Demokratie ist eine ständige Baustelle

Ist die Demokratie in Gefahr, weil populistische Kräfte wie die sogenannte „Alternative für Deutschland“ Wahlerfolge im zweistelligen Prozentbereich erzielen? Ist sie in der Krise oder wird diese Krise nur herbeigeredet? Kein Zweifel: Der rechtsextreme Rand unserer Gesellschaft ist mutiger geworden und tritt selbstbewusster auf. Die Vorgänge in Chemnitz haben das gezeigt, aber auch die um den Präsidenten des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, der sich wie kein politischer Beamter zuvor gegen seinen Dienstherrn positionierte. Ebenfalls ein Beispiel für einen ermutigten Rechtsextremen? Sind das „normale“ Vorgänge? „Normal“ in dem Sinn, dass es in den allermeisten europäischen Staaten – und nicht nur dort – mittlerweile rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien gibt. Im Parteienspektrum der Bundesrepublik klaffte in dieser Hinsicht bisher eine Lücke. Aus guten Gründen. Oder bedeutet das, dass die zweite deutsche Demokratie in der Krise steckt?

Der Frankfurter Sozialphilosoph Rainer Forst hat zu dieser Frage am 3. November bei den 46. Römerberggesprächen einen Vortrag gehalten, der in gekürzter Fassung unter der Überschrift „Die Demokratie zerfällt in zwei Hälften“ bzw. „Zwei schlechte Hälften ergeben kein Ganzes“ auch in der FR erschienen ist. Dazu kamen einige Leserbriefe herein.

Balken 4Leserbriefe

Roswitha Ristau aus Braunschweig meint:

„Danke für die gekürzte Wiedergabe des Vortrags von Rainer Forst. Er ist ebenso erhellend in der Analyse wie – leider – verstörend im Ausblick. Aber er hilft bei der eigenen Denkanstrengung und eröffnet Argumentationsstränge.“

Martin Bechstedt aus Bargteheide:

„Was haben Herr Seehofer und Professor Forst gemeinsam? Sie sind eine Gefahr für die Demokratie, der eine aus taktischen Überlegungen zur Verbesserung der eigenen Position, der andere aus dem Elfenbeinturm heraus.
Beide reden eine „gravierende“ Krise, ja einen „Überlebenskampf“ der Demokratie herbei, und gefährden sie damit erst. Demokratie kann nie „fertig“ sein, weder konzeptionell noch praktisch, immer das Ergebnis eines – problemlösenden – sich wandelnden Diskurses. Herr Forst bezeichnet gerade dies als Krise, seine deduktive Theorie wirkt auf die Realität aufgepfropft, eine Realität, die tatsächlich nach dem Desaster der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nie so lange gut funktionierte, zumindest dort, wo sie nicht nur nominell verankert war. Man muss den Krisenbeschwörern entgegentreten, damit sie nicht das Funktionieren unserer Demokratie eines Tages gefährden.“

Elvira Neupert-Eyrich aus Hofheim:

