Handwerkmeisters, außerdem 14tägig dessen zwei Söhne aus erster Ehe, ihren Mann, eine kleine Enkelin, deren berufstätige Eltern auch im Hause leben und wechselzeitig arbeiten und führt die Buchführung im Betrieb.
In der Straßenbahn komme ich mit einer Dame ins Gespräch über Gartenarbeit, Hec kenschneiden usw.. Sie sagt: „ich mache alles noch allein, und den Garten meines Bruders pflege ich auch mit, denn der kann nicht mehr so“. Ich frage nach ihrem Alter: „ich bin 90 Jahre alt“.
„Den ganzen Tag nur eine Arbeit …“
2. Meine Mutter starb 2010 mit 97 Jahren. Sie war mit 30 Jahren Soldatenwitwe mit 3 Kindern, darunter ein Sohn mit Behinderung, bei Kriegsende Flüchtling und hat sich durchgekämpft mit Heimarbeit, Waldarbeit und Büroarbeit, erst in Bayern, dann in Nordrhein-Westfalen. Sie hat jahrzehntelang für den Sohn gesorgt und während des ganzen Lebens hochwertige Textilien, z. B. gestickte Tischdecken, hergestellt. Noch in den letzten 15 Lebensjahren hat sie jährlich Dutzende von Wollsocken gestrickt.
Ich selbst bin 77 Jahre alt, habe 4 Kinder, nach der Flucht als 9-Jährige mit Geldverdienen angefangen, nach dem Abitur 6 Semester Medizin studiert, Abschluss Physikum, mehrere Berufe gelernt und ausgeübt, darunter kaufmännisch-praktische Arzthilfe, englisch-französische Fremdsprachensekretärin und arbeitsmedizinische Literaturdokumentation, mit 47 Jahren Soziologie studiert und als Medizinsoziologin gearbeitet bis zur Rente.
Ein Schlüsselerlebnis: 1978 fing ich wieder an, als arbeitsmedizinische Dokumentarin im Institut zu arbeiten, nachdem ich einige Jahre den Haushalt mit 4 Kindern im Alter zwischen Kindergarten und Gymnasium geführt habe und kommunalpolitisch aktiv war. Am ersten Arbeitstag stand ich morgens am Schreibtisch im eigenen Büro, sah aus dem Fenster hohe Laubbäume und einen Kirchturm und dachte völlig überrascht – „den ganzen Tag nur eine Arbeit!“
Meine beruflichen Schwerpunktthemen seit 1972 waren: Arbeit und Gesundheit; Umwelt und Gesundheit und in den letzten 25 Jahren: Gewalt in der Familie und Frauengesundheit. Meine politischen Themen waren Stadtplanung, Sozialpolitik, Bildungspolitik, Umweltpolitik.
Ab nachmittags dann hatte ich immer die „zweite Schicht“, d. h. das volle Familien-Programm mit Hausaufgabenbetreuung für vier Kinder, Reinigung, Wäsche, Bügeln, Arzt- und andere Termine wahrnehmen, Tagesabläufe für 6 Personen koordinieren, seelische und körperliche Betreuung, Mahlzeitenzubereitung, Großeinkäufe und wochenweises Vorkochen, dazu Elternvertretung in vier Schulgremien. Dazu kommt der Mangel an Schlaf, z. B. bei berufstätigen Müttern, die bis 23 Uhr bügeln. Weniger als einen 15-18-Stunden-Tag hatte ich nie. Ganz gleich, ob ich berufstätig war oder nicht.
Das zweite Schlüsselerlebnis hatte ich, als ich nach 14 Jahren Familienleben das erste Mal morgens aufwachte und dachte: „so fühlt man sich also, wenn man ausgeschlafen ist“.
Es dauerte 30 Jahre, bis das letzte Kind Abitur hatte. Später half ich 14 Jahre lang einer alleinerziehenden berufstätigen Tochter bei der aushilfsweisen Betreuung von Zwillingstöchtern.
