Das Verhältnis der (meisten) Westeuropäer zu Russland ist nicht einfach, und es wird gewiss nicht einfacher durch Vorfälle wie die Vergiftung im Fall Skripal, dem Mord an einem Georgier mitten in Berlin oder den Versuch, den wichtigsten Oppositionspolitiker Russlands zu ermorden, Alexei Nawalny. In den Fällen Skripal und Nawalny wurde dafür ein Nervengift aus sowjetischer Urheberschaft eingesetzt, Stichwort Nowitschok. Was noch kein Beweis dafür ist, dass die Täter Russen waren. Früher war ein solcher Zusammenhang einfacher herstellbar, als für solche Vergiftungszwecke noch Polonium benutzt wurde: Bei radioaktiven Substanzen lässt sich meist anhand der Isotopenzusammensetzung sogar der Reaktor benennen, in dem sie entstanden. Durch eine solche Polonium-Vergiftung starb der ehemalige FSB-Agent Alexander Litwinenko im Jahr 2006, nachdem er zum britischen Geheimdienst MI6 übergelaufen war. Eine Verantwortung von russischen Regierungskreisen oder gar des russischen Präsidenten Wladimir Putin für diese Morde konnte nicht nachgewiesen werden, wird aber unterstellt. Und im Fall Nawalny führten solche Vermutungen sogar zu einer handfesten diplomatischen Krise.
Mord als Mittel politischer „Auseinandersetzung“ ist so alt wie Politik selbst. Wenn man unterstellt, dass die Attentate auf Skripal bis Nawalny tatsächlich von russischer Regierungsseite in Auftrag gegeben wurden, darf man wohl eine zynische Rechnung aufmachen: Die Amerikaner waren in dieser Hinsicht effektiver. Sie haben es geschafft, ganze Regime zu stürzen – und demokratisch gewählte Regierungen wie die von Mossadegh im Iran 1953. Das aktuellste Beispiel dafür, wie die USA einen unliebsamen Gegenspieler aus dem Weg räumten, wird im unten folgenden Leserbrief von Peter Boettel angesprochen. Der syrische Potentat Assad stand gewiss ebenfalls in ihrem Visier. Mein Verdacht. Kann ich nicht beweisen, lässt sich nicht beweisen. Die Annahme, dass dies so gewesen sein könnte, ist gleichwohl erlaubt – und zugleich billig. Damit sollte der Punkt abgehandelt sein, der an dieser Stelle immer vorgebracht wird: „Die anderen“ sind keinen Deut besser. Das ist wahr. Und es macht die Sache nicht besser,
Wir reden im Fall Nawalny nicht von Tyrannenmord. Die Frage beschäftigt die Juristerei schon lange: Wäre Georg Elser ein Mörder, wenn es ihm gelungen wäre, 1939 Adolf Hitler umzubringen, wie er es geplant hatte? Offenbar gibt es Morde, die sich sogar rechtlich rechtfertigen ließen – zumindest im Nachhinein. Morde, die vielleicht sogar Respekt verdienen könnten. Aber wie steht es in dieser Hinsicht um mutmaßliche Auftragsmorde wie die an Skripal und Nawalny? Denn das gemordert werden sollte, wird wohl niemand bestreiten, auch wenn die Opfer überlebt haben und auch wenn es keine Kenntnisse über Hintergründe und Motive gibt. Mit dem Fall Nawalny scheint bei manchen Regierungen des Westens das Fass übergelaufen zu sein, die Geduld mit Russland und seiner Regierung ist am Ende. Dabei ist Nawalny alles andere als ein Vollsympath. Aber immerhin ist er Opposition. Einsame. Und eine Symbolfigur. Das scheint zu genügen. Inzwischen ist er aus der Klinik entlassen.