„Der Beitrag von Rainer Forst analysiert treffend die derzeitige politische und demokratische Krise. Um politisch handlungsfähig zu bleiben oder es zu werden, ist es notwendig diese Analyse herunterzubrechen und auch in der Kommunalpolitik auf diese krisenhafte Entwicklung zu achten.
Wenn Demokratie davon lebt, dass als ständige Baustelle um Gerechtigkeit und Interessenausgleich gestritten wird, ist es notwendig, dass dafür auch in einer Kommune ständig darüber gestritten wird. Leider ist dieses Denken noch lange nicht in den Köpfen lokaler Politiker und Verwaltungen. Es herrscht eher ein Bild von Obrigkeit der Verwaltung, die das Zusammenleben einer Stadtgesellschaft mehr oder weniger von oben herab regelt. Auch da ist die parlamentarische Demokratie an ihre Grenzen gekommen.
Es wird dann Bürgerbeteiligung hergestellt und beschworen, obwohl man in einer streitbaren Demokratie doch ständig die Bürger beteiligen sollte, ihre Interessen berücksichtigen und für Ausgleich zu sorgen hätte, als Verwaltungsdienstleister einer Stadtgesellschaft und als parlamentarisches Gremium. Die Realität sieht oft anders aus.
Deshalb finde ich es wichtig, dass auch alle Freizeitpolitiker wieder eine Ahnung von streitbarer Demokratie entwickeln und dann im Diskurs den notwendigen Interessenausgleich in einer Kommune, auch im Streit mit einer Verwaltung, herstellen. Demokratie heißt doch, dass die Interessen aller Menschen wahrgenommen werden und die Stimmen gehört bzw. auch Menschen eine Stimme gegeben wird. Das ist bei konkreten Fragen sicher auch gut möglich, weil es sofort Wirkung zeigen kann. So würde von unten nach oben Demokratie geübt, ohne parteipolitisches Kalkül und Geplänkel. Das ist meine Vision für eine politische Arbeit vor Ort. Die nächste Vision ist dann, diese Umgangsweise nach „oben“ fortzusetzen.
Vielleicht nur eine Vision, die nicht gelingt? Aber der die Analyse von Rainer Forst macht mir Mut, dass es doch, jenseits der beiden Hälften einen dritten Weg gibt. Dieser Weg erfordert eine gute Kommunikationsfähigkeit und offenes Denken und einen systemischen Blick auf die Welt.“

Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:

