Den revolutionären Ideen fehlte die Basis in den Massen

Frankfurter Rundschau Projekt

Den revolutionären Ideen fehlte die Basis in den Massen

Von Klaus-Philipp Mertens

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„Waren Sie auch ein 68er?“ wurde und werde ich häufig gefragt. „Eigentlich nicht“, antworte ich dann. „Denn ich beteiligte mich bereits ab dem Frühjahr 1966 an den politischen Protesten von Schülern, Studenten und Lehrlingen sowie an Demonstrationen in der Kulturszene.“ Und das entwickelte sich so:

Im Januar 1966 hatte ich meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer eingereicht. Im April wurde ich Mitglied des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer (VK)“ in meiner Heimatstadt Dortmund. Der Verein wurde für mich so etwas wie das Eintrittstor in eine Welt, zu der ich bislang keinen Zugang hatte, ja, von deren Existenz ich nichts wusste, noch nicht einmal etwas geahnt hatte. In Jugendhäusern, Kirchengemeinden oder öffentlichen Bibliotheken nahm ich an Diskussionen über die Bundeswehr, die NATO, den Warschauer Pakt sowie über die ethischen und politischen Aspekte militärischer Gewalt teil. Anfangs als Zuhörer, später saß ich mit auf den Podien. Und immer häufiger mischte ich mich ein in die Kontroversen über die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik.

Dabei lernte ich Schriftsteller wie Max von der Grün, Bruno Gluchowski, Josef Reding und Wolfgang Körner kennen, die in der linken „Dortmunder Gruppe 61“ organisiert waren. Sie war fünf Jahre zuvor vom damaligen Leiter der Dortmunder Stadtbücherei, Fritz Hüser (1908 – 1979), gegründet worden und sie hat für mindestens ein Jahrzehnt die politische Kultur im Ruhrgebiet maßgeblich mit beeinflusst.

In einem von linken Gewerkschaftern initiierten Arbeiterbildungsverein, dessen Domizil ein ausgebauter Keller nördlich des Dortmunder Hauptbahnhofs war (also in einem anrüchigen Viertel lag, unweit von Bordell, Striplokalen und Bars), stieß ich auf die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin. Während mir das Gymnasium nie verheißungsvolle Zugänge zur deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert verschaffen konnte und das mutmaßlich auch nicht wollte, sog ich die neu kennengelernten Ideen der frühen Sozialisten geradezu auf – wie einer, der 40 Tage in der Wüste dem Verdursten ausgeliefert war.

Das hinderte mich jedoch nicht daran, meine persönliche Exegese der Bibel fortzusetzen. Da ich die alten Sprachen zumindest oberflächlich gelernt hatte, erschlossen sich mir allmählich die gesellschafts- und religionskritischen Schriften des Alten und Neuen Testaments – die orthodoxen religiösen Vorschriften hingegen ließ ich rechts liegen. Durch Zufall oder Notwendigkeit traf ich in der Kriegsdienstverweigerer-Organisation meinen Latein- und Religionslehrer aus der Unter- und Mittelstufe wieder. Der machte mich bekannt mit Heinz Kloppenburg (1903 – 1986), Oberkirchenrat und Pfarrer an der Dortmunder Marienkirche, der über enge Kontakte zum „Internationalen Versöhnungsbund“, zur „Aktion Sühnezeichen“ und zur „Christlichen Friedenskonferenz“ verfügte. Letztere galt als kommunistisch unterwandert, war aber bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 eine der wenigen Möglichkeiten, mit Christen aus den sozialistischen Staaten in Verbindung treten zu können. In diesem Jahr 1966 bewegte ich mich ideologisch zwischen Bibel und Marx/Engels.

Doch es deutete sich allmählich eine inhaltliche Wende an. Zu meinem 19. Geburtstag im Juli 1966 schenkte ich mir selbst Herbert Marcuses Schrift „Der eindimensionale Mensch“, die kurz zuvor in deutscher Übersetzung erschienen war. Marcuse thematisierte darin die Manipulation des Menschen in der Konsumgesellschaft und rief zur „Großen Verweigerung“ auf. Dies war ein Signal, das von der protestierenden jungen Generation gehört und angenommen wurde – und dazu gehörte ich. Ende November 1966 sprach Rudi Dutschke in der Berliner „Hasenheide“ vor einigen Tausend Menschen. Er wendete sich in seiner Rede gegen den US-Krieg in Vietnam und gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen in der Bundesrepublik. Die Berichterstattung darüber in der Ruhrgebiets-Presse war eher dürftig. Lediglich „Die Welt“, „BILD“ und andere Zeitungen des Axel Springer Verlags wurden ausführlicher; es schien so, als hätten die Zentralorgane des Kapitalismus ihre ernst zu nehmenden Gegner und Überwinder ausgemacht und schossen sich bereits auf diese ein.