In diesem Zusammenhang kommt das Pipeline-Projekt „Nord Stream 2“ ins Spiel. Die Fertigstellung dieser Erdgasleitung ist nun fraglich, sie dient als Drohmasse gegen Putin. Fraglos ist, dass die russische Wirtschaft dieses Projekt braucht. Sie liegt am Boden und ist auf den Export von fossilen Brennstoffen angewiesen. Nicht wegen westlicher Sanktionen, sondern wegen russischer Korruption, Nepotismus, Oligarchentum, unklaren Rechtslagen und – nicht zu vergessen – einem kaum fassbaren Innovationsstau. In Russland sind zu einem guten Teil noch heute Förderanlagen aus der Sowjetzeit aktiv, die schon lange nicht mehr wirtschaftlich arbeiten. Der einzige Weg zu versuchen, diesen Rüchstand zu kompensieren, ist: Masse! Modernisierungen finden praktisch nicht statt, weil niemand in Russland investieren will. Zumindest niemand, für den Rechstsicherheit ein wesentlicher Punkt bei der Entscheidung fürs Einsteigen ist.
„Nord Stream 2“ hat vor diesem Hintergrund also geostrategische Aspekte. Deswegen sind die USA gegen die Pipeline, ebenso die Polen und die Ukraine. Auch andere europäische Staaten haben sich kritisch geäußert. Deutschland hat dieses Projekt mit dem Argument der Versorgungssicherheit dennoch durchgezogen. Dabei dürften auch die guten bzw. speziellen Beziehungen von Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zum russischen Präsidenten eine Rolle gespielt haben. Der Fall Nawalny wird in dieser Gemengelage zum Hebel gegen das Pipeline-Projekt. Er wird instrumentalisiert. Die Stimmen, die einen Ausstieg aus dem Bau der Pipeline fordern, werden immer lauter. Wem nützt das?
Man muss die Dinge auseinanderhalten. Die Pipeline hat mit Nawalny nichts zu tun, auch wenn sie jetzt – so auch in den folgenden Zuschriften – immer mitgedacht wird. Der Anschlag auf Nawalny war mutmaßlich eine innerrussische Angelegenheit. Wo das Motiv liegt – unklar. Es wäre Sache der Russen, das zu ermitteln, aber da Russland schon lange keine Rechtsstaat mehr ist, können wir in dieser Hinsicht vermutlich lange warten.Wem hätte Nawalnys Tod genützt? Da gibt es wohl Einige. Zum Beispiel Oligarchen, denen er auf die Füße getreten ist. Klar scheint bisher nur zu sein, dass Alexei Nawalny dem Westen als Oppositionspolitiker nützlich ist. Wollen wir hoffen, dass der Westen hier nicht wieder nach der alten Devise verfährt: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Dieses Motto hat schon viel Unheil angerichtet.
Eines muss man Alexei Nawalny allerdings lassen: Er ist bemerkenswert unerschrocken. Kaum aus dem Koma erwacht, mischt er wieder mit in der russischen Politik und bezichtigt Putin, schuld an dem Mordanschlag auf seine Person zu sein. Es sind sonderbare Zeiten, und ich bin sicher nicht der Einzige, der dazu sagt: Irgendwas stimmt da nicht.
Das Problem mit den Prinzipien
Mitunter wird es von einem auf den anderen Tag offenkundig was lautes Geschrei um Menschen-recht tatsächlich wert ist bzw. was sich noch immer dahinter verbirgt. Was haben letzte Tage wieder Politiker laut fordernd hören dürfen, in Talkrunden fordern hören, allen voran die Grünen- Fraktion.