Wie in mittelgroßer Wirtschaftsbetrieb
3. Durch arbeitswissenschaftliche Analysen u. a. der Universität Hohenheim wissen wir jetzt, welche Qualifikationen und beruflichen Anforderungen eine Mutter mit kinderreicher Familie erfüllt. Die Leistung entspricht bei einer Familiengröße von 6 Personen der Leitung eines mittleren Betriebes, nur dass alle Funktionen in einer Person gebündelt sind.
Wenn junge Mütter „zuhause“ bleiben, um „mit ihren Kindern zusammen zu sein“, bedeutet das niemals nur das Gesagte. Das Unsichtbare an diesem „Zusammensein“ ist die Haus- und Familienarbeit mit allen ihren Anforderungen, Kompetenzen und Qualifikationen.
Wir alle sind nicht nur die „Kinder der Hundertjährigen“, sondern die lebenslange zivile Einsatzarmee für alle Generationen. Deshalb bin ich für den Frauenstreik „Arbeiten wie eine Frau“, der durchaus auch Männer in vergleichbaren Funktionen einschließt. Das lässt sich praktisch, z. B. als Dokumentation aller Tätigkeiten und Zeiten, mit einer entsprechenden Internet-Datenbank durchführen, um sichtbar zu machen, um welches Arbeitspotential, welche Qualifikationen und welchen realen Gegenwert es sich bei dieser Arbeit handelt.
Heute: Um eine Rente von 1.500,00 Euro zu bekommen, müsste eine Frau 50 Kinder haben und aufziehen. In Island haben die Frauen 1975 eine Woche lang gestreikt – es ist niemand gestorben oder verhungert – aber danach wurde alles, was sie arbeiteten, in das Bruttosozialprodukt eingearbeitet. Es stellte sich heraus, dass sie 2/3 des Brutto-Inlandsprodukts erarbeitet haben. Und das Geld, das Frauen verdienen, geht fast immer in die Realwirtschaft. So haben auch die Frauenbanken in Island nicht Pleite gemacht wie die Spekulationsbanken der Männer.
Diese Überlegungen sind schon eine gemeinsame Frauenaktion wert.“
Eine sehr gute Darstellung der unbezahlten Leistungen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Es sollte Anstoß sein für ein Umdenken in unserer Gesellschaft, eine Neubewertung des Sinnes hinter der Arbeit. Für mich die einzig sinnvolle Antwort ist dabei ein bedingungsloses Grundeinkommen. Damit könnte jeder frei entscheiden, wie viel Zeit er in Erwerbsarbeit investieren möchte und wie viel in unbezahlte Arbeit in Familie und Ehrenamt. Und es würde auch kein Ausspielen der Generationen und Geschlechter gegeneinander mehr geben sondern Freiheit und Selbstbestimmung für Jedermann.
Das ist alles ganz wunderbar, und für den Einzelfall eine beeindruckende Aufzählung, die ich nicht kleinreden will.
Aber andererseits: die früheren Arbeitnehmer oder die, die jetzt kurz vor Renteneintritt stehen, hatten im Vergleich zu heute eine eher komfortable Position: es gab mal Zeiten, da kamen sieben Arbeitnehmer auf einen Rentner.
Heute finanzieren knapp zwei Arbeitnehmer einen Rentner, und im Jahr 2030 etwa wird das Verhältnis vollständig umkippen.
Die jetzige ältere Generation stellt ca. 19 Mio. Wähler, und es ist klar, dass die Politiker eine Politik machen, die diese riesige Gruppe zufrieden stellt. Es ist in meinen Augen eine sehr kurzfristige Politik, deren Ereignishorizont im Abstand zu den nächsten Wahlen gemessen wird, und zwar nicht nur zur nächsten Bundestagswahl, sondern sogar nur bis zur nächsten Landtagswahl in einem „strategischen“ Bundesland.
Diejenigen, die nach 1964 geboren wurden, kommen nicht in den Genuss der jetzigen Nahles-Reform, und müssen nicht nur *jetzt* die Kinder und Rentner finanzieren wie bisher auch, sondern außerdem noch ihre eigene private Vorsorge stemmen.
