Wenn Ihr uns die Uni nehmt, nehmen wir Euch das Theater!

Frankfurter Rundschau Projekt

Wenn Ihr uns die Uni nehmt, nehmen wir Euch das Theater!

Von Axel Dinslage

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Als ich im April 1968 aus dem Sauerland, der Heimat des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke, nach Frankfurt kam, um hier zunächst Soziologie und später Psychologie zu studieren, konnte ich mich dem Sog der rebellierenden Studenten nicht entziehen. Ein älterer Kommilitone, der mir half, mich an der Uni zu orientieren, stand an vorderster Front und nahm mich zum Teach-In mit. Dort wurde nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eine Demo zur Societäts-Druckerei geplant, um die Auslieferung der Bildzeitung, die verantwortlich gemacht wurde, zu verhindern.

Hans-Jürgen Krahl, in dem laut Adorno die Wölfe hausten, und der 1970 nicht in einer Schlacht, sondern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, hielt eine seiner bewegenden Reden, die mir nahe legten, einem neuen Zeitalter kämpfend zum Durchbruch zu verhelfen. Und Günter Amendt, späterer Sexualwissenschaftler und auch Opfer eines Verkehrsunfalls, bemühte sich, den Marsch der ca. 2000 Studenten mit Hilfe einer Skizze und Verhal-tensanweisungen zu organisieren. Obwohl es moralisch gerechtfertigt schien, unseren Protest als Blockade auszuagieren, und wir uns solidarisch stark fühlten, bekam ich es doch mit der Angst zu tun, als die Wasserwerfer kamen, um den Weg für die Bild freizuspritzen. Ich beschloss dann mit einer Kommilitonin, die auf dem gleichen Stockwerk wie ich wohnte und mitgekommen war, uns in Sicherheit zu bringen und das weitere Geschehen lieber zu Hause am Radio zu verfolgen. Am anderen Morgen berichtete mein studentischer Pate, wie er ganz vorne dafür gesorgt hatte, dass auch die Auslieferung der FAZ wegen eines die amerikanische Vietnampolitik befürwortenden Artikels verhindert wurde. Und dass er völlig durchnässt nach Hause kam. Da schämte ich mich, so feige gewesen zu sein.

Dann kam der Protest gegen die Notstandsgesetze. Bei einer Veranstaltung des Liberalen Studentenbundes Deutschlands (LSD) wurden wir ehemaligen Wehrdienstleistenden informiert, dass wir damit rechnen müssten, nach der geplanten Gesetzgebung im Ernstfall auch auf aufständische Demonstranten schießen zu müssen. Erstmals fragte ich mich, wieso ich damals an meiner Schule auf dem Land nie davon gehört hatte, dass man den Kriegsdienst verweigern kann. Es gab dann eine Aktion des LSD, aus Protest gegen die Notstandsgesetze unsere Wehrpässe an das Verteidigungsministerium zurück zu senden und uns damit zu weigern, im Krisenfall auf Staatsbefehl zu töten. Als die Presseleute dokumentierten, wie die vielen Wehrpässe in einem Karton zum Versenden verpackt wurden, legte ich meinen mutig dazu. In Diskussionen versuchte ich dann, auch andere Studenten davon zu überzeugen, dass sie sich ebenso weigern sollten, auf revolutionäre Demonstranten schießen zu müssen. Schließlich antwortete mir ein Kommilitone, der noch eine Krawatte trug: „So, auf Demonstranten wollen Sie nicht schießen, aber auf andere Menschen schon?!“ Erst da begann ich, kritisch zu reflektieren, was ich durch die Bundeswehr mit mir habe machen lassen.