Das Menschenrecht von Nawalny u.a. ist uns über alles wichtig und keine Kosten werden gescheut auch ohne die Wertegemeinschaft der EU. Nun brennt Moria, ein Menschenrechtsproblem nicht seit heute, und die „Gemeinschaft“ verhält sich blamabel und gar nicht so prinzipiell menschenrechtlich. Das wirft die eigentliche Frage auf: Wer hat welches Interesse. Fast möchte man glauben, es gibt auch Interessen ein Moria und andere Menschenlager am liebsten aus dem Gedächtnis zu bren-nen. Ein wenig Hoffnung macht, wenn sich Menschen, Kommunen dieses Landes noch etwas Menschlichkeit bewahrt haben, Menschen aufnehmen wollen, eben wegen Menschenrechten und weil es hier niemanden in Not und Elend stürzt, weil viele zudem wissen, wer und was für Flucht und Vertreibung Mitschuld trägt.
Roland Winkler, Aue
Ich erlaube mir ein paar Fragen
„Wie weiter mit Putin?“ schreit es mir auf der Titelseite entgegen. Darüber eine krude Karikatur „Jetzt reicht’s, Wladimir!“. So sprach früher der Herr Lehrer zu seinem ungezogenen Schüler. Und so will sich wohl „der Westen“ den russischen Präsidenten zur Brust nehmen; die FR stimmt mit ein (drei Seiten plus Leitartikel „Strafen reichen nicht“).
Der Giftanschlag auf Herrn Nawalny ist – sollten sich die Informationen bestätigen – ein abscheuliches Verbrechen, das aufgeklärt werden muss. Die Verantwortlichen müssen bestraft werden. Sollten die russischen Behörden dabei versagen, wäre das eine Schande für das Land.
Gleichwohl erlaube ich mir dazu Fragen. Erstens: Weshalb muss der Staatspräsident dafür verantwortlich sein? Das Nervengift Nowitschok lässt sich zwar nicht im Supermarkt kaufen, aber für organisierte Kriminelle dürfte die Beschaffung kein Problem sein. Zweitens: Wenn Herr Putin für den Anschlag verantwortlich wäre, weshalb hätte er Herrn Nawalny dann ausreisen lassen? Es wäre doch kein Problem gewesen abzuwarten. Die Ärzte hatten einen Transport zunächst abgelehnt. Drittens und vor allem: Was geht das die Bundesrepublik Deutschland, die EU oder gar die NATO an? Das mutmaßliche Verbrechen geschah auf russischen Boden, es waren nur russische Staatsbürger betroffen bzw. beteiligt. Frau Merkel und Herr Maas können ihre persönliche Meinung zu dem Vorgang äußern; das sollen sie sogar. Aber auf staatspolitischer Ebene ist unser Land nicht betroffen. Wie hätte die deutsche Öffentlichkeit wohl reagiert, wenn die russische Regierung Sanktionen z. B. gegen die Herren Bouffier und Maaßen verhängt hätte, weil diese offensichtlich die Aufklärung der NSU-Morde behindern?
Man soll bitte nicht mit moralischen Werten, die es zu verteidigen gelte, daher kommen. Sonst wäre an den Fall Khashoggi zu erinnern, der vonseiten des „Westens“ kaum mehr als betretenes Räuspern hervorgerufen hat. Oder daran, dass sämtliche US-Präsidenten bis in die Nullerjahre hinein für sich das Recht in Anspruch nahmen, missliebige ausländische Politiker ermorden zu lassen.
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass ein weiterer Anlass genutzt wird, die Konfrontation mit Russland anzuheizen, weil dieses Land den strategischen Plänen der „westlichen Wertegemeinschaft“ im Weg steht – zum Beispiel in Syrien.
Gert Hautsch, Frankfurt
Als Trump den iranischen General ermorden ließ
Seit mehreren Wochen überschlagen sich die Nachrichten zum Fall Navalny und vor allem die Forderungen der Hardliner Röttgen, Kramp-Karrenbauer, Ischinger, Maas sowie auch Trittin, Göring-Eckardt u.a. nach Sanktionen gegen Russland und die Beendigung des Projekts Nord Stream 2.
