Unsere Bemühungen für bessere Bildung kollidierten mit dem selektiven System

Frankfurter Rundschau Projekt

Unsere Bemühungen für bessere Bildung kollidierten mit dem selektiven System

Von Angela Lueder

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Es ist noch immer  ein Leuchten, ein Kraftzentrum, das noch immer Energie ab gibt, damals in 68 hat man uns, den Studenten und Studentinnen, etwas zugetraut. Es begann schon damit, dass wir mit abgeschlossener Berufsausbildung ohne Abitur, uns über eine Aufnahmeprüfung einschreiben konnten – 500 Bewerber, 10 % wurden genommen.

In den studentischen Vollversammlungen ging es nicht gegen die Professoren, sondern mit jungen kritischen Professoren für eine Veränderung der Lehre. Die ehemals Pädagogische Hochschule Lüneburg wurde umgewidmet und Teil der Universität Hannover. Wegweisend die inhaltlichen Themen, Kapitalismuskritik, das Kapital war Standardlektüre. Das Bildungswesen in Ost(DDR) und West(BRD) eingehend und gründlich verglichen. Man traute uns zu, dass wir ernsthaft und mit Engagement unsere Kenntnisse vertiefen wollten. Die Professoren agierten nicht als Lehrende, sondern begleiteten uns im Diskurs.  Das individuelle Lernen diente dem gemeinsamen Erkenntnisgewinn in der Gruppe. Konsequenterweise gab es daher auch keine individuellen Klausuren, sondern es wurden Gruppenprüfungen  abgelegt. Einzig im Fach Mathematik mussten wir am Ende in einer Prüfungsklausur die Theorie der Mengenlehre schriftlich begründen. Im Fach Sport traute man uns nichts zu. Kein Experimentieren, sondern Bewegungslernen als fest gefügte Übungsreihe. Das war öde, aber nicht weiter wichtig.

Fantastisch die Exkursion in die UDSSR, nach Moskau und Leningrad. Ich war nur Zuhörerin bei den Gesprächen mit sowjetischen Intelektuellen. Die ungebrochene Macht der Kirche, die die Menschen im Ostergottesdienst fast in Trance versetzen konnte, machte mir Angst. Beeindruckend der Rote Platz, die U-Bahnstationen, das Bolschoibalett und die Eremitage.

In Deutschland dann das Schulpraktikum an der amerikanischen Schule  Frankfurt, 6 Wochen Leben bei amerikanischen Familien im Housing-Area. Eine Gemeinschaftsschule mit Lehrern, Schulpsychologen, Sprachtherapeuten und weiterem pädagogischem Personal.

Nach 6 Semestern Studium ohne Druck und größtmöglicher Freiheit dann der Abschluss und die Erkenntnis, noch nicht genug zu wissen. Ich wollte weiter studieren und ging nach Frankfurt zum Diplomstudiengang Pädagogik.

Welch ein Schock. Der verschulte Seminarbetrieb. Ich bekam ein paar kopierte Seiten vom Dozenten ausgehändigt und musste ein Referat darüber halten. Gemeinsames Lernen oder gar gemeinsame Prüfungen unbekannt. Positiv der experimentierende und offene Sportunterricht, der die Grundlage für meinen späteren Sportunterricht legte.

Die Bildungsreform mit der  Einführung der Gesamtschule war prägendes Thema des Pädagogikstudiums. Zu wenig thematisiert wurde, dass die Einführung der Gesamtschule neben dem dreigliedrigen Schulsystem und immer in Konkurrenz zu diesem, letztendlich eine Totgeburt war. Die Selektion der Schülerinnen und Schüler wurde nur von den Klassen 3 und 4 der Grundschule in die Förderstufe verlagert. Auch ich beschäftigte mich mit den Möglichkeiten der Optimierung der Selektion in der Diplomarbeit unter dem Titel: „Soziale Integration“ und „Innere Differenzierung“, zwei bestimmende Prinzipien des Kernunterrichts der Förderstufe…..