„Politik- und Sozialwissenschaftler neigen regelmäßig dazu, gesellschaftliche Prozesse unterschiedlich und mit geradezu gegensätzlichen Schlussfolgerungen zu interpretieren. Unberücksichtigt bleibt dabei wiederholt ein wesentliches Ziel jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Nämlich diese Vorgänge so zu gestalten, dass sie die Menschen und die Welt der Menschen im Sinn der Teilhabe aller, einer umfassenden Gerechtigkeit und der Solidarität verändern.
Einen ähnlichen Befund äußerte Karl Marx 1845 in seiner elften These über den Philosophen und Religionskritiker Ludwig Feuerbach. Damals ging es um die Frage, ob die Idee des Christentums Antworten liefern könnte auf die reale Situation aller, die dringend der Gerechtigkeit, also der materiellen und intellektuellen Erlösung im Hier und Jetzt, bedurften. Marx konstatierte, dass Feuerbach die christliche Ethik nicht als ein gesellschaftliches Produkt verstünde, obwohl er Religion als Projektion menschlicher Bedürfnisse auf eine Metaebene bezeichnet hatte. Folglich sei die Religion gespalten. Zum einen in den guten Willen, der es beim Wunsch nach besseren Verhältnissen belassen würde, zum anderen in die praktische Umsetzung dieses Willens, die aber mangels Bodenhaftung nicht vorankäme.
Rainer Forst sieht vergleichbare spalterische Tendenzen bei einem anderen gesellschaftlichen Ziel: der Demokratie. Die sei in eine Krise geraten, weil auf der einen Seite ein autoritärer Populismus für die Mechanismen der Globalisierung allzu schlichte Erklärungsmuster liefere, die von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geprägt seien. Und auf der anderen Seite, weil auch bei Linken eine unzulässige Vereinfachung feststellbar sei. Auch sie mische europa- und globalisierungskritische Perspektiven mit Vorbehalten gegenüber Migranten und dem Islam. Zudem fände keine Analyse der Prozesse im demokratischen System statt. Man kann zwischen den Zeilen die Thesen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann heraushören. Nämlich das Bestreben aller Heilsbotschaften, insbesondere der Religionen, die Komplexität der Welt zu reduzieren, um sie erklärbar und beeinflussbar zu machen.
Forst macht dies bei den Linken exemplarisch an einer angeblich unentschlossenen Haltung gegenüber dem Brexit fest sowie an der vermeintlichen Inkonsequenz der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die unlängst nicht dazu bereit gewesen wäre, sich an der Demonstration „Ungeteilt“ gegen Rassismus und für offene Grenzen zu beteiligen. Letzteres ist eindeutig falsch; denn die Distanzierung von Sahra Wagenknecht (die er zwar namentlich nicht erwähnt, aber offensichtlich meint) lässt sich weder auf die Partei Die Linke oder auf nichtorganisierte Linke noch auf „Aufstehen“ allgemein übertragen. Geradezu abenteuerlich erscheint Forsts Wahrnehmung der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die ihm als linkspopulistisch erscheint und dennoch oder gerade darum eine Koalition mit der Lega Nord eingegangen ist.
Diese Bewertungen mögen auf einer unzureichenden bis falschen Kenntnis der Tatsachen beruhen. Absurd, ja geradezu gefährlich, werden seine Prämissen, wenn er diese abstrahiert: „Wir leben in einer Zeit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die globaler Natur sind, aber der normative Denkrahmen, innerhalb dessen wir Politik verstehen, ist auf der nationalen Ebene stehengeblieben.“
Globalisierung ist de facto nichts anderes als imperialistischer Kapitalismus, der lediglich in neuem Gewand daherkommt. Dessen Herrschafts- und Kommandozentralen befinden sich in den traditionellen Zentren der Alten Welt, also in US-amerikanischen, europäischen, japanischen, mittlerweile auch koreanischen und zunehmend in chinesischen Unternehmen. Sie alle ringen um Positionen auf dem Weltmarkt, den sie aber nicht als Markt im Sinn von Angebot und Nachfrage verstehen. Vielmehr manipulieren sie ihn, indem sie dafür sorgen, dass Chancengleichheit ausgeschlossen ist und dass die Produktion von Gütern unabhängig von tatsächlichen Bedürfnissen und ohne Rücksicht auf ökologische Folgen durchgesetzt wird. Und genauso wie zu jenen Zeiten, die als kolonialistisch galten, werden in den unterworfenen Ländern Bündnisse mit den jeweiligen nationalen Oligarchien geschlossen. Die Antwort der Linken darauf ist seit jeher die Propagierung des Internationalismus aller Werktätigen. Denn das Gegeneinander-Ausspielen der arbeitenden Bevölkerung (Niedriglohn und Leiharbeit contra Tariflohn, Einwanderer und Flüchtlinge contra Geringqualifizierte, Ausland contra Inland) ist ebenfalls ein altes Lied, das von linken Sozialdemokraten und Sozialisten seit eineinhalb Jahrhunderten mehr geschrien denn gesungen wird.