Einige Wochen später bekam ich Post aus dem Verteidigungsministerium, das mir meinen Wehrpass mit der Bemerkung zurück schickte, allein wegen der Notstandsgesetze könne ich nicht verweigern. Da habe ich den Kriegsdienst nachträglich ganz verweigert und endlich umgesetzt, was mir meine verehrte Deutschlehrerin mit den Kriegsgeschichten von Böll und Borchert ja indirekt nahe gelegt hatte. Ein Jahr später wurde ich nach einer damals noch üblichen Gewissensüberprüfung vor dem Tribunal am Kreiswehrersatzamt als Kriegdienstverweigerer anerkannt, nachdem ich dem vorsitzenden Oberregie-rungsrat und seinen drei Beisitzern Borcherts Aufruf „Dann gibt es nur eins!“ vorgetragen hatte.

Im Laufe der 68er Protestaktionen kam es dann zum „Aktiven Streik“ der Studenten, die damals noch nicht „Studentinnen und Studenten“ hießen. Vorlesungen und Seminare wurden von einer sog. „kleinen radikalen Minderheit“ gestört und von den Professoren z.B. mit den Worten: „In den Prüfungen sehen wir uns ja wieder!“ abgesetzt. Die Studenten besetzten die Uni, organisierten Seminare über Karl Marx, Rosa Luxemburg oder die Arbeiterbewegung. Die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität wurde umbenannt in „Karl-Marx-Universität“, die Straße dorthin hieß dann „Ho-Chi-Minh-Pfad“ und das Studentenhaus „Che-Guevara-Haus“ (heute „Studierendenhaus“, um es vermutlich nicht „StudentInnenhaus“ nennen zu müssen). In der obersten Fensterreihe des noch nicht bezogenen Juridicums prangten die roten Buchstaben „Die Universität gehört dem Volk“. Und als „Volk“ sahen wir uns, Arm in Arm mit der Arbeiterklasse, die sich in unseren Träumen mit uns im Kampf gegen das herrschende Kapital solidarisierte. Als dann auch noch das Rektorat besetzt wurde und die Anarchie – zumindest dort – drohte, kam es auf Veranlassung des Rektors zum Polizeieinsatz und damit zu einem Austausch der Besetzer: Nun wurden die Studenten, die die Professoren vor die Tür gesetzt hatten, selbst vor die Tür gesetzt, d.h. die Polizei besetzte die Uni und sperrte die Studenten aus.

Diese wiederum agierten ihren Frust aus, indem sie durch die Straßen zogen und den Verkehr blockierten. Als sie am Theaterplatz, dem heutigen Willy-Brandt-Platz, landeten, schlug einer vor (vielleicht der mit dem Megaphon), das Theater zu besetzen, um uns einen Raum zu nehmen, wo wir (diesmal war ich dann doch dabei) unsere Vorlesungen über Marxismus abhalten könnten. Vielleicht waren es einige Hundert, die dann das Schauspiel stürmten und in eine Vorstellung platzten. Sinnigerweise handelte es sich um die „Soldaten“ von Rolf Hochhuth. Das Stück wurde abgebrochen, irgendjemand warnte die Besetzer, dass die Bühne einbrechen würde, wenn alle nach vorne gingen. Also verteilten wir uns im Zuschauerraum, wo die Damen im Abendkleid und die Herren im Ausgehanzug enttäuscht bis entrüstet waren, dass wir ihnen den schönen Theaterabend versauten (was ich heute gut verstehen kann, damals aber „spießig“ fand). Dann ertönte über Saallautsprecher eine Stimme, die mitteilte, dass der Eintritt erstattet würde oder die Karten umgetauscht werden könnten. Worauf einer der studentischen Wortführer mit pathetischem Ruf und erhobener Hand in Richtung Lautsprecher antwortete: „Ist das alles, was Ihr uns zu sagen habt?!“

Während ca. die Hälfte des Publikums den Saal unter den Buhrufen der Studenten verließ, blieb die andere, um nun gratis ein ganz anderes Schauspiel zu erleben. Und dies ging so: Auf die Bühne wurde von den Studenten ein leerer Stuhl gestellt, ich glaube, er war hellblau. Ein „Leerstuhl“ für einen engagierten Professor ohne Lehrstuhl, der uns dann eine Vorlesung über Karl Marx oder die Arbeiterbewegung hielt. Und wir dachten: Wenn ihr uns die Uni nehmt, dann nehmen wir euch das Theater. Doch während die sog. „Bullen“ in der Uni erstmal blieben, zogen wir nach der Vorlesung im Theater brav nach Hause (ich jedenfalls), um uns für den nächsten Schicksalstag der angehenden Weltrevolution auszuruhen.