Am 23. November 1966 fand die Verhandlung zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor dem Prüfungsausschuss in Dortmund statt. In meiner bereits mit dem Antrag eingereichten schriftlichen Begründung hatte ich mich u.a. bezogen auf ein schmales Buch, das der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière (Vater des späteren Kanzleramts-, Verteidigungs- und Innenministers Lothar de Maizière), zwei Jahre zuvor (als Inspekteur des Heeres) verfasst hatte: „Die Landesverteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung“ (Verlag R. von Decker, Hamburg). Daraus hatte ich diesen Abschnitt zitiert: „Das Territorium der Bundesrepublik ist lang und schmal; ihm fehlt die für die Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen notwendige Tiefe.“ Maizière begründete damit die Notwendigkeit der atomaren Abschreckung. Ich stritt mich 40 Minuten lang mit dem Ausschussvorsitzenden, einem Regierungsrat des Kreiswehrersatzamtes, über die ethischen und politischen Konsequenzen aus dieser „Alternative“ zwischen Tod und Tod.

WAZ 14091966 kleinZur Sprache kam auch mein Leserbrief zum Umgang mit Kriegsdienstverweigerern, den die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ am 14.09.1966 veröffentlicht hatte. Es war der erste Leserbrief, der von mir abgedruckt worden war. Nach diesem Verhör berieten sich die Ausschussmitglieder knappe zehn Minuten. Dann wurde ich wieder hereingebeten, um mir die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mündlich auszusprechen; die schriftliche Bestätigung erreichte mich etwa zwei Wochen später.

Der erste Leserbrief.
Klaus Mertens schrieb an die WAZ.
Bild: Privat

Am Anfang des neuen Jahres 1967 galt ich bereits als ein gut vernetzter Aktivist in Dortmunds unabhängiger linker Szene. Die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“, welche die alljährlichen Ostermärsche organisierte, delegierte auch mich für die Auftaktkundgebung Mitte Februar im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Vor der eigentlichen Veranstaltung traf man sich in mehreren Arbeitsgruppen und diskutierte mit prominenten Vertretern des wissenschaftlichen Sozialismus über die Situation in der Bundesrepublik. Ich hatte mich zu der Runde gesellt, die mit Johannes Agnoli (1925 – 2003) über dessen Thesen zum bürgerlichen Staat diskutierte. Agnoli galt als marxistischer Anarchist. Das Buch „Die Transformation der Demokratie“, das er gemeinsam mit Peter Brückner verfasst hatte, stand kurz vor seinem Erscheinen und er zitierte Auszüge aus dem Manuskript. Später, von 1972 bis 1990, war er Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. In seiner Jugendzeit stand er dem italienischen Faschismus nahe, was er gegenüber Vertrauten immer einräumte und von dem er sich glaubhaft distanzierte. Der 68er-Bewegung galt er als einer ihrer Vordenker.

Bei der anschließenden großen Kundgebung traten Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Stütz, Hanns Ernst Jäger, Hanns Dieter Hüsch und Perry Friedman auf. Als für den Abschlusschor noch einige unterstützende Männerstimmen benötigt wurden, meldete ich mich. Es wurde mein erster Bühnenauftritt und ich sang aus voller Kehle und Überzeugung mit bei „Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache geht“ und „Ja, das ist Dreck und der muss weg, sowas wollen wir nicht haben. Leute denkt um, seid nicht so dumm, denn sonst fressen euch die Raben“. Zum Schluss sangen die ca. 800 Teilnehmer den amerikanischen Protestsong „We shall not be moved“. Anschließend gab es noch einen Fackel-Umzug durch die Gelsenkirchener Innenstadt. Für mich zählt dieser Tag zu jenen Passageriten, die ein Linker absolvieren sollte.