Im Gegensatz zu den Linken stellen Rechte nicht das System, das Ungerechtigkeit hervorbringt, infrage. Vielmehr wollen sie die unsozialen Verhältnisse sogar zementieren, indem sie (wie aktuell die AfD) einen Ständestaat proklamieren, der nach Autarkie strebt, aber ebenfalls auf Sklavenarbeit in Osteuropa, Afrika und Asien setzt. Die nationalistische und betont fremdenfeindliche Neue Rechten ist keineswegs die negative Hälfte der heutigen Demokratie, sie ist durch und durch undemokratisch. Denn tatsächlich handelt es sich bei ihr um ein spätes Kind des Feudalismus, das folglich keine Gemeinsamkeiten mit der Demokratie aufweist. Geschichtsphilosophisch ist sie nichts anderes als der Kompost überwundener Zeiten, der aber immer noch Gift absondert.
Nicht zufällig fußt der Trumpismus in den USA, den die AfD mit Sympathie begleitet, auf der Idealisierung jener Verhältnisse, die 1861 zum amerikanischen Bürgerkrieg führten: Industrie und Industrieproletariat des Nordens gegen die Baumwoll-Barone des Südens. Letztere spielten ihre Arbeiterschaft auf besonders subtile Weise gegeneinander aus: Die afroamerikanischen Sklaven rangierten auf der sozialen Leiter so weit unten, dass jeder weiße Hilfsarbeiter mit Verachtung auf sie herabblicken und dadurch seine eigene Minderwertigkeit kompensieren konnte.
Die von Rainer Frost diagnostizierte Krise der Demokratie existiert und sie ist hoch gefährlich. Aber sie hat andere Mütter und Väter und bedarf anderer Lösungsansätze.
Nach meinen Beobachtungen an der Basis ist als größte Ursache eine übergreifende Bildungsferne (auch bei gut Ausgebildeten bis hin zu Akademikern) festzustellen, die mittlerweile zu einer breiten politischen Bewusstlosigkeit geführt hat. Allein die Art und Weise der Nutzung digitaler Medien spricht für eine um sich greifende Verblödung.
So erwächst die Europaskepsis vor allem aus der nicht zu leugnenden Eroberung der europäischen Idee durch Lobbyisten der Monopolwirtschaft. Die gemeinsame Währung ist ständig den Angriffen einflussreicher Banken ausgesetzt, denen es sogar gelang, dass einer ihrer Vertreter (Mario Draghi) zum Währungshüter bestellt wurde. Gegen die grünen Grenzen in Europa erhebt kaum jemand Einwände, weil sie direkt wahrnehmbare Vorteile bieten.
Vorbehalte gegenüber dem orthodoxen Islam, die in allen westeuropäischen Staaten festzustellen sind, erwachsen vor allem durch dessen enge Bindung an autokratische Herrschaftssysteme in der arabischen Welt. In diesem Kontext ist auch die Distanz gegenüber Flüchtlingen aus diesen Regionen einzustufen, die längst nicht nur auf rassistische Vorurteile zurückzuführen sind. Können Menschen, die aus ihrer Welt fliehen und sich von Europa ein besseres Leben versprechen, solche Kulturbrüche verarbeiten? Muss Integration nicht durch die Setzung von völlig anderen Prioritäten, beispielsweise durch die Einübung von demokratischen Freiheiten, erfolgen? Ist mit Religionsfreiheit nicht auch die Freiheit von der Religion gemeint? Schließlich haben die Europäer die Vereinnahmung des Lebens durch die Katholische Kirche überwiegend erfolgreich abgewehrt, selbst in Italien und Spanien.
Rainer Frost beklagt auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, die zu einer Deutung der gesellschaftlichen Prozesse in der Lage ist. Eine solche Sprache fehlt, weil es an politischem Bewusstsein mangelt und das Mittelmaß zum Qualitätskriterium erhoben wurde (in Deutschland fühlen sich die meisten Parteien einer Mitte verbunden, die streng genommen gar nicht existiert). Wer die Grammatik der Freiheit beherrscht, dem wird es nicht einfallen, von einer Spaltung der Demokratie zu sprechen, sondern von einer Bedrohung der Demokratie durch Nichtdemokraten. Und er wird ebenso nicht die Zivilisierung von Herrschaftsverhältnissen fordern, sondern eine Zivilgesellschaft, die auf Hierarchien und damit auf Herrschaft verzichten kann.“