Dinslage 1967Da im Rahmen der erträumten Umwälzungen das Urheberrecht abgeschafft werden sollte, damit arme Studenten und Arbeiter von den Verlagen wegen überhöhter Buchpreise nicht mehr ausgeschlossen oder ausgebeutet werden konnten, wurden an der Mensa immer mehr „Raubdrucke“ wohlfeil angeboten. So wurden die Werke von Sigmund Freud, die es damals noch nicht als Taschenbücher gab, erfreulicherweise auch für uns erschwinglich. Neben den Büchern waren an einem anderen Stand Bauarbeiterhelme aus Kunststoff in verschiedenen Farben der Renner. Diese wurden dann von einigen Studenten zur Demo für die potenzielle Abfederung von Hieben mit dem Schlagstock oder auch so getragen.

Axel Dinslage im Jahr 1968.
Foto: privat.

Zum Bumerang wurde die Entwertung der Werte. Da individueller Besitz verpönt war, durfte nun auch kein Mensch mehr einem anderen gehören. Also durfte es keine Treue mehr geben („Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!“) und mithin auch keine Eifersucht.
Er sagte dann zur Freundin: „Da ich dir ja nicht gehöre, schlafe ich auch mit anderen. Und da du mir nicht gehörst, kannst du natürlich auch mit anderen schlafen.“ Gesagt, getan. War ja ganz nett, so frei zu sein. Also ging er mit reinem Gewissen fremd, konnte sich jedoch im Traum nicht vorstellen, dass sie es wagen würde, auch fremd zu gehen. Als sie dann eines Tages kam und freudig berichtete: „Ich habe auch mit X geschlafen!“, antwortete er vielleicht: „Das ist völlig in Ordnung, ich habe es dir ja auch erlaubt, denn schließlich gehört ja keiner dem anderen, und jeder ist frei.“ Dass es aber, als sie dann wieder bei X war, so verdammt weh tat, irgendwo da drinnen, das sagte er niemand. Das war in der Revolution und für den neuen Menschen nicht vorgesehen und durfte eigentlich gar nicht sein. Und dann begann er noch, sich für seine Eifersucht, dieses spießbürgerliche Gefühl, schuldig zu fühlen und zu schämen. Der Supergau war jedoch, wenn sie mit seiner Erlaubnis fremd ging, und er keine fand, mit der er gleichziehen konnte. Und die Wut wiederum weggesteckt werden musste, da erstens er es erlaubt hatte und zweitens sie ihm nicht gehörte.

Unter dem Banner der Studentenrevolte keimten nicht nur rote Zellen, brannten nicht nur Kaufhäuser, auch Sexkinos und -läden poppten wie Pilze aus dem Boden der City und der Stadtteile. Oswalt Kolle bemühte sich mit seinen Aufklärungsfilmen um die Befriedigung der Ehepaare, und Günter Amendt rief mit seiner erigierten „Sexfront“ die Jugendschützer auf den Plan. Von den Beatles erschien The White Album mit dem Song „Revolution“ („We all want to change the world“). In Frankfurt wurde die U-Bahn gebaut, und an den Bauzäunen prangten Plakate der Stadt mit einer barbusigen Frau und der Unterschrift „Oben ohne“. An Häuserwänden tauchten überall Graffiti mit dem Wort „meff“ auf, das mir keinen Sinn machte und der aus heutiger Sicht tragikomischen Revolution einen Hauch von Dadaismus verlieh. In Kinderläden durfte der frei nach Summerhill „antiautoritär“ erzogene Nachwuchs nackt rumlaufen, sich und die Wände bemalen oder beschmieren und unversteckt, ungestraft und sogar von Eltern gern gesehen Doktor spielen.

