Lieder im Viervierteltakt weckten üble Erinnerungen
Von Norbert Bergmann
.
In den sechziger Jahren war ich, Jahrgang 1952, in der katholischen Jugendorganisation KJG aktiv tätig. Unser damaliger Kaplan, etwa 10 Jahre älter als ich, ist in den Sommerferien 1968 mit einer Gruppe von etwa 15 Jugendlichen, alle in den Geburtsjahrgängen 1950 bis 1953 nach Frankreich gefahren. Für die meisten von uns war dies die erste Auslandsreise des Lebens.
Im August 1968 waren wir in Paris, als im Straßenbild Zeitungen aufgetauchten, in denen in dicken Lettern „Prague“ zu lesen war und Bilder von Panzern zu sehen waren, die von Menschenmassen umringt waren. Nach dem ersten Jahr Französischunterricht hat sich mir der Inhalt der Meldungen nicht ganz erschlossen. Erst deutsche Touristen haben uns erklärt, dass die Russen in Prag einmarschiert waren und die dortige Regierung abgesetzt hatten, und dass die ganze Welt den Atem anhält, weil sich daraus der nächste Weltkrieg entwickeln könnte.
Auf der Weiterfahrt von Paris in die Bretagne haben wir im Zug gesungen. Einer von uns hatte eine Gitarre dabei, ein anderer eine Mundharmonika. Gerade als wir „Oh du schö-ö-ö-ner We-e-e-ster-wald“ gesungen haben ist ein Mann aufgesprungen, hat fürchterlich herumgebrüllt und hat uns angeschrien. Aus dem französischen Wortschwall habe ich nur zwei Wörter verstanden. Das eine war „allemand“, das andere war „guerre“. Nachdem Mitreisende ihn etwas beruhigt hatten, hat sich unser Kaplan zu ihm gesetzt und hat ein langes Gespräch mit ihm geführt.
Wie sich herausstellte, ist bei ihm durch unsere Lieder wieder die Erinnerung an die Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen während des zweiten Weltkrieges durchgebrochen. Außerdem erzählte er, dass er „der schwarzen Katze in die Augen geschaut hatte“.
Damit waren die Scheinhinrichtungen gemeint, mit denen die Wehrmacht die französische Zivilbevölkerung tyrannisiert hatte. Wenn jemand der schwarzen Katze in die Augen geschaut hat, dann war er an einen Baum gefesselt, stand ohne verbundene Augen vor einem Exekutionskommando und hat gesehen, wie die Soldaten auf Befehl eines Offiziers ihre Gewehre auf ihn gerichtet haben. Erst in letzter Sekunde wurde seine Erschießung abgeblasen.
Im weiteren Verlauf unserer Reise haben wir noch einige Franzosen getroffen, die der schwarzen Katze in die Augen geschaut hatten.
Durch diesen Vorfall im Zug sensibilisiert haben wir in Frankreich keine Lieder mehr gesungen, die im Vierviertel-Takt stehen und auf die man gut marschieren kann. Mit „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ im Walzerrhythmus oder „Blowing in the wind“ gab es keine Probleme.
Norbert Bergmann, Karlstein
+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++
Herr Bergmann berichtet wie er 1968 als Jugendlicher und Mitglied der katholischen Jugendorganisation KJG in Frankreich weilte. Dabei sangen die jugendlichen im Zug das Lied „Oh du schöner Westerwald“, was einen französischen Bürger in Rage brachte. Nachdem dieser sich beruhigt hatte, sprach der Jugendleiter, ein Kaplan, mit dem Herrn. Dieser machte klar, dass er sich durch die Lieder der Jugendlichen an die Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen während des 2. Weltkrieges erinnert fühlte, schreibt Herr Bergmann. Daraufhin verzichteten sie auf Lieder im 4/4 Takt zu denen man gut marschieren kann. Ich weiß nicht welches Liedgut aus dem Repertoire der KJG noch gesungen wurde. Am 4/4 Takt lag es aber wohl eher nicht, sondern an dem oben genannten Lied. Zumindest der gebildete Herr Kaplan hätte wissen müssen, dass die Wehrmacht zu diesem typischen deutschen Soldatenlied nicht nur durch Frankreich, sondern durch ganz Europa marschiert ist. Das scheint mir, wusste und weiß Herr Bergmann bis heute nicht. Ich weilte 1968 zufällig auch als Jugendlicher in Frankreich, nicht mit dem KJG, sondern mit einer Jugendgruppe der Naturfreunde Deutschlands. Unser Jugendleiter hätte uns dieses Lied dort und anderswo nie singen lassen und wäre selbst eingeschritten.