Balken 4Update vom 22. November

Es gibt einen weiteren Leserbrief  von Karl Höhn aus Frankfurt:

„Den Kern der Krise der Demokratie sieht Forst darin, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse global, Politik aber national strukturiert ist. „Der internationale Finanzmarkt und die Art, wie transnationale Konzerne operieren, ist national nicht mehr zu kontrollieren“. „Die Demokratie sieht sich Strukturen gegenüber, die sie nur noch hinnehmen zu müssen scheint“.
Was er nicht schreibt: diese Strukturen sind nicht vom Himmel gefallen. Tatsache ist, dass es seit über 30 Jahren die Politik „christlich-liberaler“, „rot-grüner“ und großer Koalitionen ist, die die Finanz- und Arbeitsmärkte dereguliert, öffentliches Eigentum privatisiert, Steuern von Unternehmen und Reichen gesenkt, Mehrwertsteuer erhöht, Politik mit Schuldenbremsen amputiert und mit all dem die Macht der Konzerne und die Ohnmacht der Demokratie befördert hat. Bestes Beispiel dafür, dass sie dies weiterhin tun ist ihre Zustimmung zu CETA, JEFTA und vielen weiteren sog. „Freihandelsabkommen“, die die Macht der Konzerne gegen alle Vernunft und Demokratie stärken. Wer Widerstand leistet, wird auch von Grünen-Chef Al-Wazir kurzerhand mit Trump in einen Topf geworfen: argumentieren überflüssig. Die deutsche Regierung spielt das Spiel der Konzerne, wo sie die „Binding Treaty“ Initiative des UN-Menschenrechtsrats behindert, die eine bindende Verpflichtung der Unternehmen auf die Menschenrechte zum Ziel hat. Mit Verweis auf die Notwendigkeit internationaler Vereinbarungen, werden fortschrittliche nationale oder europäische Initiativen verhindert, wie derzeit von Olaf Scholz eine europäische Digitalsteuer.
In der Realität ist das Verhältnis von Politik auf nationaler Ebene zur transnationalen Ebene nicht so einfach. Forst nennt Europa als ersten Schritt auf dem Weg zu transnationaler demokratischer Macht. Mit keinem Wort erwähnt er, dass wir es bei der real existierenden EU mit konstitutionalisiertem Neoliberalismus zu tun haben: der EuGH behandelt die europäischen Verträge, also den gemeinsamen Binnenmarkt, wie eine EU-Verfassung, die den nationalen Verfassungen übergeordnet ist. Damit ist die national verfasste Sozialpolitik, Fiskalpolitik etc. der transnational verfassten Ökonomie nachgeordnet und unterworfen, das neoliberale Primat der Ökonomie gegenüber der Politik etabliert. Das nationale Verfassungsgericht muss dagegen die Demokratie verteidigen, auch gegen CETA. Aktuell bedroht ein EuGH-Urteil (Fall Polbut) zur „Niederlassungsfreiheit“ von Unternehmen die Mitbestimmung in Deutschland. Das schlimmste Beispiel aber für die Zerstörung der Demokratie ist die von der EU-“Troika“ betriebene Verelendungspolitik und auf Generationen festgeschriebene Schuldknechtschaft Griechenlands.
CDU/CSU/FDP/SPD und Grüne (bei letzteren beiden häufig im Gegensatz zur eigenen Basis) sind nicht die eigentlich demokratischen Kräfte, die angesichts globaler Strukturen nur zu ohnmächtig sind, sondern vielfach umgekehrt der nationale Transmissionsriemen im Dienste neoliberaler Hegemonie, die für die Zerstörung der Demokratie verantwortlich ist.
Auf der anderen Seite kämpfen hunderttausende gegen diese „Freihandelsabkommen“, Privatisierungen, Fremdenfeindlichkeit, Krieg und Aufrüstung, Umweltzerstörung und Klimawandel, für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Von allen Parteien ist die Linke diejenige, die diese Bewegungen am meisten unterstützt und die einzige, die offen zwei Dilemata anerkennt und kontrovers diskutiert: 1. Wir benötigen transnationale Strukturen, befinden uns aber gleichzeitig oft in einem Abwehrkampf auf nationaler Ebene gegen neoliberale transnationale Strukturen. Wer kein Problem mit der neoliberalen EU der kann sich leicht brüsten hundertprozentiger Europäer zu sein. 2. Die Menschenrechte sind unteilbar, Geflüchteten muss geholfen werden, aber für die benachteiligten Gruppen, die bei uns die Hauptlast neoliberaler Politik tragen, stellen sie eine Konkurrenz um knappe Jobs und Wohnungen dar. Hier ringt die Linke darum, Kernpunkte ihrer Identität unter einen Hut zu bringen, während die große Koalition die Asylgesetzgebung weiter aushöhlt, Fluchtursachen durch Rüstungsexporte und unfaire Handelsabkommen (EPA) befeuert, die EU-Außengrenzen in imperialistischer Weise nach Afrika verlegt, autoritäre Regime zur Flüchtlingsbekämpfung anheuert und dem Sterben im Mittelmeer zusieht. Die Grünen schreiben heimlich still und leise in ihr Europaprogramm: „das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Auch wenn nicht alle, die kommen, bleiben können.“ (FR, 09.11.18)
Demokratie, schreibt Forst, ist „Kampfruf gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung… politische Praxis der Gerechtigkeit“. Wer für Demokratie kämpfen will, muss diejenigen beim Namen nennen, die die Demokratie aushöhlen und aufdecken, wie sie ihr zerstörerisches Werk betreiben und den wirklich demokratischen und fortschrittlichen Kräften Mut machen und sie unterstützen, auch wenn sie nicht auf alle Fragen gleich eine Lösung haben und im Eifer des Gefechts auch manchmal daneben liegen. Forst scheint an diesem Kampf keinen Anteil zu nehmen.“

