Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit

Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit

Von Erna Fütterer


Im Januar 1945 wurde ich 18 Jahre alt. Ich glaubte an den Endsieg, gehörte zu der verblendeten Jugend, die im Geiste des Nationalsozialismus erzogen wurde. Um so überraschter war ich, dass plötzlich die Aufforderung zur Flucht kam: „Nehmt nur das Nötigste mit, ihr kommt zurück, der Russe wird zurückgeschlagen“.

So machten wir uns auf den Weg aus dem Ort Klausenhof in Ostpreußen, vier Familien mit zwei Wagen mit je zwei Pferden, insgesamt zehn Personen, bei minus 20 Grad. Wir gingen zu Fuß, alte Frauen, Kinder, Frauen mit kleinen Kindern, alte Männer.

Es gab nicht mehr viele freie Wege, wir hörten von Ferne das Artilleriefeuer der sowjetischen Truppen, über Greueltaten wurde getuschelt. Der Treck wurde immer größer, endlos dehnte er sich nach vorne und nach hinten. Deutsche Soldaten drängten uns auf ihrem Rückzug von den wenigen freien Straßen, sie „hatten Vorrang“. Tote konnten nicht begraben werden, da der Boden  steinhart gefroren war. Schließlich blieb nur der Weg über das zugefrorene Frische Haff. Wir konnten aber nicht mehr auf die Nehrung, sondern mußten parallel zum Festland  drei Tage und drei Nächte über das teilweise aufgebrochene Eis gehen. Nachts blieb der Treck stehen, tagsüber gab der schwarze Treck auf dem weißen Eis ein leichtes Ziel ab. Wir wurden von russischen Tieffliegern beschossen, weiter im Westen dann auf der Oderbrücke von den West-Alliierten.

fuetterer-2Nach ca. 1000 Kilometern kamen wir schließlich im Dorf Föhrden in Schleswig-Holstein an. Unsere Flucht war beendet. Bei unserer Ankunft, abgezehrt, dreckig, die Pferde halb verhungert, ein paar Habseligkeiten auf dem Wagen, haben uns die Dorfbewohner sehr freundlich empfangen. Wir wurden auf die Häuser der Bauern verteilt, jeder mußte eine Familie aufnehmen, keiner konnte sich weigern. Einer Witwe z.B. blieben in ihrem großen Haus nur ein Zimmer und die Küche. In die vier anderen Zimmer kam je eine Familie.

Der Bruder der Autorin (l.)
und die beiden Schimmel,
die nach der Flucht wieder
aufgepäppelt wurden,
im Jahr 1947.
Foto: privat.

Ein Bauer sagte sofort zu mir: „Die Deern bleibt bei mir“. Wir sollten uns aber erstmal drei Tage gemeinsam bei einer Familie ausruhen, bevor ich zu der Bauersfamilie Bruhns gehen sollte. So blieben meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich zusammen, unsere Säcke wurden abgeladen. Da standen wir nun, wir waren am Ende unserer Kraft, unser Häuflein Sachen lag vor uns. Wir weinten – während der ganzen 2-monatigen Flucht haben wir nicht geweint – aber nun weinten wir und konnten gar nicht mehr aufhören. Schließlich holte uns die Familie in ihr Haus, wir bekamen etwas zu essen. die Betten wurden frisch bezogen, eine Wanne mit heißem Wasser bereitgestellt. Danach fühlten wir uns wieder wie Menschen. Wir schliefen ein.

Noch am nächsten Tag redeten wir darüber, wann wir wohl zurück nach Ostpreußen gehen könnten. Aber das sollte ja nie mehr möglich werden.

Ich wohnte und arbeitete dann bei der Bauersfamilie, sie hatten einen Sohn im Krieg verloren. Ich hatte genug zu essen, ein Dach über dem Kopf. Auch meine Mutter und mein kleiner Bruder waren gut untergebracht. Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit.

Dann kam das Kriegsende. In die Freude und Erleichterung schlich sich aber der Gedanke „Dann soll das alles umsonst gewesen sein ?“ Nach dem Krieg wurde mir durch die Nachrichten erst das ganze Ausmaß und die Folgen des Krieges bekannt und bewußt. Ich fühlte mich irgendwie wie der letzte Dreck. Wir Deutschen waren offensichtlich der letzte Dreck. Das mußte ich erstmal verarbeiten, dabei halfen mir die Arbeit und die Bewältigung des Alltags unter den eingeschränkten Bedingungen. Das Leben mußte weitergehen.
Wir hatten Glück am Ende unserer Flucht. Wir kamen zu freundlichen Menschen, die uns wie ihresgleichen behandelten, wir verliebten uns, gründeten eine Familie. Die ersten Jahre unserer Ehe (1948-1953) verbrachten mein Mann und ich und meine kleine Tochter in einem kleinen Zimmer in dem Dorf Föhrden. Es war mir inzwischen ein zweites Zuhause geworden. Rückblickend war diese Zeit die schönste Zeit meines Lebens.

1953 sind wir dann nach Duisburg umgesiedelt worden. Dort waren Wohnungen und Arbeit.

Ifuetterer-1ch habe während meines ganzen späteren Lebens immer eine ganz besondere Beziehung zu Föhrden und seine Bewohner gehabt, war dort auch oft zu Besuch. Dennoch wiegt der Verlust meiner Heimat immer noch schwer, auch die Flucht hat Auswirkungen auf mein Leben bis heute.

Erna Fütterer, ehem. Thurau,
geb. 1927 in Klausenhof/Ostpr.,

lebt heute in Kempen.
Sie war Hausgehilfin

auf dem Gut in Klausenhof
und Brennerei-Gehilfin.

Sie hat zwei Kinder, zwei Enkelkinder und zwei Urenkel.


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