Man muss gewiss kein Freund von Russlands Präsident Putin sein, und es dürfte auch unbestritten sein, dass Russland kein demokratischer Staat ist, aber es ist fatal und stellt vor allem keineswegs ein Zeichen von Entspannungspolitik dar, wenn bei jeder Gelegenheit versucht wird, die Drohungen des Kalten Krieges der fünfziger und sechziger Jahre zu übertreffen, Putin für alles Negative in der Welt verantwortlich zu machen und die Keule gegen Russland in dieser Weise zu schwingen, wie es manche Politiker und Medien derzeit praktizieren. Wie in einem Leitartikel der FR erwähnt, ist bisher keineswegs erwiesen, wer tatsächlich versucht hat, Navalny zu vergiften und wer hierzu den Auftrag erteilt hat.
Andererseits müssen zugleich folgende Fragen an die Scharfmacher gegen Russland gestellt werden: „Welche Forderungen haben Sie an Trump im Januar dieses Jahres gerichtet, als dieser unbestritten befahl, den iranischen General Soleimani zu ermorden? Was haben Sie gegegenüber Trump unternommen, als dieser sich sogar live darüber unterrichten ließ, wie eine Drohne die Wagenkolonne des Generals mit Raketen beschoss? Welche Maßnahmen haben Sie gefordert, als neben dem Tod Soleimanis weitere zehn Menschen umgekommen sind? Wie haben Sie sich angesichts der traurigen Tatsache verhalten, dass dieser Angriff ausgerechnet auf dem US-Flugplatz Ramstein in der Pfalz gesteuert wurde? Gab es jemals eine Forderung von Ihnen, gegen die USA Sanktionen zu verhängen, wie Trump es seit seinem Amtsantritt laufend androht und teilweise auch praktiziert? Haben Sie in gleicher Weise, wie Sie den Baustopp von Nord-Stream 2 verlangen, die Ablehnung des teuren, umweltschädlichen Fracking-Gases gegenüber den USA gefordert?“
Nachdem im Falle einer Beantwortung meiner Fragen höchstwahrscheinlich alle Fragen mit „Nein“ beantwortet würden,sollte eine objektive Untersuchung des Falles Navany und deren Ergebnis abgewartet werden, bevor man einseitig die Russen für alles Unheil dieser Welt verurteilt, während man über sämtliche nachgewiesenen Verbrechen des „Bündnispartners“ wohlwollend hinwegschaut und dazu dessen Drängen nach Erhöhung des Kriegsetats bereitwillig Folge leistet, obwohl diese finanziellen Mittel für friedliche Zwecke im Interesse der Menschlichkeit benötigt werden.
Peter Boettel, Göppingen
„Angst vor Nawalnys Rückkehr“ und „Darf sich Putin freuen?“, FR-Politik vom 17. und -Meinung vom 22. September
Da ist ein Verbrechen an einem rusischem Staatsbürger auf rusischem Boden verübt worden. Das ist zu bedauern geht uns aber gar nichts an. Daran den Weiterbau einer Pipline zu knüpfen ist schon weit hergeholt. Da muss es einen anderen Grund geben. Ist es wirklich weit hergeholt zu denken das unsere Regierung Angst vor dem hat was dem amerikanischem Präsidenten einfallen könnte um die Pipline zu verhindern. Schliesslich stehen immer noch 30000 USSoldaten in D..
Es wurde vermeldet, dass Merkel Navalny besucht hat.
Wann wird sie die von amerikanischen Drohnen, die von Ramstein aus gesteuert wurden, Verletzten in Syrien und im Irak besuchen?
Wird sie auch die vielen Menschen, darunter auch Deutsche, die von ihrem Freund Erdogan eingesperrt und z.T. gefoltert und für die Erdogan inzwischen die Todesstrafe fordert, besuchen?
Wie Nawalny denkt wurde in der ZDF-Sedung vom 29.09.2020 Die Anstalt wunderbar erklärt
Wer die Sendung verpasst hat kann sie sich in der Mediathek ansehen
@ G.Ktrause:
Gut so, das hätten alle, die Navalny so hochjubeln, anschauen sollen ebenso wie den Umgang mit Assange.