Die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) brachte die schwarz-rote bzw. mit dem Kanzler Kiesinger schwarzbraungesprenkelt-rote Große Koalition zum Wanken und bereitete Willy Brandt den Weg, der ihn später mit der FDP an die Macht brachte. Beim Sternmarsch auf die damalige Bundeshauptstadt Bonn gegen die Notstandsgesetze konnte ich im Mai den bescheidenen Mann bewundern, der dort zu uns Zigtausenden (der sog. „kleinen radikalen Minderheit“) sprach und damals zum heute scheinbar vergessenen und ansonsten ausge-storbenen Gewissen der Nation wurde: Heinrich Böll. Wohngemeinschaften wurden alltäglich und verloren ihren Ruf als exotische bzw. erotische Kommunen. Die Studenten begannen, sich auch unbekannt zu duzen, rauchten trotz Verbots in den Hörsälen, legten ihre Krawatten ab und erkämpften sich die Mitbestimmung an der Uni. Sie ließen Kopfhaar und Bärte wachsen (Marx?).

Ein Münchner Studienberater empfahl mir für ein Soziologiestudium Frankfurt wegen Adorno und der „Frankfurter Schule“. Und dann saß ich da bei diesem Adorno in seiner Vorlesung „Einleitung in die Soziologie“, dachte, das wäre was für Anfänger, und habe nichts verstanden, obwohl der Mann wunderbar reden konnte. Doch es gab viele Studen-ten, die vielleicht nicht nur so taten, als ob sie ihm folgen könnten, und die seine Gesell-schaftskritik als Bibel für ihre Revolution ansahen. Wenn ich daran denke, dass ich auch in ein Seminar schnupperte, in dem sich Adorno und Horkheimer über was auch immer ausei-nandersetzten, kann ich immerhin behaupten, dabei gewesen zu sein. Sternstunden. Auch wie Habermas einen Studenten nach vorne aufs Podium bat, um mit ihm auf gleicher Au-genhöhe zu diskutieren. Das war schon beeindruckend, wie interessiert und respektvoll der Professor dem engagierten und kompetenten Studenten begegnete.

Während ich keine Ahnung von der „Kritischen Theorie“ hatte, brach für die Studenten, die sich den Gesellschaftskritiker Adorno kämpfend in ihren vordersten Reihen wünschten, eine Illusion zusammen, als ihr Übervater sie von der Polizei rauswerfen ließ, nachdem sie sein Soziologisches Seminar („Spartakus Seminar“) besetzt hatten.

Da bewunderten und folgten sie doch lieber Herbert Marcuse, der von einem „Naturrecht auf Widerstand“ sprach und – wenn ich mich recht erinnere – irgendwann in dieser heißen Zeit vor der damals noch als Ruine an den Krieg mahnenden alten Oper zu uns Studenten sprach, die wir gegen den Vietnamkrieg demonstrierten. Und zwar für normal Sterbliche durchaus verständlich. Marcuse, der im gleichen Jahr 1979 starb wie der Berliner Anführer der Revolte, Rudi Dutschke, der später die Partei der Grünen mit gründete, und den ich erst- und letztmalig bei einer Veranstaltung der Grünen im Frankfurter Volksbildungsheim, dem heutigen Metropolis-Kino, erleben durfte. Bevor er an den Spätfolgen seiner Verlet-zungen starb, konnte ich hier nun doch noch ansatzweise die Faszination spüren, die seine charismatische Persönlichkeit bei vielen auslöste.