Wir waren überzeugt, die Bildung der Kinder verbessern zu können und traten den Marsch durch die Institution Schule an. Marschiert wurde allerdings mehr außerhalb der Schule bei unzähligen Demonstrationen für bessere Bildung und mehr Lehrer, organisiert von uns Gewerkschaftern. Den Protest auf die Straße zu tragen, für eine Sache öffentlich zu  kämpfen, lernte ich 68 und betrachte es heute mehr denn je als eine wichtige politische Ausdrucksform. Gewandelt hat sich die Stoßrichtung der Proteste. Demonstrierten wir damals vordringlich gegen z. B. die Stationierung der Pershing-Raketen damals im Bonner Hofgarten (beeindruckend wie viele Tausende wir waren) so demonstrieren wir heute für den Kohleausstieg und wieder in Bonn. Nur 25 000 Menschen, aber genauso jung und engagiert wie 68.

Die kleine Schule in der Provinz wurde mein bildungspolitisches Betätigungsfeld. Mit einem engagierten Kollegium (100 % GEW) versuchten wir möglichst guten  Unterricht zu machen. Gemeinsamer Unterricht für alle Kinder fand unter Bedingungen statt, von denen Schulen, die heute Inklusion machen wollen, nur träumen können. Als Schulleiterin gelang es mir immer mit Unterstützung der Elternschaft (die auch mal einen Schulstreik riskierten) die uns zustehenden Unterrichtsstunden zu bekommen.

Aber so sehr wir uns auch engagierten, die Kinder förderten, den Prozentsatz der Übergänger aufs Gymnasium drastisch anhoben, wir stießen immer wieder an die Grenzen des selektiven Systems. Der Kampf um die Empfehlung fürs Gymnasium wurde von den Eltern mit harten Bandagen ausgetragen. Die Schülerinnen und Schüler mussten sich dem System anpassen. Durch unsere Art des selektiven Unterrichts bestimmten wir über den Lebensweg der Kinder und vor allem darüber  was sie nicht erreichen sollten. Besonders perfide war der Vorwurf an die „bildungsfernen“ Eltern, die ihre Kinder nicht genug fördern würden. Diese Eltern waren unser Produkt, waren sie doch durch unsere Hände gegangen, wir hatten sie zu dem gemacht, was sie waren.

In den 00 – Jahren setzte sich im hessischen Kultusministerium die Erkenntnis durch, dass der Unterricht radikal geändert werden musste. Weg vom lehrerzentrierten hin zum schülerzentrierten Unterricht. Grundschullehrerinnen und –lehrer mussten verpflichtend in 1 ½ -jährigen Fortbildungen diesen Unterricht lernen bevor sie ein 1. Schuljahr übernehmen durften. Die organisatorische Basis wurde im Schulgesetz durch die Einführung des „Flexiblen Schulanfangs“ gelegt.

3 Jahre vor meiner Pensionierung war ich endlich angekommen. Wir trauten den Schülerinnen und Schülern zu, dass sie erfolgreich lernen wollten. Respektvolle Lernbegleitung anstelle von selektivem Demütigen. Jeden Tag die Freude darüber, dass es funktionierte. Selbstbewusste Kinder, die mit Spaß und Ehrgeiz ihr  individuelles und gemeinsames Lernen gestalteten.

Die beste Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg war, bekam ich durch den Schulinspektor, der meinte sagen zu müssen: Soviel Freiheit können die Schüler gar nicht aushalten.

Doch, konnten sie und vor allem waren sie fröhlich dabei und freuten sich auf jeden neuen Tag, an dem sie in ihre Schule gehen durften. In 33 Jahren Schultätigkeit hatte ich noch nie so eine 1. Klasse mit so leistungsstarken und motivierten Schülerinnen und Schülern.

2008 wurde der Flexible Schulanfang an meiner Schule abrupt durch meinen Rauswurf aus der Schule  beendet. Äußerer Anlass war eine Ohrfeige, die ich einem Schüler gegeben hatte.