Auch in Wikipedia sind Hinweise auf die nationalistische und rechte Gesinnung Navalnys zu finden:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Nawalny
Im Jahre 2011 verwendete Nawalny nationalistische Slogans und fiel durch rassistische Äußerungen auf. Laut Moscow Times sah er die Immigration nach Russland als eines der größten Probleme des Landes an. So forderte er die Einführung einer Visapflicht für Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Kritisch äußerte er sich in seinem Blog zu der im Nordkaukasus vermeintlich gängigen Praxis, Blutrache auszuüben: „Leider haben die nordkaukasische Gesellschaft und alle Eliten nur eines gemeinsam: den Wunsch, den tierischen Gesetzen und Gebräuchen zu folgen. […] Ich bin kategorisch nicht damit einverstanden, dass irgendwelche Basmatschi durch Moskau rennen… Im Jahr 2007 verglich er Menschen aus dem Kaukasus mit Kakerlaken. Dabei erklärte er in einem Video, dass die Terroristen nicht mit einer Fliegenklatsche oder einem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien. Nawalny schlug die Abschiebung der „zersetzenden Elemente“ vor. Nawalny trat 2011 auf diversen Kundgebungen rechter Gruppierungen als Redner auf. Am 22. Oktober 2011 nahm er am rechten Russischen Marsch in Moskau teil, zu dessen Organisationskomitee er auch gehörte.
Sehr geehrter Herr Minister Maas,
die derzeitige Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik beunruhigt mich derzeit in besonderer Weise und erinnert mich an die härtesten Zeiten des Kalten Krieges der fünfziger und sechziger Jahre.
Seit mehreren Wochen überschlagen sich die Nachrichten zum Fall Navalny und vor allem ausgerechnet Ihre Forderungen nach Sanktionen gegen Russland und die Beendigung des Projekts Nord-Stream 2 sowie die am 13.10.2020 auf Ihre Initiative im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft beschlossenen weiteren Sanktionen.
Man muss gewiss kein Freund von Russlands Präsident Putin sein, und ich bin auch sicher, dass Russland kein demokratischer Staat ist, aber es ist fatal und stellt vor allem keineswegs ein Zeichen von Entspannungspolitik dar, wenn bei jeder Gelegenheit versucht wird, die Drohungen des Kalten Krieges der fünfziger und sechziger Jahre zu übertreffen, Putin für alles Negative in der Welt verantwortlich zu machen und die Keule gegen Russland in dieser Weise zu schwingen, wie es derzeit leider auch von Ihnen praktiziert wird.
Ich bin sehr besorgt darüber, dass die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, die schließlich auch zur Einigung der beiden deutschen Staaten geführt hat, zunehmend in Frage gestellt wird. Gerade die Friedenspolitik von Willy Brandt hat mich bewogen, zum Zeitpunkt der parlamentarischen Beratung der Ostverträge im April 1972 in die SPD einzutreten, der ich trotz zahlreicher Enttäuschungen noch angehöre. Leider hat die derzeitige Politik der Bundesregierung und insbesondere Ihre nahezu feindselige Haltung gegenüber Russland eher zur Folge, dass viele SPD-Mitglieder die Grundsätze der Partei durch deren Repräsentanten in der Regierung nicht mehr vertreten sehen, sie deshalb nicht mehr wählen und ihr vielfach den Rücken kehren. Sicherlich dürfte Ihnen zumindest aus Ihrer Anfangszeit als SPD-Mitglied nicht unbekannt sein, dass Bemühungen um Frieden und Ausgleich stets Bestandteil der Programmatik der Partei war.