Dann kam Adornos letzte Vorlesung, die „Einführung in das dialektische Denken“, wo ich im April 1969 Zeuge wurde, wie drei Studentinnen das Podium erstürmten, um ihn lachend zu umtanzen, mit ihren entblößten Brüsten zu provozieren und so in die Flucht zu schlagen. Ich weiß nicht mehr, wie es mir damals damit ging. Aus meiner heutigen Sicht wurde das als mehr oder weniger lustiges Heimzahlungs-Happening ohne Geschichtsbewusstsein geplante Attentat zur autoritären Demütigung des Vaters, der nach dem Entzug seiner Lehrbefugnis 1933 schon einmal flüchten musste und sich in seiner Forschung und Lehre dafür eingesetzt hatte, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Und da ich nicht ausschlie-ßen kann, dass auch ich bei dieser Aktion zwar nicht als Planer, doch immerhin als Zeuge Gefühle hatte, für die ich mich heute schämen würde, wäre zu erkennen, dass wir mit ihm das machten, was wir unseren Vätern vorwarfen, mit uns zu machen: Entwürdigende Aus-übung von Macht gegenüber dem Schwächeren, der angstvoll seine Aktentasche vor das Gesicht hielt wie wir unsere Arme, um die Schläge abzuwehren, die uns zeigen sollten, wer der Stärkere ist. Doch streuten sie – ganz anders als unsere Väter – nicht auch Blütenblätter auf sein Haupt?

Als Adorno einige Wochen später 65-jährig in seinem Urlaub einem Herzinfarkt erlag, hatte ich keine Chance mehr, mich bei ihm wie geplant im Nebenfach Philosophie prüfen zu lassen. Nachdem Rudi, unser Haupt voll Blut und Wunden, hirnverletzt ins Exil gegangen war und die Linke sich zersplittert hatte, blieben als Reste von 1968/1969 Flower-Power, Easy Rider und Woodstock.  Und Alexander Mitscherlich, der seine Vorlesungen zur „Einführung in die Psychoanaly-se“, denen ich nun folgen konnte, nicht im Hörsaal VI veranstaltete, sondern in der licht-durchfluteten Aula, da er es ablehnte, in bunkerähnlichen Hörsälen ohne Fenster zu unterrichten.

Nachdem Dutschke, Krahl und Amendt aus dem Leben gerissen wurden, blieb Daniel Cohn-Bendit („Dany le Rouge“), der bei der Mairevolution Paris aufgemischt hatte und nach seiner Ausweisung in Frankfurt als Asylant das Megaphon übernahm (von Krahl?), es mit dem „PflasterStrand“ zum Sprachrohr der Sponti-Szene machte, als ehrenamtlicher Dezernent für Multikulturelle Angelegenheiten im ersten rot-grünen Magistrat von Frank-furt die Stadtpolitik mit gestaltete und später Europapolitiker wurde, während es Joschka Fischer vom abiturfreien Straßenkämpfer zum Landes- und dann Außenminister und letzt-lich hoch dotierten Elder Statesman brachte.

Wenn ich mir Zeit nehme, bemühe ich mich um Adornos Worte auf den Spruchbändern in schwarzem Marmor, die labyrinthartig das Denkmal seines Arbeitsplatzes im Glassarg umkränzen. Und wieder ärgere ich mich etwas, dass seine sprachlich vermittelten Gedan-ken für den philosophisch nicht geschulten Mann vom Lande oder Arbeiter wohl kaum zu verstehen sind. So z.B.:

EINZIG LISTIGE VERSCHRÄNKUNG VON GLÜCK UND ARBEIT
LÄSST UNTERM DRUCK DER GESELLSCHAFT
EIGENTLICHE ERFAHRUNG NOCH OFFEN.

Dennoch finde ich eine These, die ich nicht einfach als „unverständlich“ abtun möchte, sondern die mich berührt und zum Nachdenken anregt:

PHILOSOPHIE, WIE SIE IM ANGESICHT DER VERZWEIFLUNG
EINZIG NOCH ZU VERANTWORTEN IST,
WÄRE DER VERSUCH, ALLE DINGE SO ZU BETRACHTEN,
WIE SIE VOM STANDPUNKT DER ERLÖSUNG AUS SICH DARSTELLTEN.