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13 Kommentare zu “Demokratie ist eine ständige Baustelle

  1. Ist die Demokratie in Gefahr? Nein.
    Der Sinn der Demokratie besteht darin, eine Diktatur zu verhindern. Deshalb zeichnet sich die Demokratie dadurch aus, dass man die Regierung wieder abwählen kann. Ich sehe keine Gefahr, dass jemand in der Lage sein sollte, das zu ändern.

  2. @Henning Flessner
    Ist das nicht ein bisschen blauäugig? In vielen Ländern, in denen Rechtspopulisten ans Ruder kommen, läuft es doch so: Erst wird die unabhängige Presse angegriffen, dann die Justiz an die Kandare genommen, anschließend ändert man ein bisschen das Wahlrecht – und schon ist die Mehrheit auf Jahre hinaus fest zementiert. Bei wem will man denn gegen eine Manipulation von Wahlen klagen? Vor Gerichten, die – wie etwa in Polen – mit willfährigen Anhängern der Regierungspartei besetzt sind? Nein, die Demokratie ist sehr wohl in Gefahr, man verliert sie leichter, als man denkt.

  3. Leider ist es wirklich so, wie Michael Schöfer es darstellt.

    Und vor allem dann, wenn mit obskuren Geldspenden Parteien und Organisationen vom Schlage der AfD massiv unterstützt werden. Insbesondere auch, wenn diese sich auf internationaler Ebene (mit Ungarn, Polen u.a.) verbünden.

    Man darf an die Unterstützung der Nazis durch die Ruhrbarone erinnern.

  4. @Michael Schöfer:
    Ich finde es schlimm genug, dass in Deutschland mittlerweile Wahlfälschungen zum Standard gehören – auch, wenn sie meistens aufgedeckt und anschließend korrigiert werden.

  5. @M. Schöfer:
    z.B. bei der Landtagswahl in Hessen in Frankfurt (s. FR-Artikel „FDP stellt Strafanzeige“) und der NRW-Landtagswahl (s. Artikel vom 24.5.2017 in der Welt „Polizei ermittelt wegen Wahlfälschung – Stimme Nachschlag für AfD“).

  6. @deutscher Michel
    Fehler und Pannen gibt es überall, allerdings ist das Wahlergebnis auch nach der Neuauszählung im Wesentlichen gleich geblieben (Anzahl der Mandate, Anzahl der Prozentanteile). Hier von „Wahlfälschung“ zu sprechen, halte ich jedoch für übertrieben. Und bei den Strafanzeigen muss man erst abwarten, wie die Sache am Ende ausgeht. Wahlfälschungen a la DDR gibt es m.E. in Deutschland nicht.

  7. @ Michael Schröder:
    Fehler und Pannen wären aber in etwa bezüglich aller Parteien ähnlich verteilt. Wenn sie immer in die gleiche Richtung tendieren, handelt es sich sehr wahrscheinlich um Absicht.