Es folgten 5 Jahre mit Verwaltungsgericht, Strafprozess, Berufungsverfahren, Prozess vor der Disziplinarkammer, Strafprozess gegen unseren Rechtsberater der GEW und abschließendem Vergleich vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Obwohl das Schulamt alles daran setzte, uns (mein Lebenspartner – auch Lehrer unserer Schule – war mit hineingezogen worden)  unsere persönliche Integrität durch immer mehr abstruse Beschuldigungen, mit denen sie an die Öffentlichkeit gingen, zu zerstören und uns „Haus und Hof zu nehmen“, trauten wir uns zu, das Ganze durchzustehen. Fair agierende Richter und Vernehmungsbeamte, faire Berichterstattung (außer einmal von der FR) und Freunde, die fest an unserer Seite standen, bestätigten unser Selbstvertrauen. Es zog sich hin und die Pensionierung trat ein.

Das uns „um Haus und Hof bringen“ bezog sich auf den kleinen Sportverein, den wir 1996 gegründet hatten. Das Schulamt ließ unser Gehalt kürzen und zwar um genau den Betrag, den wir angegeben hatten, mit dem wir den Verein finanziell unterstützten.

Im Verein konnten wir dann  die pädagogische Konzeption der respektvollen Lernbegleitung, die wir in der Schule begonnen hatten, ebenfalls umsetzen. Selbstbewusste und erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler bilden eine Gemeinschaft, die schon eine Reihe von Projekten umgesetzt hat. Auf einer Reitanlage gibt es immer viel zu bauen.

Seit 2015 trauen wir uns zu, Flüchtlingen bei der Integration zu helfen. Den Kindern boten wir an, an unserem Sport teilzunehmen, für Erwachsene boten wir Deutschunterricht und Hilfe beim Umgang mit den Behörden an. Arbeitsplatzsuche, Wohnungssuche und Begleitung zu Arztbesuchen bestimmen jetzt meinen Alltag. Ich teile Energie und Zeit und habe Freunde gewonnen.

Aus meinem eigenen traumatischen Erleben heraus – ich hing als Flüchtlingskind im Stacheldraht fest als ich aus dem Garten der kreischenden Bäuerin von nebenan Stachelbeeren klauen wollte – konnte ich die Bilder vom Nato-Draht auf der Balkanroute nicht ertragen und schloss mich spontan den Frauen an, die sich hier in Greifenstein um  Flüchtlinge kümmerten.

Das Projekt unseres Vereins: Flüchtlinge und Migranten willkommen, wurde mit dem  ODDSET-Zukunfts-Sonderpreis ausgezeichnet. Diese Bestätigung haben wir gerne entgegen genommen. Aber noch wichtiger ist die feste Überzeugung, dass das was wir machen, richtig ist und wir uns  damit eins wissen mit vielen anderen. Die Allianz der Vernünftigen.

Nicht zu vergessen, die Fähigkeiten, die man hinzu gewinnt. Wir werden es schaffen, die Bestätigung über die finanzielle Unterstützung einer Familie in Syrien  zu beschaffen, damit sie der Sohn hier bei einem deutschen Finanzamt in seiner Steuererklärung geltend machen kann.

+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++

Lueder heuteDie Autorin

Angela Lueder, Greifenstein

1945 in Lüneburg geboren. Nach Abschluss der Mittelschule Bauzeichnerin gelernt und gearbeitet in Lüneburg und München-Grünwald. 1 Jahr Au-pair in der französischen Schweiz. 1968 Studium Lehramt für Volksschulen und Pädagogik in Lüneburg und Frankfurt. Lehrerin und 25 Jahre Schulleiterin an einer 2-zügigen Grundschule in Greifenstein. Verantwortliche Funktionen in der GEW und SPD über ca. 10 Jahre. Im Freizeitbereich seit 30 Jahren Trainerin und Longenführerin im Voltigiersport (1996 Vereinsgründung und –aufbau inklusive). Mit besonderer Freude Starts im europäischen Ausland, Kooperation mit US-  und kanadischen Voltigierern. Selbstbestimmtes Sporttreiben im Bewusstsein, Teil der europäischen Jugend zu sein, ist Motto unseres Vereins. Dazu passt seit 2015 das Kümmern um Flüchtlinge. Dadurch hat sich die ehrenamtliche Arbeit vom Sport auf die Integration verlagert.


 


Bild: privat

 

 

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