Gilt das nicht auch für die Psychologie und insbesondere für die Psychotherapie?
Leider wurde hier sein für mich schönster Aphorismus aus „Minima Moralia“ nicht vere-wigt, den sicher die meisten Menschen verstehen und die wenigsten erfahren und leben können:

GELIEBT WIRST DU EINZIG,
WO DU SCHWACH DICH ZEIGEN DARFST,
OHNE STÄRKE ZU PROVOZIEREN.

Damit wird er in unseren Herzen, die damals zu dieser Liebe nicht fähig waren, weiterleben.

+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++

Der Autor

DinslageAxel Dinslage, Jahrgang 1947, lebt mit seiner Familie in Bad Vilbel
und arbeitet bis auf Weiteres als Psychologischer Psychotherapeut in Frankfurt.

Bild: privat

 

 

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2 Kommentare zu “Wenn Ihr uns die Uni nehmt, nehmen wir Euch das Theater!

  1. Zur Ergänzung meines Berichtes fiel mir jetzt bei Durchsicht meines Tagebuches ein Brief an einen Freund vom 14.04.68 (drei Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke) in die Hand. Hier fand ich noch weitere Informationen zur Springer-Blockade, mit der die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindert werden sollte:
    „Um 17 Uhr trifft sich alles an der Uni, und wir brechen um 16 Uhr auf, da ich mich noch umziehen möchte, denn nicht alle meine Kleidung ist für Wasserwerfer geeignet. So gehe ich kurz vor 17 Uhr in Jeans und Lederjacke mit B. zur Uni, wo sich ca. 2000 Studenten versammelten. Die Vorsitzenden des SDS erklären uns in einem Teach-in genau, wie die Demonstration und die Verbarrikadierung der Tore der Springerdruckerei vor sich gehen soll. Dann geht es los. 2000 sperren den Verkehr und ziehen in einem Zug durch die Frankfurter City. Randalierer, die sich dazwischenmischen, versauen vieles, indem sie unter anderem einen Straßenbahnwagen abhängen und die Bahn zunächst ohne ihn weiterfährt, bis der Fahrer es merkt. Einem schimpfenden Fahrer wird ein Flugblatt vor die Windschutzscheibe geklemmt: `Mordanschlag auf Rudi Dutschke – Springer = Mörder etc.´ Es werden wirklich unsinnige Parolen gerufen, die zwar mit Vietnam, nicht aber mit Springer zu tun haben. Ich habe ein unwohles Gefühl. Es riecht nach Bürgerkrieg. Bohlen, Bretter und riesige Balken werden von Baustellen mitgenommen, um damit die Ausfahrten sperren zu können. Viele der Studenten kommen schon mit bewährten Lack- und Nylonmänteln sowie Schutzhelmen, gegen die ein Gummiknüppel wohl nichts vermag. An der Societätsdruckerei werden die Ausfahrten verbarrikadiert. Aufenthaltswagen des Straßenbaus werden umgekippt und vor die Tore geschleppt. Ganze alte Autos werden von den Studenten dafür auch zur Verfügung gestellt.