  8. @deutscher Michel

    Halten wir uns doch an den Fakten fest. Bei der Nachzählung in Hessen gab es folgende Differenzen vom vorläufigen zum endgültigen Wahlergebnis (jeweils die Landesstimmen):
    CDU +656
    SPD +280
    Grüne +252
    Die Linke +69
    FDP +304
    AfD +316
    (auf die kleineren Parteien verzichte ich jetzt, Quelle: Wahlrecht.de)

    Wo sehen Sie da „Wahlfälschungen“ zu Ungusten einer bestimmten Partei? Und wenn ja, welcher? Landesweit wurden 2.881.261 gültige Stimmen abgegeben, an korrigierten Stimmen gab es lediglich 1959 (für alle Parteien), das sind belanglose 0,068 Prozent. Würde jemand Wahlen fälschen wollen, sähe das doch ganz anders aus.

  9. @Michael Schröder:
    Dass das vorläufige und das endgültige Wahlergebnis voneinander abweichen, ist ja keineswegs zu beanstanden. Alleine in FFM würden aber ca. 900 Stimmen falsch zugeordnet.

  10. @deutscher Michel

    Auch hier die harten Fakten, Differenz vorläufiges zu endgültigem Ergebnis in Frankfurt/Main:

    CDU +325 Landesstimmen (Prozentanteil gleich geblieben)
    SPD +118 Landesstimmen (Prozentanteil gleich geblieben)
    Die Grünen -127 Landesstimmen (Prozentanteil um 0,1 % gesunken)
    Die Linke -47 Stimmen (Prozentanteil um 0,1 % gesunken)
    FDP +90 Landesstimmen (Prozentanteil gleich geblieben)
    AfD +91 Landesstimmen (Prozentanteil gleich geblieben)
    Quelle: FR-Online vom 20.11.2018

    Aber bei insgesamt 266.723 gültigen Stimmen fallen die Unterschiede ebenfalls nicht ins Gewicht. Noch einmal: Ein Anzeichen für Wahlfälschung ist das m.E. nicht.

