Kompromissloser, tyrannischer Führungsstil

Was ist das, was da in der Türkei gerade passiert? Hat die Arabellion die Türkei erreicht? Junge Leute gehen auf die Straße und demonstrieren gegen den zunehmend autokratischen Regierungsstil von Premierminister Recep Tayyip Erdogan.

Man muss vielleicht nicht die Arabellion bemühen, um auf den Gedanken zu kommen, dass die Demonstrationen überall in der Türkei die Früchte von Erdogans Politik sein müssen. Sie hat die Türkei politisch und wirtschaftlich stark gemacht, kein Zweifel. Die Türkei ist heute selbstbewusster und auch demokratischer als vor Erdogan. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis die jungen Türkinnen und Türken selbstbewusst demokratische Grundrechte in Anspruch nehmen.

Erdogan scheint jedoch nicht zu begreifen, dass er die Früchte seiner eigenen Politik erlebt. Er befahl, die Demonstrationen gewaltsam zu unterbinden. Gestern herrschten kriegsähnliche Zustände auf dem Taksim-Platz in Istanbul, die Polizei rückte unter massivem Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen vor und riegelte den Platz und den angrenzenden Gezi Park ab, der der Anlass für die Proteste gewesen war. Es könnte sein, dass er damit sein eigenes politisches Ende eingeläutet hat – oder dass die demokratische Entwicklung der Türkei einen schweren Dämpfer erleidet. Hoffen wir das erstere!

Schon immer gab es Vorbehalte gegen Erdogan, er verfolge eigentlich ganz andere Ziele mit der Türkei, wolle sie zur islamischen Republik umbauen. Jetzt scheint sich zu zeigen, dass er die Türkei tatsächlich als sein Eigentum betrachtet, denn die Methoden, mit denen er die friedlichen Proteste niederknüppeln ließ, erinnern schwer an das Russland Putins. Ebenso seine Rhetorik, die sowohl an Töne aus Moskau als auch an solche aus Damaskus erinnert: Er bezeichnete die Protestierenden als Agenten, Plünderer, Vandalen, Alkoholiker und Terroristen. FR-Mitarbeiter Timur Tinç hat das hier mal sehr schön zusammengefasst.

Nun könnte man sich in Deutschland natürlich zurücklehnen und sagen: Wir haben gerade eigene Probleme, das Hochwasser an Donau und Elbe wird uns viele Milliarden kosten. Doch der Protest in der Türkei hat globale Bedeutung, liebe Leute. Nicht nur wegen der möglichen Zusammenhänge mit der Arabellion – was ich allerdings nicht glaube, denn die Türkei war immer eigen, hat auf Abstand zu anderen islamischen Ländern geachtet. Sie war und ist ein Land zwischen Europa und der islamischen Welt und schon lange von geostrategischer Bedeutung, nicht erst im Kalten Krieg. Daher geht es uns etwas an, was am Bosporus passiert!

Mehmet Kiliç vom Friedensverein Hand in Hand e.V aus Bad Kreuznach schreibt mir:

„Die zurzeit herrschende Situation zwischen den Demonstranten und staatlichen Sicherheitskräften in der Türkei nehme ich ernst und mache mir Sorgen um unser friedliches Zusammenleben in der Türkei.
Auf der einen Seite steht die streng autoritäre Führung einer islamisch-konservativen Regierung und auf der anderen Seite ein passiver Widerstand der weltoffenen, jungen Menschen gegen die „inakzeptablen“ Pläne und „Menschen erniedrigende, unterdrückende, kompromisslose Haltung“ des Ministerpräsidenten! Friedlicher Widerstand gegen die Eingriffe in persönliche Lebensformen, den tyrannischen Führungsstil, die eigennützige Umgestaltung des soziokulturellen und praktischen Lebens einerseits, vorurteilsgeladene, hassvolle und brutale Gewaltanwendung gegen Demonstrierende andererseits. Hier prallen zwei Welten aufeinander!
Die unerschütterliche Ignoranz der unübersehbaren Proteste der Menschenmassen im In- und im Ausland führt zu einer immer angespannteren Polarisierung zwischen den Menschengruppen. Durch die herrschenden Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Andersdenkenden werden die Nerven immer weniger belastbar. Es ist nicht auszuschließen, dass eine unberechenbare Provokation – wie eine kleiner Funke – zu einer Eskalation führt.
So eine Eskalation zwischen der Regierungspartei und Andersdenkenden in der Türkei könnte nicht nur schwere, schmerzliche und verlustreiche Folgen für die eigene Bevölkerung bedeuten, sondern auch für den Rest der Welt.
Herrn Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der in der Regel kein Problem darin sieht, „Öl ins Feuer zu gießen“, rufe ich öffentlich auf aufzuhören, seine eigene Welt als einzige wahre Welt und die Andersdenkenden als wahre „Dumme“ zu deklarieren; Menschen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine eigene Weltanschauung aufzuzwingen und zu versuchen, sie in seiner persönlichen Welt gefangenzunehmen.
Jedem Menschen muss klar sein, wie kostbar es ist, in Frieden zu leben und wie wichtig es ist, den Frieden zu schützen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die angespannte Situation in der Türkei eskaliert.
Ich bin mir sicher, dass wir in der Lage sind, allen keimenden Gefahren und der schleichenden Eskalation Einhalt zu bieten; aber nur dann, wenn wir mit der nötigen Wachsamkeit, Besonnenheit und friedlichen Zivilcourage diese besorgniserregende Lage in der Türkei verfolgen.
Lassen Sie uns Hand in Hand den Frieden schützen! Lassen Sie uns gemeinsam für ein friedliches Miteinander eintreten!“