    Während G. immer vorn in der ersten Reihe die anderen anspornt, halte ich mich mit B. hinten, um sicher zu sein. Gegen 20 Uhr ist noch recht wenig Polizei zur Stelle. Die Arbeiter der Druckerei werden aufgefordert, sich mit uns gegen Springer zu solidarisieren, und die Gewerkschaften sichern ihnen Arbeitsplatz und volles Gehalt. Doch die Polizei hetzt sie gegen uns auf, so daß wir allein sind. SDS-Funktionäre fordern die Studenten zum Ausharren auf. Sie sollen die Ausfahrten bewachen und sich nicht verlaufen, auch wenn es die ganze Nacht andauern sollte. Doch viele lösen sich schon auf, da immer noch nichts passiert. Ich stehe mit B. hinten, möchte mitmachen bei der Verbarrikadierung, doch kann sie nicht allein lassen, zumal ich auch kaum zurück nach Hause finden würde, allein ohne Stadtplan. Sie ist wie ich müde und friert, und so gehen wir nach Hause.
    Ich muß noch erwähnen, daß B. einen Schüler ihrer früheren Schule dort traf, der in zwei Jahren sein Abi macht und wegen der Demonstration extra 60 km mit dem Zug gefahren ist, um dabei zu sein. B. sagt, er solle uns ruhig besuchen, wenn er keinen Zug mehr bekommt.
    Er kam dann tatsächlich mitten in der Nacht und mußte uns natürlich erzählen, was wir verpaßt hatten.
    So berichtete er: Gegen 23 Uhr fuhren die Wasserwerfer auf, und die Tore sollten freigeknüppelt werden. Jedoch nur mit geringem Erfolg. Als einzige Wagen werden zwei Krankenwagen durchgelassen, die Verletzte beförderten. Die beiden Vorsitzenden des SDS werden verhaftet. Dann wird versucht, die Springerwagen in einem richtigen Konvoi gewaltsam durchzubringen, doch die Studenten lassen die Luft aus den Reifen, so daß der Versuch scheitert. Fensterscheiben werden zerworfen. Dann meldet sich die FAZ, die auch dort gedruckt wird, und möchte passieren. Die Studenten stellen die Forderung, daß jedes Zeitungspaket auf Springerblätter untersucht werden soll. Die einzelnen Stöße sollen durch ein Fenster rausgereicht werden, um besser kontrollieren zu können. Da man darauf aber nicht eingeht, muß auch die FAZ drinnen bleiben, nicht zuletzt auch deshalb, da ein Student an einen ziemlich schmutzigen Artikel über Vietnam erinnert, den die FAZ neulich brachte.
    Erst gegen 2 Uhr gelingt es der Polizei, die inzwischen aus Darmstadt Verstärkung bekommen hatte, die Tore freizuknüppeln, so daß die BILD passieren kann. In der ganzen nächsten Woche soll die Boykottierung der Springerpresse weitergehen, was nötig ist, wenn wir nicht bald eine neue Diktatur haben wollen. Die Springerpresse ebnet durch eine alles gleichmachende Meinungsbildung den Boden dafür.
    Am Morgen frühstücken wir zu dritt, worauf wir den Jungen zum Bahnhof bringen. Wir kaufen die BILD-Zeitung und andere Springerblätter, die inzwischen doch erschienen sind, wie es imgrunde doch nicht zu verhindern war, und informieren uns über die Auslegung der Aktion…..“

