Die Studentenbewegung und mein innerer Vorbehalt
Von Jörg Bilke
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Vier Jahre, bevor die Straßenkämpfe der wilden APO-Jahre einsetzten, war ich, im Sommer 1964, aus dem Zuchthaus Waldheim in Sachsen entlassen worden und zum Sommersemester 1965 nach Mainz zurückgekehrt, um mein Studium fortzusetzen. Ich war im Spätsommer 1961 auf der Leipziger Buchmesse als westdeutscher Student aus Mainz verhaftet und wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verhaftet worden. Nach meinen ernüchternden Erfahrungen mit dem „realen Kommunismus“ in Waldheim war ich für politische Heilsbotschaften unempfänglich geworden und konnte die Studentenbewegung nicht ernstnehmen. Da gab es im SDS junge Genossen aus der rheinpfälzischen Provinz, die in ihrem Leben nicht weiter als bis zur Landeshauptstadt Mainz gekommen waren, wo sie mit Marx- und Engels-Zitaten um sich warfen und die Weltrevolution anstrebten. Wenn wir am Sonntagmorgen durch die Arbeiterviertel zogen und Bertolt Brechts „Lied von der Einheitsfront“ sangen oder biedere Weinbauern in den Rheindörfern von der sozialistischen Zukunft überzeugen wollten, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Alle meine Erfahrungen sprachen gegen dieses wirklichkeitsfremde Polittheater. Eines Sommerabends besetzte eine Handvoll mutiger Genossen über den Bühneneingang das Mainzer Theater, wo gerade eine Operette aufgeführt wurde, und erteilten dem Publikum eine Lektion über Vietnam, wo gerade ein amerikanischer Vernichtungskrieg tobte. Das war sicher alles richtig, nur die Leute wollten es nicht hören. Ich bin dann im Herbst 1972 an die Indiana University in den Vereinigten Staaten gegangen und habe danach meine Dissertation über Anna Seghers geschrieben.
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Der Autor
Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937 in Berlin-Moabit. 1977 Doktortitel. Hat als Redakteur u.a. für die „Welt“ und die Bundeszentrale für politische Bildung gearbeitet. Bis 2000 Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ in der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. Träger des Bundesverdienstkreuzes. Verheiratet.