Debatte unterm Tannenbaum

Frankfurter Rundschau Projekt

Debatte unterm Tannenbaum

Von Hannes Kölle

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1968 im Jahre der Revolte hat der Kinderrat beschlossen, dass wir diesmal kein christliches Weihnachten mehr feiern wollten. Wir waren 6 Kinder eines pietistisch geprägten Pfarrers, damals war ich 17 Jahre alt und die Geschwister zwischen 14 und 22. Die Schüler-und Studentenbewegung hatte uns schon geprägtgeprägt.
Seit 1967 war ich mit meinem jüngeren Bruder in der Stuttgarter Schülerbewegung aktiv. Unsere Schülerzeitung „Roter Pfeffer“ Befasste sich mit der faschistischen Militärdiktatur in Griechenland, dem Vietnamkrieg, Forderte demokratische Rechte der Schüler-Mitverwaltung und sorgte für viel Wirbel mit dem Artikel“ Steine sind auch Argumente“.

Kölle 1968Ganz im Sinne der Basisdemokratie wurde nun an Weihnachten ein Mehrheitsbeschluss der Kinder gegen die Eltern gefasst- zum Glück waren wir so viele. Mit der Religion der Eltern wollen wir nichts mehr zu tun haben.

Hannes Kölle im Jahr 1968.
Foto: privat

Gott ist die Liebe? Davon haben wir nichts bemerkt weder beim himmlischen noch beim irdischen Vater. Die Mutter war diejenige, die dem Vater unser Sündenregister vorlegte, wenn er von seinen mehrtägigen Dienstreisen zurückkam. Dann folgte Gottes Zorn.

Die Religion der Liebe, das war für uns Kinder Hohn und Lüge, weil Wort und Tat weit auseinander klafften. Entwertung und Verteufelung waren ein probates Mittel, alles zu brandmarken, was nicht in Gottes Welt passte. Wer den Weg Gottes verlässt, dem drohen Strafen auf Erden und übelste Qualen der Hölle. Der allwissende, alles sehende Gottvater mit seinen zehn Verboten stand im Zentrum des pietistischen Glaubens unserer Eltern. Wer seine Gebote übertrat, den bestrafte er gnadenlos durch die Hand des Vaters. Hose runter, und ran an den Speck! Das war nicht nur schmerzhaft, sondern auch demütigend. Die Wut über dieses System von Gewalt und Gehorsam richtete sich politisch gegen Krieg und Unterdrückung, und in der Familie an diesem Weihnachtsfest auch gegen die Eltern.

Als Alternativprogramm hatten wir ausgedacht, ein Gespräch mit den Eltern über unsere Sicht des Christentums zu führen. Dazu wählten wir einen Text des marxistischen DDR-Philosophen und Dissidenten Robert Havemann als Gesprächsgrundlage aus. Es ging um die 10 Gebote des Alten Testaments, die er als ein Gesetzeswerk der Klassengesellschaft im alten Israel im Zeitalter der Sklavenhaltergesellschaft interpretierte.

Nach der Verlesung einiger Textauszüge kam es zur Debatte im Familienkreis unter dem Tannenbaum. Natürlich gab es wenig Schnittmenge zwischen den zwei Positionen. Es war eine Provokation und sicher auch ein großer Kummer für unseren Vater als Erzieher und in seinem Beruf als Missionspfarrer, wenn seine sechs Kinder am Heiligen Abend atheistische Thesen vertraten und begründen.

Anderntags erzählte Mutter, der Vater habe in der Nacht eine Herzattacke erlitten. Ich glaube, daß beide Seiten danach wussten, daß diese Art Weihnachten zu feiern ein Holzweg war. Vater erkannte endgültig das Scheitern seiner Erziehung und wurde danach defensiver, wir Kinder unterließen solche Attacken und gingen unsere Wege, auch den Weg aus der Kirche heraus.

Die Konflikte konnten in den wenigen Jahren bis zu Vaters frühen Tod nicht mehr konstruktiv angesprochen werden. Heute nach 50 Jahren bin ich etwas schlauer und kann differenzierter schauen.

+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++

Der Autor

Hannes Kölle, geboren 1951 in Bad Hersfeld. 1969 Studium der Soziologie in Frankfurt, ab 1971 Medizin in Mainz. Aktiv in der  Studentenbewegung. Von 1994-2016 Oberarzt im Psychosomatischen Krankenhaus Lahnhöhe, jetzt verrentet. Arbeitet ehrenamtlich mit Geflüchteten und anderen  Menschen ohne Krankenversicherung im Medinetz Koblenz. Mitglied in der IPPNW

Bild: Derdzinski

 

 

 

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