    Axel Dinslage

  2. Zur Ergänzung meines Berichtes fiel mir jetzt bei Durchsicht meines Tagebuches ein Brief an einen Freund vom 14.04.68 (drei Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke) in die Hand. Hier fand ich noch weitere Informationen zur Springer-Blockade, mit der die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindert werden sollte:
    „Um 17 Uhr trifft sich alles an der Uni, und wir brechen um 16 Uhr auf, da ich mich noch umziehen möchte, denn nicht alle meine Kleidung ist für Wasserwerfer geeignet. So gehe ich kurz vor 17 Uhr in Jeans und Lederjacke mit B. zur Uni, wo sich ca. 2000 Studenten versammelten. Die Vorsitzenden des SDS erklären uns in einem Teach-in genau, wie die Demonstration und die Verbarrikadierung der Tore der Springerdruckerei vor sich gehen soll. Dann geht es los. 2000 sperren den Verkehr und ziehen in einem Zug durch die Frankfurter City. Randalierer, die sich dazwischenmischen, versauen vieles, indem sie unter anderem einen Straßenbahnwagen abhängen und die Bahn zunächst ohne ihn weiterfährt, bis der Fahrer es merkt. Einem schimpfenden Fahrer wird ein Flugblatt vor die Windschutzscheibe geklemmt: `Mordanschlag auf Rudi Dutschke – Springer = Mörder etc.´ Es werden wirklich unsinnige Parolen gerufen, die zwar mit Vietnam, nicht aber mit Springer zu tun haben. Ich habe ein unwohles Gefühl. Es riecht nach Bürgerkrieg. Bohlen, Bretter und riesige Balken werden von Baustellen mitgenommen, um damit die Ausfahrten sperren zu können. Viele der Studenten kommen schon mit bewährten Lack- und Nylonmänteln sowie Schutzhelmen, gegen die ein Gummiknüppel wohl nichts vermag. An der Societätsdruckerei werden die Ausfahrten verbarrikadiert. Aufenthaltswagen des Straßenbaus werden umgekippt und vor die Tore geschleppt. Ganze alte Autos werden von den Studenten dafür auch zur Verfügung gestellt.
    Während G. immer vorn in der ersten Reihe die anderen anspornt, halte ich mich mit B. hinten, um sicher zu sein. Gegen 20 Uhr ist noch recht wenig Polizei zur Stelle. Die Arbeiter der Druckerei werden aufgefordert, sich mit uns gegen Springer zu solidarisieren, und die Gewerkschaften sichern ihnen Arbeitsplatz und volles Gehalt. Doch die Polizei hetzt sie gegen uns auf, so daß wir allein sind. SDS-Funktionäre fordern die Studenten zum Ausharren auf. Sie sollen die Ausfahrten bewachen und sich nicht verlaufen, auch wenn es die ganze Nacht andauern sollte. Doch viele lösen sich schon auf, da immer noch nichts passiert. Ich stehe mit B. hinten, möchte mitmachen bei der Verbarrikadierung, doch kann sie nicht allein lassen, zumal ich auch kaum zurück nach Hause finden würde, allein ohne Stadtplan. Sie ist wie ich müde und friert, und so gehen wir nach Hause.
    Ich muß noch erwähnen, daß B. einen Schüler ihrer früheren Schule dort traf, der in zwei Jahren sein Abi macht und wegen der Demonstration extra 60 km mit dem Zug gefahren ist, um dabei zu sein. B. sagt, er solle uns ruhig besuchen, wenn er keinen Zug mehr bekommt.
    Er kam dann tatsächlich mitten in der Nacht und mußte uns natürlich erzählen, was wir verpaßt hatten.
    So berichtete er: Gegen 23 Uhr fuhren die Wasserwerfer auf, und die Tore sollten freigeknüppelt werden. Jedoch nur mit geringem Erfolg. Als einzige Wagen werden zwei Krankenwagen durchgelassen, die Verletzte beförderten. Die beiden Vorsitzenden der SDS werden verhaftet. Dann wird versucht, die Springerwagen in einem richtigen Konvoi gewaltsam durchzubringen, doch die Studenten lassen die Luft aus den Reifen, so daß der Versuch scheitert. Fensterscheiben werden zerworfen. Dann meldet sich die FAZ, die auch dort gedruckt wird, und möchte passieren. Die Studenten stellen die Forderung, daß jedes Zeitungspaket auf Springerblätter untersucht werden soll. Die einzelnen Stöße sollen durch ein Fenster rausgereicht werden, um besser kontrollieren zu können. Da man darauf aber nicht eingeht, muß auch die FAZ drinnen bleiben, nicht zuletzt auch deshalb, da ein Student an einen ziemlich schmutzigen Artikel über Vietnam erinnert, den die FAZ neulich brachte.
    Erst gegen 2 Uhr gelingt es der Polizei, die inzwischen aus Darmstadt Verstärkung bekommen hatte, die Tore freizuknüppeln, so daß die BILD passieren kann. In der ganzen nächsten Woche soll die Boykottierung der Springerpresse weitergehen, was nötig ist, wenn wir nicht bald eine neue Diktatur haben wollen. Die Springerpresse ebnet durch eine alles gleichmachende Meinungsbildung den Boden dafür.
    Am Morgen frühstücken wir zu dritt, worauf wir den Jungen zum Bahnhof bringen. Wir kaufen die BILD-Zeitung und andere Springerblätter, die inzwischen doch erschienen sind, wie es imgrunde doch nicht zu verhindern war, und informieren uns über die Auslegung der Aktion…..“

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