Sigmar Gabriel, Noch-Parteichef der SPD, hat einen Coup gelandet: Nicht er selbst wird der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten für die nächste Bundestagswahl, sondern der langjährige Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz. Seine Partei, zuerst geschockt, reagierte alsbald erleichtert und scheint sich nun sogar auf einen Wahlkampf zu freuen, der schlagartig nicht mehr aussichtslos zu sein scheint. Mit Sigmar Gabriel wäre es wohl schwierig geworden, aus dem 20-Prozent-Loch zu kommen, in dem die SPD in allen Umfragen derzeit vor sich hindümpelt. Mit Martin Schulz hingegen scheinen 30 Prozent drin zu sein, auch wenn noch kaum bekannt ist, wofür der Kandidat überhaupt steht. Doch Schulz hat seine Zeit als EU-Parlamentspräsident geschickt genutzt, um sich Ansehen bei den Deutschen zu verschaffen. Er ist deutlich beliebter als Gabriel, er ist ein zugkräftiger Kandidat. Und: Er ist kein Akademiker! Wenn dieses Detail mal nicht sogar ausschlaggebend war bei der Kandidatenkür …

Martin SchulzOhne Scherz: Ein Politiker mit Stallgeruch — Schulz stammt aus einer Bergmannsfamilie –, der die Basisarbeit kennt und Bürgermeister in Würselen war, einer Stadt bei Aachen in Grenznähe zu den Niederlanden und Belgien. Vorher war er Buchhändler. Typen wie ihn gibt es in der SPD kaum noch. Er spricht fließend Französisch, Englisch, Spanisch, Niederländisch, Italienisch und Klartext, wie es heißt. Das kann er ausgiebig beweisen. Der Unterschied zu Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die er im Wahlkampf bis zum Wahltag am 24. September 2017 herausfordern wird, könnte kaum größer sein. Merkel liebt Klartext nicht sonderlich. Dazu muss man sich festlegen. Man muss Haltung zeigen.

Wer sich festlegt, kann nur noch begrenzt flexibel agieren. Genau dies ist bisher Merkels Regierungsstil gewesen: flexibel agieren. Man könnte ihn auch als pragmatisch bezeichnen. So hat Merkel die CDU in die Mitte gerückt, was zur Folge hatte, dass rechts ein Vakuum entstand, in das die AfD vorrücken konnte, um sich zu etablieren. Diese Flexibilität bringt es allerdings für den politischen Gegner mit sich, dass Merkel schwer angreifbar ist. Martin Schulz wird das wissen. Er dürfte Angela Merkel von vielen Begegnungen auf der europäischen Bühne gut kennen. Er weiß aber auch, dass Merkel kaum für mehr steht als ein dürftiges „Weiter so“. An diesem Punkt ist sie selbstverständlich angreifbar. Stichwort Flüchtlingspolitik: Sie hat den Deutschen zwar Zuversicht und Selbstvertrauen gespendet, als sie ihr berühmtes „Wir schaffen das“ sagte. Jedoch hat sie hinterher kaum gesagt, wie wir das schaffen.

AfD hat insgeheim die Lufthoheit

Die Debatte über die Flüchtlingspolitik hätte vor allem eine über Integrationspolitik sein müssen, doch im Vordergrund stand die Sicherheitspolitik. Deutschland redet nicht über Sprachkurse, Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt oder über Wohnungen, sondern es redet über Videoüberwachung und Abschiebung. Diese Negativ-Debatte ist von Angst dominiert; die AfD hat insgeheim die Lufthoheit. Hier kann der SPD-Kandidat Schulz klare eigene Akzente setzen. Ein Deutschland unter einem Kanzler Schulz wäre möglicherweise in der Lage, einen europäischen Konsens in der Flüchtlingsfrage zustande zu bringen. Schulz besitzt die Fähigkeit zum Kompromiss. Kanzlerin Merkel hingegen setzte die Stärken Deutschlands auf europäischer Ebene ein, um ihre Standpunkte durchzudrücken — Stichwort Austeritätspolitik –, und darf sich kaum wundern, dass das deutsche Ansinnen auf Verständigung in der Flüchtlingsfrage bei den europäischen Partnern auf wenig Gegenliebe stieß.

Noch wissen wir nicht, welche Themen und Schwerpunkte auf der Agenda von Martin Schulz stehen. Er wäre meines Erachtens gut beraten, wenn er die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rücken würde. Welcher SPD-Politiker könnte das glaubwürdig wagen, wenn nicht er? Mit der Agenda-2010-Politik der Schröder-Fischer-Ära hat er nichts zu tun. Er war seit 1994 EU-Parlamentarier, er ist unbelastet. Vielleicht ist das einer der Hintergedanken des Noch-SPD-Vorsitzenden Gabriel? Deutschland erwirtschaftet derzeit Steuerüberschüsse. Warum sollte damit nicht etwas gegen die immer weiter aufgehende Schere zwischen Arm und Reich unternommen werden? Die Hartz-Gesetze bedürfen zweifellos einer Reform. Das zeigt allein schon die hohe Zahl der Widersprüche und Prozesse wegen Hartz-Problemen, unter denen deutsche Gerichte derzeit ächzen. Kanzlerin Merkel scheint die wachsende Armut in Deutschland recht egal zu sein, sie zeigt sich gern auf Kongressen der Wirtschaftsverbände. Auch hier bietet sie Angriffsfläche — jedoch nur für einen Konkurrenten, der glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit eintritt. Kann Martin Schulz das? Wir werden es erfahren.

