Was ist nur in die Türken gefahren? Vor wenigen Monaten erst bescherten sie ihrem „Kalifen“, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, und seiner AKP-Partei ein vorbildliches demokratisches Wahlergebnis, das ihm signalisierte: Du sollst nicht allein regieren; sonst drehst du noch durch. Er hätte sich einen Koalitionspartner für seine AKP suchen müssen. Oder die Opposition hätte sich zusammenraufen und eine Regierung gegen die AKP bilden können. Beides wäre, wie gesagt, vorbildlich demokratisch gewesen.

Da Erdogan aber lieber allein regieren wollte, gab es kürzlich Neuwahlen. Der Wahlkampf war begleitet von einer Wiederbelebung des Kriegs gegen die Kurden und offener Einschüchterung von unabhängigen Medien bis hin zur Schließung ganzer Zeitungsredaktionen – deutliche Signale dafür, wie es um das Verhältnis Erdogans zum Rechtsstaat bestellt ist. Und was passiert? Die Türken schenken ihm eine absolute Mehrheit! Belohnen ihn für seinen aggressiven Kurs und die diversen Rechtsbrüche, für seine Politik der massiven Einschüchterung. Damit könnten die türkischen Wählerinnen und Wähler der Demokratie in der Türkei den Todesstoß gegeben haben.

ErdoganDas türkische Wahlergebnis hat Auswirkungen über die Türkei hinaus. Es bestätigt den angehenden Autokraten Erdogan in der Meinung, auf dem richtigen Kurs zu sein, und dürfte so dazu beitragen, den Nahen Osten weiter zu destabilisieren. Erdogan definiert diese Weltregion als die Sphäre der türkischen — also seiner — Vorherrschaft. Er hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass er hier zu machen gedenkt, wonach ihm der Sinn steht. Zum Beispiel hat er ein Abkommen mit den Amerikanern geschlossen, um gemeinsam gegen den IS vorzugehen, und hat die Spielräume, die ihm so eröffnet wurden, dazu genutzt, Bomben auf die Kurden in Syrien zu werfen. Die sind zwar Partner der USA und die einzigen, die im Bodenkampf tatsächlich etwas gegen den IS ausrichten könnten. Erstarkende Kurden würden aber, so Erdogans Furcht, auch die in der Türkei lebenden Kurden in ihrem Unabhängigkeitsdrang bestärken. Zudem kungelt Erdogan mit den Terroristen vom IS, um den syrischen Diktator Assad weiter zu schwächen. Er spielt also ein doppeltes Spiel und verfolgt eigene Ziele, die nicht dazu angetan sind, zu baldigem Frieden zu führen. Die Flüchtlingsströme, die dieser Konflikt auslöst, sind ihm ebenfalls nützlich, denn sie zwingen insbesondere die deutsche Führung dazu, ihn als Partner auf Augenhöhe zu akzeptieren, damit er die Flüchtlinge im Land behält. Plötzlich erscheint ein EU-Beitritt der Türkei wieder möglich. Zugleich aber ist die Türkei auf dem Weg, ein autoritär regierter Staat zu werden, ähnlich wie Russland mit seiner „gelenkten Demokratie“. Erdogan dringt auf eine Verfassungsänderung.

Die Türken haben eine historische Chance vergeben, Erdogan mehr Demokratie beizubringen. Derzeit scheint die Demokratie zum Auslaufmodell zu werden. Die Türkei ist nicht das einzige europäische Land, in dem es eine deutliche Tendenz zum starken Mann gibt: Mitten in Europa wäre da noch Ungarn. Warum nur?

Ulrich Niewiem aus Pfungstadt meint:

„Nach dem Ergebnis dieser Wahl bin ich mir noch nicht ganz sicher, wen ich mehr bemitleiden soll. Die armen laizistisch denkenden Türken, die wieder in Richtung mittelalterlichem Kalifat unterwegs sind, oder mich selbst, der ich nicht mehr in dieses wunderschöne Land werde reisen können, da ich niemals dorthin reise, wo Religionsfaschisten das Sagen haben. Schade für mich, da ich in mindestens 15 Reisen in die Türkei dieses Land und die Menschen, wenn sie keine religiösen Eiferer waren, als sehr angenehm empfunden hatte.“

Harald Brecht aus Hofheim:

„Glückwunsch zu Ihrer politischen Karikatur in der FR vom 03.11.2015 (Erdogan auf einem Thron und Merkel als seine Schuhputzerin), sagen doch solche satirischen Werke mitunter mehr als alle klugen Leitartikel: Denn besser lässt sich die Würdelosigkeit nicht beschreiben, mit der sich unser politisches Spitzenpersonal derzeit Despoten andient.
Was den türkischen Staatspräsidenten anbetrifft, darf man getrost davon ausgehen, dass die syrischen Flüchtlinge für ihn keine Menschen sind, die der Hilfe bedürfen, sondern lediglich Manövriermasse, mit der langfristige politische Ziele verfolgt werden sollen. Deswegen ist der von ihm vorgeschlagene Deal, die Flüchtlinge in seinem Land zu behalten und dafür unter anderem Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger in der EU zu erlangen, mehr als durchsichtig; denn als oberster Repräsentant der konservativ-islamischen Kräfte in der Türkei sind ihm einige markante historische Daten wie 1453 (Eroberung des christlichen Byzanz durch die Türken) und 1683 (zweite Belagerung Wiens durch die Türken) durchaus geläufig. Und man könnte es ja ein weiteres Mal versuchen – diesmal mit sanfteren Mitteln. Dem gegenüber gebührt der Aufnahme der syrischen Flüchtlinge allemal der Vorzug; denn von ihnen jedenfalls ist ein Grundgefühl an Dankbarkeit zu erwarten, weil sie endlich in Frieden und Sicherheit leben zu können.
Leider legt Ihre Karikatur noch eine andere Assoziation nahe: Wenn man sich auf dem Thron sitzend Adolf Hitler vorstellt und an Stelle von Frau Merkel den damaligen britischen Premierminister Neville Chamberlain, dann wird ein bekanntes Muster erkennbar – nämlich wohin eine anbiedernde und opportunistische Politik führt. Um unser Land vor einer solchen Politik zu bewahren, sollte ein künftiger Bundeskanzler vielleicht doch eher Geschichte statt Physik studiert haben.“

Dirk Foerster aus Blomberg:

„Er hat es geschafft, dem Umbau des Staates in eine totale präsidiale Staatslenkung steht nichts mehr im Wege. Gleichschaltung der Justiz, der Presse und des Denkens, wobei letzteres noch nie gelungen ist. Erstaunlich, wie sich Europas Politiker in dieser Situation verhalten, es soll sogar noch Geld fließen, um die in Not geratenen muslimischen Brüder nach Europa zu verbringen. Wie passt das zusammen? Alles nur in eine Richtung von Ost nach West. Für „Ungläubige“ ist eine Berufsausübung in der Türkei kaum möglich. Was hat das mit Gleichheit, Freiheit und Ausgleich zu tun? Nichts!“

Dieter Murmann aus Dietzenbach:

„Die Erdogan-hörige Justiz in der Türkei hat jetzt, etwa zwei Jahre nach den mit brutaler Polizeigewalt niedergeknüppelt Gezi-Protesten, das Urteil gegen 244 Demonstranten gesprochen. Dabei wurden auch Ärzte verurteilt, die, gemäß ihrem hippokratischen Eid, Verletzte behandelt haben. Diese Politik zeigt eigentlich nur, dass die Türkei, zumindest unter einem Präsidenten Erdogan, noch weit von Europa entfernt ist. Dass jetzt die EU, mit Frau Merkel an der Spitze, diesen Präsidenten noch unterstützt, um die Flüchtlinge von Europa abzuhalten, wird sich noch bitter rächen.“

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5 Kommentare zu “Unterwegs in Richtung Kalifat

  1. zum Kommentar von Dieter Murmann:

    Wie Sie schreiben, wird sich die Wahlhilfe von Merkel für Erdogan noch bitter rächen, aber dann will es niemand vorher geahnt haben; das Geld für diesen Kuhhandel zwischen EU und Türkei wäre in Direkthilfe an die UN-Flüchtlingsorganisation oder Welthungerhilfe besser angelegt gewesen.

    Und mit einer Aufnahme der Türkei in die EU wird die EU ihr letztes Fünkchen an Glaubwürdigkeit aufgeben. Griechenland wird erpresst, um überhaupt Hilfe zu erhalten und gedemütigt, wie früher gegenüber eroberten Ländern, aber dem Nicht-EU-Mitglied Türkei wird das Geld nachgeschoben um eines faulen Handels willen, der von der Gegenseite nur Missbraucht wird.

    Wie in meinem Leserbrief vom 22.10.2012 erwähnt, könnte man ebenso Weißrussland in die EU aufnehmen.

  2. Die Wahlen in der Türkei bestätigen ein Phänomen, das leider immer wieder in der Geschichte der Völker zu beobachten ist: Menschen entscheiden sich mit deutlicher Mehrheit gegen ihre ureigensten Lebensinteressen. Sie votieren faktisch für Abhängigkeit und Fremdbestimmung, für politische und religiöse Indoktrination, sind aber der Meinung, sich exakt für das Gegenteil, nämlich für größtmögliche Freiheit und unbeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten, entschieden zu haben. Mutmaßlich sind sie manipuliert worden, aber zur Manipulation gehören zwei Seiten: die der Manipulatoren und die der Unkritischen.