Denn es ist bisher keineswegs erwiesen, wer tatsächlich versucht hat, Navalny zu vergiften und wer hierzu den Auftrag erteilt hat. Gerade Ihnen als Jurist müsste doch bekannt sein, dass jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, solange als unschuldig gilt, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren nachgewiesen ist. Auch kommt Deutschland nicht einmal dem Rechtshilfeersuchen Russlands in dieser Frage nach.
Andererseits müssen in diesem Zusammenhang zugleich folgende Fragen gestellt werden: „Welche Forderungen haben Sie an Trump im Januar dieses Jahres gerichtet, als dieser unbestritten befahl, den iranischen General Soleimani zu ermorden? Was haben Sie gegenüber Trump unternommen, als dieser sich sogar live darüber unterrichten ließ, wie eine Drohne die Wagenkolonne des Generals mit Raketen beschoss? Welche Maßnahmen haben Sie gefordert, als neben dem Tod Soleimanis weitere zehn Menschen umgekommen sind? Wie haben Sie sich angesichts der traurigen Tatsache verhalten, dass dieser Angriff ausgerechnet auf dem US-Flugplatz Ramstein in der Pfalz gesteuert wurde? Gab es jemals eine Forderung von Ihnen, gegen die USA Sanktionen zu verhängen, wie Trump es seit seinem Amtsantritt laufend androht und teilweise auch praktiziert? Haben Sie in gleicher Weise, wie ein Baustopp von Nord-Stream 2 verlangt wird, die Ablehnung des teuren, umweltschädlichen Fracking-Gases gegenüber den USA gefordert?“
Bevor man einseitig die Russen für alles Unheil dieser Welt verurteilt, sollte eine objektive Untersuchung des Falles Navalny und deren Ergebnis abgewartet werden. Auch mutet es seltsam an, wenn Sie und die Kanzlerin einem Menschen in einer solch auffälligen Weise die Aufwartung machen, einen unverhältnismäßig großen und kostenintensiven Polizeischutz in einem Schwarzwalddorf veranlassen, der bekanntlich als Rechtsnationalist gilt. Erwiesen ist hierbei, dass Nawalny im Jahre 2011 nationalistische Slogans verwendete und durch rassistische Äußerungen auffiel. So sah er ähnlich wie die AfD hierzulande die Immigration nach Russland als eines der größten Probleme des Landes an. Auch forderte er die Einführung einer Visapflicht für Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Im Jahr 2007 verglich er Menschen aus dem Kaukasus mit Kakerlaken. Dabei erklärte er in einem Video, dass die Terroristen nicht mit einer Fliegenklatsche oder einem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien. Auch trat Nawalny auf diversen Kundgebungen rechter Gruppierungen als Redner auf und nahm am rechten Russischen Marsch in Moskau teil, zu dessen Organisationskomitee er gehörte. Wenn dazu Navalny den Altkanzler Schröder als Laufburschen Putins beschimpft, ohne dass Sie für einen Parteifreund und ehemaligen Regierungschef Partei ergreifen, frage ich, welche Reaktionen Sie regierungsseitig erwarten würden, wenn Julian Assange Sie als Laufbursche Trumps bezeichnen würde.
Sicherlich hat auch ein Mensch mit einer solchen Gesinnung das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, so dass eine Vergiftung, gleich wer auch immer diese zu verantworten hat, zu verurteilen ist. Aber auf der anderen Seite zeigt man von offizieller Regierungsseite für einen Julian Assange keinerlei Anteilnahme oder Fürsprache, obwohl er Gefahr läuft, im Falle seiner Auslieferung eine Strafe von 175 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe erleiden zu müssen, weil er die Vorbereitung von Kriegsverbrechen aufgedeckt hat. Daher frage ich Sie als Jurist und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: Halten Sie diese unterschiedliche Behandlung von Navalny und Assange für eine Achtung der Menschenwürde, für eine Gleichbehandlung und für eine Respektierung der Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität?