Mehmet Kaya aus Frankfurt:

„Erdogan geht es nicht nur um seine Machterhaltung. Es geht ihm auch um Vergeltung für Zeit, die er hinter Gittern, meiner Meinung nach unberechtigt, verbracht hat. Auch er war Opfer der „schwachen Demokratie“ in der Türkei, in der fast unabhängig der politischen Gesinnung, Menschen wegen geäußerter Meinungen inhaftiert und verurteilt wurden. Auch Vergeltung dafür, dass seine Wählerinnen nicht mit ihren Kopftüchern studieren durften oder öffentliche Positionen besetzen konnten oder in der Wirtschaft nicht aufsteigen konnten, da sie durch die „Elite“ blockiert wurden. Das Pendel der Ungerechtigkeit schlägt nun, geschwungen durch Erdogan, auf die andere Seite der Gesellschaft, nämlich derer, die ihren Glauben nicht öffentlich ausleben oder „politisieren“.
Um wirtschaftlich aufsteigen zu können, MUSS man AKP-nah sein. Dies gilt zB. auch für Betriebe oder Unternehmen wie die Turkish Airlines, welche noch teilweise in staatlicher Hand sind, selbst in Europa! Selbst AKP-Wähler distanzieren sich inzwischen von Erdogan und seinen Methoden. Sie möchten es nicht hinnehmen, dass eben diese Ungerechtigkeit, welche ihnen jahrelang widerfahren ist, nun auf Nicht-AKP-Wähler eindrischt. Aber durch die Medien, die ihre Köpfe noch immer nicht aus dem Sand gezogen haben, versucht Erdogan eine Aufklärung der Geschehnisse zu verhindern. Es werden Falschmeldungen verbreitet und gesendet.
Es wurde z.B. in Verbindung mit den Gezi Park-Demonstranten ein Bild von Demonstranten gezeigt, wie sie eine türkische Fahne verbrennen. Dieses Bild stammt jedoch von einer Demonstration von PKK-Anhängern. Ein Bild einer Moschee, welche durch den dortigen Imam zu einer Ambulanz umfunktioniert wurde, sollte zeigen, dass die Demonstranten mit Schuhen und biertrinkend die Moschee verschmutzen. Der Imam hat zwei Tage hintereinander Klarheit geschaffen, indem er das Gegenteil bestätigte.
Fazit: Erdogan versucht mit allen Mitteln eines waschechten Diktators, die Opposition und die Demonstranten in Misskredit zu bringen. Die Massenmedien sind unverständlicherweise regierungstreu. Auch auf Seiten der Sicherheitsdienste gibt es keine Anzeichen auf eine Entspannung der Gewalt oder einen Aufstand oder Einspruch gegen die Vorgehensweise gegen die Demonstranten.“

Eine Art Vorort-Reportage habe ich schon vor einigen Tagen im FR-Leserforum veröffentlicht. Ich füge sie hier hinzu. Ali Sirin aus Dortmund schreibt:

„Die Augen jucken, brennen und tränen, das Atmen fällt schwer. ‚Was ist hier los?‘, fragen viele Passanten hustend in Kabatas, unweit von Taksim. Gut informierte Jugendliche berichten sarkastisch von einer ‚Polizeiparade‘. Tränengas überall, die Leute schütteln die Köpfe, nach Taksim gibt es kein Durchkommen. Touristen sind irritiert und werden aufgeklärt. Ihnen wird ein Besuch des Taksim-Platzes und der Einkaufstraße abgeraten.
Die Polizei versucht eine friedliche Demonstration, die sich für den Erhalt eines kleinen Parks einsetzt, gewaltsam mit Tränengas und Wasserwerfern zu beenden. Dieses unverhältnismäßg gewaltsame Vorgehen der Polizei bringt das Fass zum Überlaufen. Viele solidarisieren sich mit den Demonstranten, gehen auf die Straße, lassen sich nicht mehr einschüchtern. Der Rückzug der Polizisten aus Taksim ist ein nicht zu unterschätzender Erfolg der Demonstranten.
Es ist nun ein kleiner Aufstand, nicht nur in Istanbul, gegen Ministerpräsident R.T.Erdogan und seine AKP-Regierung, der u.a. die Meinungsfreiheit immer weiter einschränkt, unliebsame Kritiker einschüchert und mit seinem „Turbokapitalismus“ die alten Viertel gentrifiziert und die Armen in die Peripherie der Großstädte drängt. Seit mehr als zehn Jahren ist die AKP-Regierung an der Macht, sie hat als Alternative begonnen, die Wirtschaft gestärkt, aber sich verzockt. Nach dem Attentat in Reyhanli an der syrischen Grenze hat er mit seiner fehlenden Feinfühligkeit, seiner Arroganz und seiner Besserwisserei den Unmut provozierend heraufbeschworen. Die Demos fordern seinen Rücktritt, wollen kein Präsidialsystem nach US-Vorbild, wollen keine weiteren Erdogan-Jahre, in der er eine Türkei nach seinen eigenen religiösen Vorstellungen formt.
Die jungen Menschen wünschen sich einen Staat, der auch die Meinung der Minderheiten respektiert, ein würdevolles Leben für alle ermöglicht. Der Mut der Wenigen hat viele inspiriert – vor allem die Dame im roten Kleid, die eine ganze Ladung Tränengas abbekommen hat und nun als Sinnbild für den friedlichen Mut steht.
(P.S. ich war am 31.05. in Kabatas, Istanbul)“

PS von Bronski: Erdogan wird eigentlich Erdoğan geschrieben und Kiliç Kılıç – daran ist schon zu erkennen, dass der Zeichensatz, mit dem das FR-Blog arbeitet, viele diakritische Zeichen wie z.B. das Breve nicht umsetzt. Ich werde mich demnächst darum zu kümmern versuchen, dass türkische Namen hier im FR-Blog künftig korrekt geschrieben werden.

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3 Kommentare zu “Kompromissloser, tyrannischer Führungsstil

  1. „und mit seinem “Turbokapitalismus” die alten Viertel gentrifiziert und die Armen in die Peripherie der Großstädte drängt. “

    Solche Hinweise sind selten zu lesen oder zu sehen , womöglich spielt eine derartige neoliberale Ausrichtung Erdogans eine viel größere Rolle als es bei uns ankommt oder ankommen soll, im Wesentlichen ist nur die Rede von religiös motivierten Einschränkungsversuchen als Hauptgrund für die Proteste.

    Wir sind mittendrin im Aufstand gegen die neoliberale Globalisierung und ihre rechtskonservativen „Kriegsgewinnler“ , Griechenland , Spanien , England , arabischer Frühling , occupy , und jetzt eben die Türkei……to be continued.

  2. Ich finde die Klarheit der Stellungnahmen türkischstämmiger Mitbürger, hier besonders von Mehmet Kiliç, aber auch in anderen Medien, sehr beeindruckend. Ich möchte dem nur einen Aspekt hinzufügen: Die offensichtlich festgefahrende Position von CDU/CSU, aber auch von Ländern wie Frankreich, in der Frage des EU-Beitritts der Türkei ist unter dem Eindruck der Ereignisse sichtbar revisionsbedürftig. Es stellt sich m.E. nicht die Frage, ob die Türkei aufgenommen werden soll, sondern welche und unter welcher Führung. Es versteht sich, dass eine direkte Einmischung von außen, auch der EU, eher kontraproduktiv wäre. Nun hat aber Erdogan in Köln in einer klaren Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten die hier lebenden Deutschtürken oder türkischstämmigen Deutschen für sich vereinnahmt. Was also spräche dagegen, in Deutschland lebenden Mitbürgern seine Solidarität und Unterstützung zu signalisieren?

  3. Weisst du Michael, Erdogan ist nicht alleine Schuld an den Geschehnissen heute. Das ist zumindest meine Meinung. Viele meinen, dass es früher demokratischer gewesen sei. Das ist Blödsinn! Frauen, die freiwillig Kopftuch trugen, wurden gehänselt und als naive Dorfmädchen dargestellt. Sie galten als eine Bedrohung der Freiheit.

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