Noch sehr gut erinnere ich mich an die Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer“ Ende April 1967 in Wuppertal. Konrad Adenauer war wenige Tage vorher gestorben und wir diskutierten über sein politisches Erbe. Trotz oder wegen der Großen Koalition sah aber niemand irgendwelche Anzeichen für eine Liberalisierung. Willy Brandt, Außenminister und Vizekanzler unter Kurt Georg Kiesinger, erschien uns lediglich als Alibi-Figur. Er sollte das Vertrauen der westlichen Bündnispartner in die Bundesrepublik stärken und den ideologischen Gegner im Osten beruhigen. Unterhalb der Oberfläche würde der klerikale CDU-Staat eine Umwertung der noch nicht einmal 20 Jahre alten Demokratie weiter betreiben. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze war spätestens für das Frühjahr 1968 vorgesehen.

Der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, der viele Kriegsdienstverweigerer vor Gericht vertreten und ihnen dort ihr Recht erstritten hatte, wies während der Tagung auf eine politische Justiz in der Bundesrepublik hin, die teilweise ähnliche Tendenzen aufwiese wie jene am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hannover-Drück hatte er darüber ein Buch geschrieben: „Politische Justiz 1918 – 1933“, erschienen im S. Fischer Verlag (Fischer – Bücherei) 1966.

Bei dieser Versammlung in Wuppertal lernte ich auch Hans A. Nikel kennen, Mitherausgeber der satirischen Zeitschrift „Pardon“. Ihm war es bereits Mitte der 50er Jahre gelungen, prominente Befürworter für die Sache der Kriegsdienstverweigerer zu gewinnen, beispielsweise Martin Niemöller, Johannes Rau (SPD, davor Gesamtdeutsche Volks-Partei), die Musiker Albert und Emil Mangelsdorff und den Musikmanager Fritz Rau. Die Verbandszeitschrift „Zivil“ wurde vom Verlag Bärmeier & Nikel in Frankfurt gedruckt.

Die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien in West-Berlin offenbarte den Umfang der vor allem von der Springer-Presse gelenkten Aggression, die sich gegen protestierende Studenten entlud. Das unglückliche Taktieren des Regierenden Bürgermeisters Heinrich Albertz (1915 – 1993), der sich sowohl dem rechten Flügel seiner eigenen Partei, der SPD, als auch der ohnehin rechts verorteten CDU gegenübersah, heizte die Eskalation der unausgestandenen Konflikte noch an. Erst spät bekannte Albertz, am schwächsten gewesen zu sein, als er am härtesten war, nämlich in jener Nacht des 2. Juni 1967. Ende September trat er von seinem Amt zurück.
Das Berliner Abgeordnetenhaus wählte daraufhin Klaus Schütz (1926 – 2012) zum Regierenden Bürgermeister. Während seiner Ära nahmen die gewaltsam ausgetragenen Konflikte noch zu. Auch im Ruhrgebiet fand man damals Plakate mit dem Slogan: „Brecht dem Schütz die Gräten – alle Macht den Räten“.

Im Herbst 1967 wurde ich zum ehrenamtlichen Geschäftsführer der Dortmunder Gruppe des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ gewählt. Das Amt erwies sich als Eintrittsbillett zu diversen Veranstaltungen der linken Szene. So war ich regelmäßiger Gast im neu gegründeten „Republikanischen Club“, was mich dazu inspirierte, innerhalb des VK einen „Club Civil“ als Träger der Jugendarbeit zu gründen, was auch rasch gelang. Als anerkannte Jugendorganisation erhielten wir eine bescheidene finanzielle Förderung durch die Stadt Dortmund (was für den Druck von Programmen und Plakaten reichte) und konnten unsere Veranstaltungen im relativ zentral gelegenen „Haus der Jugend“ durchführen.
Der „Club Civil“ wurde bald schon zu einem gefragten Partner bei der politischen Bildung. Denn er hatte zwar eine Position (Beratung und Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern, Engagement in der Friedensarbeit), aber er war parteipolitisch neutral.

Ostermarsch 1968 Happening Bild Günter KretlowAls problematisch erwies sich jedoch die relativ kleine Zahl der Mitglieder, die den inneren Zirkel bildeten. Zeitweilig waren fünf Aktive verantwortlich für Großveranstaltungen mit mehreren Hundert Teilnehmern. Ich denke beispielsweise an eine Podiumsdiskussion über Maos Kulturrevolution, ein Streitgespräch mit Kirchenvertretern, Politikern und Medizinern über Abtreibung, Liederabende mit dem ortsansässigen Schallplattenverlag „PLÄNE“, der bekannte Singer und Songwriter präsentierte und ab der Jahreswende 1967/68 mehrere Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze in Zusammenarbeit mit der IG Metall und der ÖTV.