In gleicher Weise mutet es sehr grotesk an, mit welchem Eifer Sanktionen gegen Russland verhängt werden, während man über sämtliche nachgewiesenen Verbrechen von „Bündnispartnern“, vor allem der USA und der Türkei wohlwollend hinweg schaut. Noch dazu leistet die Bundesrepublik dem Drängen der USA nach einer Erhöhung des Kriegsetats bereitwillig Folge, obwohl diese finanziellen Mittel gerade zu Corona-Zeiten dringend für friedliche Zwecke im Interesse der Menschlichkeit benötigt werden und denjenigen fehlen, die sich für die Gesundheit und das Leben ihrer Mitmenschen einsetzen. Während der Anschluss der Krim, dem die dortige Bevölkerung zugestimmt hat, weil sie von der Ukraine vernachlässigt wurde und auch ursprünglich zum Staatsgebiet Russlands gehörte, noch viele Jahre für eine Verurteilung Russlands herhalten muss, wird die Okkupation von Nordsyrien seitens des Erdogan-Regimes in der Türkei ebenso wie die massenhaften Inhaftierungen durch Milliardenzahlungen und Waffenlieferungen sogar noch belohnt. Haben Sie jemals gleichermaßen den türkischen Botschafter bei Inhaftierungen von Regimekritikern sowie auch von deutschen Staatsbürgern einbestellt wie Sie den russischen Botschafter im Fall Navalny einbestellt haben?
Sicherlich mögen Ihnen einige Passagen und auch Fragen unangenehm oder sogar heftig vorkommen. Jedoch bitte ich um Verständnis, wenn ich diese Schärfe wählen musste, weil auch die derzeitige und leider geradezu einseitig gestaltete Sanktionspolitik gegenüber Russland als überzogen gewertet werden muss.
Gleichwohl würde mich Ihre Stellungnahme zu meinen Ausführungen interessieren und danke im Voraus für Ihre Nachricht.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Boettel
Der Fall Alexej Nawalny beherrscht zur Zeit neben Covid 19 die Schlagzeilen der Tagespresse und zu Recht
werden in EU und NATO Sanktionen gegen Putin und Lukaschenko diskutiert.
Trotz aller Entrüstung drängt sich der Verdacht auf, dass auch hier mit zweierlei Maß gemessen wird.
Wo ist der moralische Unterschied, ob man einen Auftragskiller nach Berlin schickt oder ob man einen
missliebigen Menschen mit einer Drohne ermorden lässt, die zudem noch übersetzt den prosaischen Namen
„Sensenmann“ trägt, entsprechende Kollateralschäden inbegriffen.
Ist da jemand auf die Idee gekommen, Sanktionen gegen Präsident Trump und seine Entourage zu empfehlen?
Sie haben vor zwei Wochen über die Anhörung in Sachen Julian Assange berichtet, der seit zehn Jahren auf der Flucht
ist und seit einem Jahr im schmutzigsten Londoner Gefängnis einsitzt, und an dessen psychischer Vernichtung hier
weiter gearbeitet wird. Gründe für die Inhaftierung sollen „Verletzung von Bewährungsauflagen“ sein.
Wieviel Haft bekommt man normalerweise für ein solches Vergehen?
Hat die britische Presse noch nicht zur Kenntnis genommen, dass auch an ihrem Gast gesägt wird,
oder sind die banalen Kalamitäten ihrer Royales so wichtig, dass keine Zeit mehr für ordentliche Pressearbeit bleibt.
Ein Journalist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich macht, kann weder ein Spion noch ein
Verräter sein. Julian Assange hat kein Verbrechen begangen und muss endlich frei kommen.
In was für einer kafkaesken Welt leben wir denn, wenn die Täter die Zeugen ihrer Verbrechen mit internationalen
Haftbefehlen verfolgen können. Nach meinem Rechtsverständnis macht sich ein Mensch der Kenntnis von Verbrechen hat
der Beihilfe schuldig, wenn er hierzu schweigt.