    Jedenfalls entdecke ich Gemeinsamkeiten, wenn ich mir das gesellschaftliche Selbstverständnis einer Mehrheit im mittleren Westen der USA, dem so genannten Bibel-Belt, in Putins Russland, und zunehmend auch in Polen und anderen ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjet Union aus der Ferne ansehe. Offensichtlich spielt Religion eine Rolle oder ein übersteigertes Nationalbewusstsein, das ähnliche dogmatische Züge aufweist wie ein religiöser Glaube, manchmal mischen sich Religion und Nationalismus. Letzteres scheint mir besonders auf die Türkei zuzutreffen.

    Ich habe die Türkei nie besucht, weil ich in Deutschland und den westlichen Nachbarländern Reiseziele finde, die meinen Interessen mehr entsprechen. Aber ich hatte im Ruhrgebiet seit Mitte der 60er Jahre türkische Nachbarn. Sie waren von den Bergwerken und Hüttenbetrieben für eine begrenzte Zeit als Arbeiter angeworben worden. Doch die Mehrheit ist geblieben, hat ihre Familien nachgeholt. Wegen der mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse gab es im Alltag wenig Kontakte zu ihnen; die Gastarbeiter blieben weitgehend unter sich. Sie passten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an und übten sich in Unauffälligkeit. Die türkischen Frauen fielen im Straßenbild wegen ihrer bunteren Kleidung auf, Kopftücher, gar Schleier, waren damals extrem selten.

    Unstimmigkeiten, gar richtigen Ärger zwischen Deutschen und Türken gab es bei Tarifauseinandersetzungen, vor allem wenn diese zu Streiks führten. Die türkischen Arbeiter beteiligten sich überwiegend nicht daran, obwohl auch sie vielfach Mitglieder der IG Bergbau und der IG Metall waren. Ganz im Gegensatz zu den klassenbewussten Jugoslawen, Italienern, Spaniern und Portugiesen. Streik, so hatte es den Anschein, war nach türkischem Verständnis Auflehnung gegen die Obrigkeit. Und das schien verboten zu sein. Ob mehr aus religiösen Gründen oder mehr aus verinnerlichtem Untertanengeist, wurde nicht ganz klar, aber die Religion, der Islam, schien eine wichtige Rolle zu spielen.

    Es mag sein, dass sich im Lauf der 70er Jahre allmählich ein Bewusstsein als Arbeitnehmer herausgebildet hat. Ab 1973 war ich nicht mehr vor Ort und konnte die Entwicklung nicht mehr direkt beobachten. Aber wenn ich die aktuellen Vorgänge in Erdogans Türkei anhand der Berichterstattung verfolge, bin ich an das im Kern reaktionäre, gegen die eigenen Interessen gerichtete Verhalten einfacher Menschen, die kaum Vermögen und keine Privilegien besaßen, erinnert, das ich vor rund 50 Jahren in Deutschland miterlebt habe.

    Und so stimme ich Karl Marx‘ Einschätzung zu: „Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ (Aus „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, 1844).

  3. Ich war schon (geschäftlich) in der Türkei und ich habe einige türkische Kollegen bzw. Kolleginnen. Ich kann das Wahlergebnis trotzdem nicht erklären.
    An der Religion wird es aber wohl nicht liegen. Religiös bedingte Wahlergebnisse sind sehr stabil wie man bis vor 30 Jahren in Deutschland sehen konnte. Derartige Schwankungen wie jetzt in der Türkei gab es in den religiös geprägten (meist katholischen) Gegenden Deutschlands nicht.

  4. Erdogan dürfte seine beste Zeit hinter sich haben und ihm dürfte ziemlich die Düse gehen , sonst müsste er nicht dermaßen aggressiv gegen Oppositionelle vorgehen.

    Daß er dabei eine Mehrheit hinter sich schart , ist in Krisenzeiten nicht ungewöhnlich , gerade Teile des Mittelstands scharen sich dann gerne hinter einem starken(?) Anführer.
    Es ist wie bei uns nicht das türkische Volk als Ganzes, das gegen seine Interessen wählt , vielmehr dürften die Interessen – wie bei uns – innerhalb der Bevölkerung stark auseinanderlaufen.

    Meines Erachtens ein Pyrrhussieg , in Europa (und der Türkei?) stehen die Zeichen längst auf einen progressiven Sturm hin , die nationalkonservative Revolution , die Orban und Co im Kopf herumgeht , ist die letzte Radikalisierung und die Endstufe einer Entwicklung , wie wir sie während der letzten 25 , 30 Jahre hatten.

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