Ostermarsch 1968 in Dortmund
mit Mitgliedern des „Civil Club“.
Bild: Günter Kretlow

Mit großer Zurückhaltung reagierten wir auf die Annäherungsversuche der dogmatischen Linken, die aus dem Umfeld der verbotenen KPD kamen. Prinzipiell hatten wir nichts gegen eine Wiederzulassung der Kommunistischen Partei einzuwenden, versprachen uns davon sogar eine erhebliche Belebung der politischen Diskussion. Aber uns störten Sprache und Symbole, die unkritisch aus der DDR importiert zu sein schienen und es vermutlich auch waren.
Es gab zu dieser Zeit am nördlichen Stadtrand Dortmunds, an der Bornstraße, ein Schreibbüro mit angeschlossener Kleindruckerei, bei der auch der „Club Civil“ Kunde war. Im Büro der Firma fanden nach Geschäftsschluss häufiger Sitzungen statt, zu der die in Duisburg erschienene Wochenzeitung „Tatsachen“ einlud, die als Sprachrohr der illegalen KPD galt. Weder ich noch andere Mitglieder des Vereins sind hingegangen. Doch wenn ich abends mit der Straßenbahn-Linie 6 nach Hause und an der Lokalität vorbei fuhr, bemerkte ich immer wieder die dort geparkten Fahrzeuge der Marken „Wartburg“, „Skoda“, „Moskwitsch“ und „Wolga“. In dieser Massierung traf man sie selbst in der Großstadt Dortmund selten bis nie an. Wäre ich ein Kommunist sowjetischer Prägung gewesen, hätte ich mir zur Tarnung einen Chevrolet Impala oder einen Ford Thunderbird gekauft, aber doch keine Weltanschauung auf vier Rädern, die geradezu nach technischer Entwicklungshilfe schrie.

Äußerlich weitaus weniger dogmatisch zeigte sich das Jugendmagazin „Elan“, das in Dortmund erschien. Es hing – wie wir alle vermuteten – am finanziellen Tropf der DDR (die SED unterhielt ein „Westbüro“ zur Unterstützung der Genossen in der BRD); nach der Wende musste die Zeitschrift eingestellt werden. Ähnliches galt auch für den profilierten Schallplattenverlag „PLÄNE“. Letzterer hätte vermutlich gute Chancen besessen, wirtschaftlich zu überleben. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt und Hanns Dieter Hüsch hatten auch 1990 noch nichts von ihrer Strahlkraft verloren und haben es bis heute nicht. Somit tippe ich eher auf Managementfehler. Doch damals, speziell während der Jahre von 1966 bis 1969, waren PLÄNE, ELAN, der Republikanische Club und nicht zuletzt der „Club Civil“ angesagte Adressen in Dortmunds linker und überwiegend links-unabhängiger Szene. Und ich, anfangs noch keine 20, war mitten drin. Nebenher machte ich noch eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler und besuchte ab dem Herbst- und Wintersemester 67/68 mit Sondergenehmigung berufsbegleitend die Universität Dortmund.

Dabei kam auch das typische Vergnügen, das man spätestens seit Friedrich Engels den Linken nachsagt, nicht zu kurz. Nämlich Wein, Weib und Gesang. Na ja, in Dortmund war es statt des Weins üblicherweise das Bier (meine Lieblingsmarke war „Dortmunder Union Pils“, was viele meiner Freunde nicht verstehen konnten). Hingegen spielten Hasch und andere Drogen keine Rolle. Ich hatte keinen Bedarf und habe nichts vermisst. Und so wie mir ging es allen, die ich näher kannte.

In der ersten Januar-Woche 1968 meldete sich Dagmar bei mir, ein mir bis dahin unbekanntes junges Mädchen von schätzungsweise 16 Jahren, und lud mich zu einer Diskussionsgruppe ein. Es ginge um neue Formen der Jugendarbeit und meine Erfahrungen aus dem „Club Civil“ seien sehr gefragt. Es war ein kalter und grauer Sonntagvormittag, an dem ich diese Wohnzimmerversammlung im Stadtteil Dortmund-Derne aufsuchte. Dagmar war auch anwesend und ich hatte den Verdacht, dass sie entweder als Lockvogel oder als Vertreterin der Jugend ausgewählt worden war. Denn die anderen Teilnehmer, ausschließlich Männer, bewegten sich in der Altersklasse von ca. 25 bis 40. Zwei waren mir von ELAN bekannt, einen ordnete ich wegen seiner stereotypen Ausdrücke der KPD zu. Ich machte gute Miene zum zunächst rätselhaften Spiel und hörte mir alles an.

