Im abgeschotteten Mikrokosmos der Bundeswehr
Von Dieter Hartwig
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Als 1943-Geborener war ich 1968 25 Jahre alt und als Zeitoffizier bei der Bundesmarine (1965 bis 1969). 1968 fuhr unser Minensuchgeschwader im Sommer von Kiel zu einem Besuch nach Rouen/Frankreich. An Rouen habe ich nur eine Erinnerungen – von meinen Kommandanten bekam ich den Auftrag, Parfum für seine Frau zu kaufen. Hab‘ ich geschafft (ohne Französischkenntnisse, das Fach hatte ich nach zwei Jahren abgewählt). Und sonst – 1968? Keinerlei Erinnerung – waren wir bei der Bundeswehr so abgeschottet, dass uns die Aufregung, der Umbruch im Lande nicht erreichte? Als wir unterwegs waren, marschierten die Warschauer Pakt-Truppen im ‚Bruderland CSSR‘ ein – wir fuhren trotzdem weiter nach Westen. Aber – Studentenunruhen? Dabei war mein Geschwader doch in der Universitätsstadt Kiel beheimatet. Da soll es Ärger mit/wegen Stoltenberg gegeben haben. Nichts erinnere ich, gar nichts. Aber dann, als ich 1969 das Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Tübingen begonnen hatte!
Man sprach sich noch per SIE an! Aber in Tübingen hatte der SDS überlebt, galt Tübingen, sofern ich mich richtig erinnere, als SDS-Zentrum.
Streiks gegen die Hochschulreform gab es. Im drittelparitätisch besetzten Institutsrat vertrat ich die Studentenschaft – saß dort auch Theodor Eschenburg gegenüber (dass dessen Vater kaiserlicher Marineoffizier war, erfuhr ich erst viel später). Es gab das ‚imperative Mandat‘, aber man konnte durchaus seine eigene Meinung vertreten. Die Studienordnung war sehr liberal, wovon ich durchaus gut hatte. Aber besonders in Erinnerung blieb mir eine Diskussion mit KSB(?)-Kommilitonen über die Frage: Was machen wir denn beruflich mit unserem Politikwissenschaftstudium? Da musste ich meine Berufswahl: „Rückkehr zur Marine“ heftig verteidigen mit der m. E. bis heute gültigen Begründung: Das Militär ist eine zu wichtige Einrichtung, als dass man es/sie jenen überlassen dürfte, die ausschließlich das Militär kennen. Das gilt auch heute noch – denn das Pflichtstudium findet an bundeswehreigenen Universitäten, also im Militärkosmos statt. Fazit: Ja, 1968 war was. Ich habe es zwar nicht direkt miterlebt, habe davon aber profitiert. Und der ‚Geist von 1968‘ hat mein Leben und Wirken u. a. Geschichtslehrer in der Marine bestimmt – und tut es bis heute.
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Der Autor
Dieter Hartwig, geboren 1943 in Cuxhaven. Diente nach dem Abitur von 1965 bis 1969 als Zeitsoldat in der Bundesmarine. Studierte Politikwissenschaften und Neuere Geschichte (promoviert). Ab 1977 Berufssoldat (Kapitänleutnant). Schied im Rang eines Fregattenkapitäns 1993 aus dem aktiven Dienst aus. Ab 1994 am Aufbau des Deutschen Marinemuseums in Wilhelmshaven beteiligt. Bis 2014 Geschäftsführer zweier Waldorf-Kindergärten. Verheiratet seit 1972.
Obwohl zu der Zeit auch bei der Bundesmarine habe ich 1968 doch intensiver erlebt. Fast das ganze Jahr War ich auf Lehrgängen, wo wir in den Pausen oft vor dem Fernseher hingen. Es ging um die Notstandsgesetze und die ihre parlamentarische Behandlung begleitenden Unruhen.Im August waren wir von dem Einmarsch der SU in die CSSR direkt betroffen:Kiel-Wik lag tagelang unter einer Glocke aus Dieselabgasen der im Stützpunkt liegenden, auslaubereiten Einheiten. Und wir Soldaten an Land durften ca. zwei Wochen lang in der Freizeit den Bereich des Standortes nicht verlassen.
Von meiner direkten Vorgesetzten dazu beauftragt, hatte ich einst als frischgebackener Industriekaufmann die Aufgabe, mit einem Kapitänleutnant im Marinearsenal Wilhelmshaven zu telefonieren. Ordnungsgemäß meldete ich mich am Apparat mit dem Namen der Firma und dem Grund des Anrufs. Zu meinem Erstaunen kam es jedoch während des Gesprächs zu keiner Verständigung. Mehr oder weniger kultiviert redeten wir die ganze Zeit aneinander vorbei. Ein wirklicher Dialog, aus dem jeder einen Vorteil ziehen konnte, kam bis zum Schluss nicht zustande. Für mich war das damals die erste Erfahrung damit, wie abgeschlossen die Welt der Bundeswehr ist bzw. wie überaus schwer zugänglich sie von außen ist. Davon, dass die Soldaten mitten in der Gesellschaft ihren Dienst verrichten, wie oft anlässlich von feierlichen Gelöbnissen betont wird, kann angesichts dessen keine Rede sein. Für mich bleibt insofern ein großes Rätsel, wie die Bundeswehr insbesondere ihre fernmeldelektronische Aufklärung betreibt, wenn sie ihrerseits in sich verfangen (siehe zum Begriff der Verfangenheit: Marcuse, H.: Vorwort zu Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main, 1965) bleibt. Dass Herr Hartwig den Schritt wagte, sich wenigstens etwas von dem „Militärkosmos“ zu lösen, muss ihm deshalb hoch angerechnet werden. Zu einem weiteren Telefonat kam es übrigens nicht mehr, weil ich kurz danach zum Zivildienst einberufen wurde. Nicht zuletzt wegen solch alltagspraktischen Auseinandersetzungen mit der Armee sah ich mich fast schon gezwungen, den Dienst an der Waffe zu verweigern.