Nicht zu vergessen: die Rente in Deutschland wird im Umlageverfahren finanziert. Es ist zwar so, dass man mit den eigenen Rentenzahlungen einen *Anspruch* in Form von „Punkten“ für später erwirbt, aber das funktioniert nur, wenn zu diesem „Später“ noch genügend Zahler mit Wirtschaftsleistung vorhanden sind, die das auch aufbringen können. Ich wage zu behaupten, dass die „Punkte“ immer weniger wert sein werden.
Abgesehen davon schiebt der Staat noch eine gigantische Welle von zukünftigen Pensionsansprüchen vor sich her, für all die Beamten, die im Ruhestand eine deutlich höhere Pension erwarten können, wenn man es mit dem durchschnittlichen Rentenempfänger vergleicht.
Bei allen Beiträgen und Stimmen von älteren Diskussionsteilnehmern, die ich in letzter Zeit zu dieser Rentenreform vernommen habe, war sehr deutlich herauszuhören, dass eine Anerkennung für die Lebensleistung gewünscht wird. Selbst wenn durch diese Reform nur ein kleiner zweistelliger Betrag ausgezahlt wird, empfinden die Rentner es als ausdrücklich versagte Anerkennung, wenn man sich dagegen ausspricht. Und genau diese Stimmung tritt auch im obigen Gastbeitrag mehr als deutlich zu Tage: es ist eine tolle Aufzählung von geleisteter Arbeit, und ich höre heraus: „hört her, was ich geschafft habe, und wer mir das nicht geben will, gönnt mir das bißchen mehr Geld nicht“.
Also mein Fazit: vielen Dank an alle Wähler, die diese Politik mit ihrer Stimme mitgetragen haben.
In den 80er Jahren gab es mal eine kurze Diskussion, ob die Rente auf ein kapitalbasiertes System umgestellt wird, aber wir wissen ja, wie es ausging. Damals sagte Blüm „die Rente ist sicher“.
Ich selbst habe noch keine vollständige Meinung zu dieser Rentenreform; ich finde es durchaus sinnvoll, Hausarbeit, Pflege- und Erziehungszeit zu honorieren, aber jetzt einfach in die Rentenkasse zu greifen, finde ich zu kurz gesprungen. Das gesamte Rentensystem hätte eine umfassende Reform nötig, vergleichbar dem Schweizer System, in dem *jeder* einzahlen muss und *jeder* einen bestimmten Rentenanspruch hat. Ähnliches gilt für die Krankenversicherung, aber davon fange ich hier lieber gar nicht erst an 😉
Vielleicht sollte man überlegen, den 2019 auslaufenden Solidarpakt wirklich als solchen zu verstehen und diese Steuereinnahmen in die Sozialsysteme leiten. Da würde Solidarität hergestellt.
Wie schon vor langem gesagt, muß der Grundbesitz oder das Gehalt eines(!) Erwerbstätigen ausreichen, eine Familie (4 Generationen) zu ernähren. Alles andere ist Kapitalismus oder Sozialismus, die sich in der Ausbeutung gleichen.
Wenn Kapitalisten und Sozialisten das nicht bewerkstelligen, haben sie versagt.
Die größte Chance, eine Rentenreform zu starten, die diesen Namen verdiente, war im Zuge der Wiedervereinigung. Die Chance wurde vertan, wahrscheinlich auch, weil man da nicht vorbereitet war. Im Gegenteil, die Rentenkasse wurde für andere Zwecke verwendet.
Alle Einkommen müssten, ähnlich einer Steuer, für Renten und Pensionen herangezogen werden. Also, alles was steuerpflichtig ist, ist auch rentenpflichtig. Aus diesem großen Topf würde dann verteilt nach einem Schlüssel, in dem auch die Eigenleistung berücksichtigt werden müsste. Eigentlich einfach und logisch. Wer könnte das besser durchsetzen als eine Koalition, die 80% der Parlamentsstimmen hinter sich hat ?
Es gehörte nur Mut und ein großer Gestaltungswille dazu. Dass das jetzige System in einigen Jahrzehnten nicht mehr funktioniert, ist bekannt.
Ist das den jetzt Regierenden wirklich so gleichgültig, – „nach mir die Sintflut“ ??