Reiner, den ich flüchtig vom Sehen kannte und der bei IG Metall-Jugend ein Ehrenamt innehatte, übernahm die Versammlungsleitung und kündigte für März die Gründung der „Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend“ an. Einer der Söhne Willy Brandts, Peter (der spätere Historiker), würde auch mitmachen. Als Erster Vorsitzender würde Rolf Priemer (1940 – 2017), der Chefredakteur von ELAN, zur Verfügung stehen. Auch ein anderer aus der ELAN-Redaktion, nämlich Reinhard Junge, wäre dazu bereit, sich für ein Vorstandsamt nominieren zu lassen. Etwa 17 Jahre später, 1985, erschien Junges erster Kriminalroman mit Ruhrgebietsmotiven. Danach hat er zusammen mit Jürgen Pomorin (Leo P. Ard) ganze Serien geschrieben.

Gründungsdatum sollte der 5. Mai 1968 sein, der 150. Geburtstag von Karl Marx. Mit der Verwaltung der GRUGA-Halle in Essen sei bereits ein Vorvertrag abgeschlossen worden. Es war offensichtlich, dass sich die im Untergrund arbeitende KPD an die Jugend- und Studentenproteste anhängen wollte und dazu ihre einstige (und seit 1956 ebenfalls verbotene) Jugendorganisation, die „Freie Deutsche Jugend“, reaktivieren wollte. Und möglicherweise war noch mehr geplant. Ich tippte auf eine Neugründung der KPD.

Doch die undogmatische Linke in Dortmund diskutierte mehrheitlich ganz andere Themen. Rudi Dutschkes Rede auf dem Vietnam-Kongress in West-Berlin (17. und 18. Februar 1968) löste auch bei uns ein großes Echo aus. Allerdings hielten wir seine Interpretation dieses Kriegs für fragwürdig. Sicherlich handelte es sich um den Versuch, die Hegemonie der USA in der westlichen Welt skrupellos durchzusetzen. Doch die Viet-Minh und ihr Führer Ho Tschi-Minh waren nicht nur die einstigen Befreier von japanischer und französischer Kolonialherrschaft. Sie waren zu einem wesentlichen Teil auch fremdbestimmt: durch die Volksrepublik China und durch die Sowjet Union. Auch die Thesen des mit Dutschke befreundeten deutsch-chilenischen Schriftstellers Gaston Salvatore („Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“) überzeugte uns nicht. Den revolutionären Ideen fehlte das, was sie ständig behaupteten, nämlich eine Basis in den Massen. Diese Verkennung der Realitäten führte nach meiner Überzeugung zur „Bewegung 2. Juni“ und schließlich zur „Roten Armee Fraktion“.

Allerdings: Wenn ich mich in Frankfurt am Main mit Mitgliedern des Bundesausschusses des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ traf, hörte ich auch ganz andere Einschätzungen, begegnete gar einer enthusiastischen Zustimmung. Im Stadtteil Sachsenhausen, wo ich heute lebe, gab es sogar eine „Rote Garde Sachsenhausen“ – und die war kein Karnevalsverein.
Doch im Ruhrgebiet nahmen wir die Hessen nicht ganz ernst, schließlich hatten sie sich 1949 Frankfurt als neue Bundeshauptstadt (das Parlamentsgebäude war bereits fertiggestellt) durch Adenauers rheinisch-katholische Intrige wegnehmen lassen. Das Beste an und aus Frankfurt war die „Frankfurter Schlagerbörse“ von Hanns Verres (1928 – 2003), die vom Hessischen Rundfunk wöchentlich ausgestrahlt wurde.

Wir, die auf dem Boden der Tatsachen verbliebenen undogmatischen Linken in Dortmund, Bochum oder Gelsenkirchen, blickten am Anfang des Jahres 1968 vor allem nach Prag. Dort hatte am 4. Januar das Zentralkomitees der KPČ Alexander Dubček zum 1. Sekretär der Kommunistischen Partei gewählt. Das war der Beginn des kurzen Prager Frühlings, der bis in den Sommer dieses Jahres anhielt. Das Schlagwort vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begeisterte uns; aber auch Rudi Dutschke fuhr im März nach Prag. Es schien so, als hätte er dort den ersehnten Ruf nach Freiheit in Verbindung mit dem revolutionären Elan der Massen wahrgenommen.