  11. Den Kern der Krise der Demokratie sieht Forst darin, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse global, Politik aber national strukturiert ist. „Der internationale Finanzmarkt und die Art, wie transnationale Konzerne operieren, ist national nicht mehr zu kontrollieren“. „Die Demokratie sieht sich Strukturen gegenüber, die sie nur noch hinnehmen zu müssen scheint“.
    Was er nicht schreibt: diese Strukturen sind nicht vom Himmel gefallen. Tatsache ist, dass es seit über 30 Jahren die Politik „christlich-liberaler“, „rot-grüner“ und großer Koalitionen ist, die die Finanz- und Arbeitsmärkte dereguliert, öffentliches Eigentum privatisiert, Steuern von Unternehmen und Reichen gesenkt, Mehrwertsteuer erhöht, Politik mit Schuldenbremsen amputiert und mit all dem die Macht der Konzerne und die Ohnmacht der Demokratie befördert hat. Bestes Beispiel dafür, dass sie dies weiterhin tun ist ihre Zustimmung zu CETA, JEFTA und vielen weiteren sog. „Freihandelsabkommen“, die die Macht der Konzerne gegen alle Vernunft und Demokratie stärken. Wer Widerstand leistet, wird auch von Grünen-Chef Al-Wazir kurzerhand mit Trump in einen Topf geworfen: argumentieren überflüssig. Die deutsche Regierung spielt das Spiel der Konzerne, wo sie die „Binding Treaty“ Initiative des UN-Menschenrechtsrats behindert, die eine bindende Verpflichtung der Unternehmen auf die Menschenrechte zum Ziel hat. Mit Verweis auf die Notwendigkeit internationaler Vereinbarungen, werden fortschrittliche nationale oder europäische Initiativen verhindert, wie derzeit von Olaf Scholz eine europäische Digitalsteuer.
    In der Realität ist das Verhältnis von Politik auf nationaler Ebene zur transnationalen Ebene nicht so einfach. Forst nennt Europa als ersten Schritt auf dem Weg zu transnationaler demokratischer Macht. Mit keinem Wort erwähnt er, dass wir es bei der real existierenden EU mit konstitutionalisiertem Neoliberalismus zu tun haben: der EuGH behandelt die europäischen Verträge, also den gemeinsamen Binnenmarkt, wie eine EU-Verfassung, die den nationalen Verfassungen übergeordnet ist. Damit ist die national verfasste Sozialpolitik, Fiskalpolitik etc. der transnational verfassten Ökonomie nachgeordnet und unterworfen, das neoliberale Primat der Ökonomie gegenüber der Politik etabliert. Das nationale Verfassungsgericht muss dagegen die Demokratie verteidigen, auch gegen CETA. Aktuell bedroht ein EuGH-Urteil (Fall Polbut) zur „Niederlassungsfreiheit“ von Unternehmen die Mitbestimmung in Deutschland. Das schlimmste Beispiel aber für die Zerstörung der Demokratie ist die von der EU-“Troika“ betriebene Verelendungspolitik und auf Generationen festgeschriebene Schuldknechtschaft Griechenlands.
    CDU/CSU/FDP/SPD und Grüne (bei letzteren beiden häufig im Gegensatz zur eigenen Basis) sind nicht die eigentlich demokratischen Kräfte, die angesichts globaler Strukturen nur zu ohnmächtig sind, sondern vielfach umgekehrt der nationale Transmissionsriemen im Dienste neoliberaler Hegemonie, die für die Zerstörung der Demokratie verantwortlich ist.
    Auf der anderen Seite kämpfen hunderttausende gegen diese „Freihandelsabkommen“, Privatisierungen, Fremdenfeindlichkeit, Krieg und Aufrüstung, Umweltzerstörung und Klimawandel, für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Von allen Parteien ist die Linke diejenige, die diese Bewegungen am meisten unterstützt und die einzige, die offen zwei Dilemata anerkennt und kontrovers diskutiert: 1. Wir benötigen transnationale Strukturen, befinden uns aber gleichzeitig oft in einem Abwehrkampf auf nationaler Ebene gegen neoliberale transnationale Strukturen. Wer kein Problem mit der neoliberalen EU der kann sich leicht brüsten hundertprozentiger Europäer zu sein. 2. Die Menschenrechte sind unteilbar, Geflüchteten muss geholfen werden, aber für die benachteiligten Gruppen, die bei uns die Hauptlast neoliberaler Politik tragen, stellen sie eine Konkurrenz um knappe Jobs und Wohnungen dar. Hier ringt die Linke darum, Kernpunkte ihrer Identität unter einen Hut zu bringen, während die große Koalition die Asylgesetzgebung weiter aushöhlt, Fluchtursachen durch Rüstungsexporte und unfaire Handelsabkommen (EPA) befeuert, die EU-Außengrenzen in imperialistischer Weise nach Afrika verlegt, autoritäre Regime zur Flüchtlingsbekämpfung anheuert und dem Sterben im Mittelmeer zusieht. Die Grünen schreiben heimlich still und leise in ihr Europaprogramm: „das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Auch wenn nicht alle, die kommen, bleiben können.“ (FR, 09.11.18)
    Demokratie, schreibt Forst, ist „Kampfruf gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung… politische Praxis der Gerechtigkeit“. Wer für Demokratie kämpfen will, muss diejenigen beim Namen nennen, die die Demokratie aushöhlen und aufdecken, wie sie ihr zerstörerisches Werk betreiben und den wirklich demokratischen und fortschrittlichen Kräften Mut machen und sie unterstützen, auch wenn sie nicht auf alle Fragen gleich eine Lösung haben und im Eifer des Gefechts auch manchmal daneben liegen. Forst scheint an diesem Kampf keinen Anteil zu nehmen.

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