Als uns die Nachricht von der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April erreichte, versammelten wir uns spontan auf dem Alten Markt in der Dortmunder Innenstadt zu einer friedlichen Demonstration. Ein Anruf bei Polizeipräsident Fritz Riwotzki (1910 – 1978), einem ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, hatte zur Anmeldung genügt.

Mit dem 11. April 1968, einem Gründonnerstag, änderte sich am vergleichsweise bislang beschaulichen Jahresverlauf alles. An diesem Tag wurde Rudi Dutschke in West-Berlin von einem Attentäter niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. In der Nachbarstadt Essen wurde die Druckerei des Springer Verlags blockiert, Auslieferfahrzeuge wurden mit Molotow-Cocktails teilweise in Brand gesetzt. Die Ostermärsche wurden zu einer Protest- und Gedenkveranstaltung für Martin Luther King und Rudi Dutschke. Ich hatte wie bereits in den beiden Vorjahren am Marsch von Bochum nach Dortmund teilgenommen, der am Ostermontag stattfand. Er gehörte zu den machtvollsten Demonstrationen, an denen ich je teilgenommen habe. Nach der Abschlusskundgebung auf dem Neuen Markt trafen sich Mitglieder von „VK“, „Club Civil“ und der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ in der Gaststätte im Dortmunder Hauptbahnhof. Der Meinungsaustausch wurde beherrscht von der Frage nach alten und neuen Nazis. Schließlich hatte Josef Bachmann, der Dutschke-Attentäter, sein politisches Weltbild aus der „Deutschen National- und Soldatenzeitung“ gewonnen. Der Handlanger Bachmann fügte sich in ein Bild, das bislang geprägt war von Kurt Georg Kiesinger, dem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Bundeskanzler, oder von Hans Globke (1898 – 1973), dem ehemaligen Kommentator der „Nürnberger Gesetze“ und Staatssekretär Konrad Adenauers.
Nikolaus Koch, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund und gut bekannt mit dem katholischen Ruhrbischof Franz Hengsbach, erinnerte daran, dass die restaurative Politik Adenauers durch die Große Koalition fortgesetzt und keinesfalls beendet worden wäre. Er lud die Runde ein, sich künftig in engen Abständen in seinem Haus in Witten-Bommern, über dem Ruhrtal gelegen, zu politischen Gesprächen zu treffen. Ich beteiligte mich daran bis April 1969; denn dann wurde ich zum zivilen Ersatzdienst eingezogen.

Auch in Frankreich protestierte die akademische Jugend. Am 3. und 6. Mai wurde die Sorbonne in Paris besetzt. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai kam es in Paris zu Straßenkämpfen, es wurde die „Nacht der Barrikaden“.
Die Situation dort eskalierte bereits, als ich am Morgen des 4. Mai nach Bremen fuhr, um an der Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ im „Haus der Kirche“ teilzunehmen. Die Tagung wurde beherrscht von der Frage, inwieweit man sich mit einer Delegation der Viet Minh (zunehmend auch als Viet Cong bezeichnet), die als Gast eingeladen worden war, solidarisieren sollte. Bis Mitternacht wurde darüber heftig diskutiert. Dann erinnerte der Versammlungsleiter, dass der 150. Geburtstag von Karl Marx angebrochen und es an der Zeit sei, diesen Tag ausklingen zu lassen. Wir verabredeten uns, vor der Wiederaufnahme der Tagung vormittags an einer Demonstration gegen den Besuch des US-amerikanischen Botschafters George McGhee teilzunehmen. „Hey, George McGhee, we don’t like a friend like thee” skandierten wir. Danach arbeiteten wir im Schnellverfahren sämtliche offenen Tagungspunkte ab, ohne dass es noch zu einer Pro-Viet Cong-Deklaration gekommen war.

Die bisherigen Ereignisse bestärkten uns Dortmunder in der Überzeugung, einen Gesprächskreis zu initiieren, der über die bestehenden Vereine und Gruppen hinausreichen sollte. So kam es am 10.5.68 im Hinterzimmer der Gaststätte „Wicküler Eck“ in der Nähe des Dortmunder Westentors zur Gründung des „Jakobiner-Clubs“. Von der parallel verlaufenen „Nacht der Barrikaden“ hörten wir erst am nächsten Tag. Bis zum Frühjahr 1976 trafen wir uns regelmäßig, mal in Dortmund, mal in Bremen, mal in Hannover, mal in Heidelberg. Noch heute stehen etwa 20 von ursprünglich über 80 Teilnehmern in regelmäßigem Briefkontakt. Und nach wie vor geht es um die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“.

Die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatten wir kommen sehen; vor allem, nachdem IG Metall und ÖTV unter dem Druck der SPD eingeknickt waren.

Durch Vermittlung des PLÄNE-Schallplattenverlags wurde ich zum „9. Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten und Westberlins“ am 1. und 1. Juni 1968 (Pfingsten) nach Halle-Neustadt eingeladen. In der gerade fertiggestellten Trabantenstadt Halles trafen sich Vertreter von SED, FDJ, SDAJ, SDS sowie der Jungsozialisten in der SPD zum Meinungsaustausch. Während die offiziellen Vorträge der Prominenz so langweilig waren wie übliche Ost-Parteitage, ging es in den Zirkel-Gesprächen zum Teil sehr kontrovers zu. Vielfach wurden die DDR-Organisationen zur Solidarität mit der unabhängigen Linken in Westdeutschland aufgefordert. Sie sollten sich ein Beispiel nehmen am „Prager Frühling“. Auch die Berliner Mauer und der „Eiserne Vorhang“ zwischen DDR und BRD wurden heftig kritisiert. Erstaunlicherweise äußerten auch einige FDJ-Vertreter Verständnis für die Sicht der Westdeutschen. Es gäbe internen Diskussionsbedarf und dieser würde keinesfalls die Infragestellung der Errungenschaften in der DDR bedeuten.

Am Pfingstmontag fand das Treffen nach einer Bootsfahrt auf der Saale einen denkwürdigen Ausklang in den Saale-Auen, wo eine Art Jahrmarkt aufgebaut war. Nach dem eindrucksvollen Feuerwerk verschafften sich SDS-Mitglieder Zugang zur Rednertribüne und forderten ein „antikapitalistisches Bündnis“ von FDJ, SED und BRD-Linken sowie „Waffen für den SDS“. Doch dieses ungeplante Intermezzo dauerte nicht lange. Plötzlich schwiegen nicht nur die Mikrofone, auch die Beleuchtung auf dem gesamten Terrain ging aus. Die Jugendlichen aus Ostdeutschland zeigten sich erschüttert über den Dilettantismus ihrer Staatsorgane, die jungen Westdeutschen wurden in ihren Einschätzungen zu DDR und SED eher bestätigt. Als wir Dortmunder am nächsten Tag zurückfuhren, wuchs bei der Nachbesprechung im Zug die Erkenntnis, dass mit dieser DDR keine soziale Revolution in Deutschland zu machen sein würde.

Die Hoffnungen auf eine Wende zerstoben endgültig am 21.August, als die Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei einmarschierten und den Prager Frühling beendeten. Auch an diesem Tag gab es eine spontane Demonstration in der Dortmunder Innenstadt, an der ich teilnahm. Ich sah enttäuschte Linke und empörte Sozialdemokraten, aber auch viele Konservative, die einen sehr zufriedenen Eindruck vermittelten.

Wenig später, im September, fand der Gründungskongress der „Deutschen Kommunistischen Partei DKP“ statt. Mit ihm wurde die verbotene KPD neu konstituiert, also weder aus den Trümmern der alten KPD heraus neu belebt noch neu gegründet. Mit der Rechtfertigung des Einmarschs in Prag vergab sich die Partei alle Chancen, am längst vorhandenen linken Bewusstseinsprozess entscheidend teilzunehmen. Zwar sollte sie bald schon über eine breit aufgestellte Publizistik verfügen, aber diese erreichte fast ausschließlich die bereits hinlänglich Überzeugten.

Die von ihr im Bundestagswahljahr 1969 mit initiierte „ADF – Aktion demokratischer Fortschritt“ kam auf weniger als ein halbes Prozent der Stimmen. Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler setzten auch viele der unabhängigen Linken auf die SPD und speziell auf die aufsässigen Jungsozialisten.

 

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Der Autormertens-portraet

Klaus Philipp Mertens.
Geboren in Dortmund,
lebt heute in Frankfurt.
Er arbeitete über 40 Jahre in Lektorat und Marketing
von Fachverlagen, lebt in Frankfurt.
Er ist Vorsitzender der Kultur- und Literaturinitiative PRO LESEN e.V. im Stadtteil Sachsenhausen.
Foto: privat.

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3 Kommentare zu “Den revolutionären Ideen fehlte die Basis in den Massen

  1. Hallo Herr Büge, lieber Bronski,
    ich habe mir erlaubt, den Kommentar den ich im Thread der die Story von Herrn Hooge betrifft nochmal hier einzukopieren, da ich der Meinung bin, er passt besser hierher. Dieser Thread scheint inzwischen auch ein „toter Ast“ zu sein. Selbstverständlich möchte ich Ihnen aber nicht in’s Handwerk pfuschen…. Sind Sie anderer Meinung, lassen Sie alles wie es ist.
    Liebe Grüße, M.Schmidt

    Bei der von Dieter Hooge beschriebenen Abschlusskundgebung 1968 auf dem Römerberg war ich ebenfalls dabei. Hinzufügen möchte ich noch, dass am Ende Joan Baez herself ein Grußwort an die Teilnehmer richtete und ihr berühmtes „we shall overcome“ sang. Es war zum Niederknieen schön…..
    Zur Galluswarte begab ich mich auf die gleiche Weise wie Herr Hooge, nämlich joggenderweise. Ich war damals fast 25 und ein junger Handballspieler, also kein Problem. Das Ziel war, die Auslieferung der Frankfurt-Ausgabe der „Zeitung“ Bild zu verhindern, die damals genau dort gedruckt wurde, wo heute die FR ihre Heimstatt hat. Die Erfahrungen mit der berittenen Polizei vor Ort machte ich ebenfalls, mich erwischte eine Reitgerte am Ohr.
    Die Frankfurter Staatsanwaltschaft richtete in den darauffolgenden Tagen eine Meldestelle ein, bei der man die Übergriffigkeiten der Polzei anzeigen konnte.

    Den damals stattfindenden politischen und kulturellen Aufbruch hielt ich für erforderlich, nämlich der ganzen vorherrschenden konservativen Selbstgerechtigkeit und Heuchelei an’s Bein zu pinkeln, wenn nicht mehr.
    Diese waren im Bunde mit lächerlich gekleideten alten Männern, die mit wichtigtuerischem Gesichtsausdruck durch Kirchenschiffe schritten, wobei mindestens einer von denen eine Rede an die dort Versammelten hielt, bei der ich mich immer fragte „glaubt der das wirklich?“ Die Antwort die ich mir geben musste war stets „ich kann nicht glauben, dass der das glaubt“…..

    Damals war ich in einem Frankfurter mittelständischen Betrieb beschäftigt
    -hatte im Alter von 16 Jahren meinen Gesellenbrief erworben- für das ich letztendlich in unterschiedlichen Funktionen mehr als 30 Jahre tätig war. Der Eigentümer dieser Firma -der täglich in seinem Büro erschien- war am Wohl seiner Mitarbeiter sehr interessiert.
    So gewann ich sehr bald den Eindruck, dass der konservativen Selbstgerechtigkeit nun innerhalb der damals entstandenen sozialistischen Gruppen ein eigener Dogmatismus und eine eigene Selbstgerechtigkeit entgegengesetzt wurde, ich musste als „lohnabhängig Beschäftigter“ nicht befreit werden.
    Damals schon SPD-Mitglied, wurde meine Zustimmung zu „68“ selektiv, dennoch empfinde ich noch heute die daraus entstandenen Impulse positiv für Europa und viele andere Teile der Welt, die davon ebenfalls beeinflusst wurden.

  2. Spannend nochmal die Ereignisse so zwischen 1966 und 1969 aus „Dortmunder Sicht“ zu lesen!
    Es erinnert mich, wenn auch bei weniger faktenreicher 68er-Sozialisation, an die emotionalen und bewußtseinsmäßigen Prägungen dieser Zeit: Befreiungsschläge, Aufbruchstimmung, Grenzüberschreitungen und Widerstand gegen fragwürdige Autoritäten und Systeme.
    Bleibende Einflüsse wie durch: Ernesto Che Guevara, Martin Luther King oder Frantz Fanon (Die Verdammten dieser Erde).
    Immer noch nachschwingende Traurigkeit bei Alexander Dubcek und dem Ende des Prager Frühlings, der Ermordung von Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke.
    Das Nachdenken über die ’68er bleibt somit bestehen.

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