Die SPD will ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf ziehen. Das bedeutet wohl, dass sie die eigene Programmatik in den Vordergrund stellen wird, um für eigene Mehrheiten zu kämpfen. Eine Debatte über einen Lagerwahlkampf will sie sich nicht aufzwingen lassen. Hier werden CDU und CSU versuchen, sie zu packen, aber der Kandidat kann immer darauf hinweisen, dass die SPD nach der Wahl 2013 durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, eine Mehrheit jenseits der Konservativen auf die Beine zu stellen. Sie hat es nicht getan. Angela Merkel hat die SPD dann mit vielen Zugeständnissen in eine große Koalition gelockt, in der die SPD sozialdemokratische Politik machen konnte; doch Merkel hat Erfahrungen mit solchen Koalitionen und wusste vermutlich schon damals, dass die Wählerinnen und Wähler diese Fortschritte nicht der SPD anrechnen würden, sondern ihr, der Kanzlerin, mit ihrem Amtsbonus.

Zahlenspiele

Martin Schulz ist also gut beraten, ein Wahlergebnis anzustreben, das nicht erneut in eine große Koalition mündet. Dafür wird er kämpfen müssen. Zurzeit stehen die politischen Lager ungefähr gleichauf. Eine aktuelle Allensbach-Umfrage sieht die SPD bei 23 Prozent — ob da schon ein Schulz-Effekt zu erkennen sein soll, ist mir nicht bekannt –, die Grünen bei 9 und die Linke bei 9,5 Prozent, was zusammen 41,5 Prozent ergibt. CDU/CSU und FDP kommen zusammen auf 43 Prozent, wobei die Umfragen die FDP derzeit alle im Bundestag sehen; nur eine etwas ältere Umfrage von Infratest/dimap sieht die FDP noch bei lediglich 5 Prozent, den Einzug in den Bundestag damit auf der Kippe. Der nächste ARD-Deutschlandtrend wird womöglich interessante Zahlen liefern. Schwarz-Grün liegt in der Allensbach-Umfrage übrigens bei 45 Prozent. (Eine Übersicht über die aktuellen Umfragen gibt es auf der Seite wahlrecht.de.)

Beide Lager sind nach diesen Zahlen weit von einer Regierungsmehrheit entfernt. Das liegt an der AfD, die laut Allensbach derzeit bei 11,5 Prozent liegt. Ironie der Geschichte: Gerade die AfD mit ihrer „Merkel muss weg“-Rhetorik könnte dafür verantwortlich werden, dass wir eine vierte Legislaturperiode mit Merkel bekommen — sei es mit Schwarz-Grün, Schwarz-Grün-Gelb oder eben doch Schwarz-Rot. Nicht vergessen: Merkel ist flexibel. Sie ist kein leichter Gegner, man sollte sie nicht unterschätzen. Umgekehrt aber dürfte Martin Schulz für Merkel ein deutlich schwererer Gegner sein, als es Sigmar Gabriel jemals gewesen wäre.

Update: Ein plus von drei Prozent auf 24 Prozent, das dem Kandidaten Schulz zuzuschreiben sei, wird der SPD vom ZDF-Politbarometer zugeschrieben. Auch der Deutschlandtrend misst ein Plus von drei Prozent.

Nachbemerkung: Diese Diskussion wird hier am 27. Januar 2017 eröffnet, obwohl hierzu im Print-Leserforum noch keine Leserbriefe erschienen sind. Für Letzteres gibt es einen Grund: Alle drei Leserbriefe — siehe unten — stammen von fleißigen Leserbriefautoren, die mehrfach pro Woche Leserbriefe schicken. Wir haben im Print-Leserforum jedoch die Regel, dass pro Autor eine Veröffentlichung wöchentlich möglich ist. Alle drei Autoren waren aber am Montag dieser Woche, dem 23.1., bereits veröffentlicht und können daher frühestens am Montag, 30.1., erneut veröffentlicht werden. Das heißt, dass diese drei Leserbriefe also am kommenden Montag im Print-Leserforum erscheinen werden. Im FR-Blog bin ich an diese Regel nicht gebunden. Es ist allerdings ein wenig sonderbar, dass sich bisher nur so wenige LeserInnen zu diesem Thema geäußert haben.

fr-balkenLeserbriefe

Manfred Kirsch aus Neuwied:

„Man kann sicherlich aus gutem Grunde viel Kritik von links an Sigmar Gabriel üben. Aber seine jetzige Entscheidung zugunsten von Martin Schulz auf Kanzlerkandidatur und SPD-Parteivorsitz zu verzichten nötigt Respekt ab. In einer Zeit, in der die Umfragewerte für die Sozialdemokraten immer schlechter werden und in der Tabubrüche und offene Gewalt von Rechts sich häufen, könnte auch die Nominierung des ausgewiesenen Verfechters der europäischen Idee ein klares Signal gegen die Rechte sein. Doch es wird darauf ankommen, ob Schulz als Identitätsmerkmal der klassischen Sozialdemokratie innerhalb und außerhalb der Partei wahrgenommen und anerkannt wird. Und hier muss neben dem längst überfälligen Bruch mit der verhängnisvollen Agenda 2010 Gerhard Schröders eine menschenfreundliche Flüchtlingspolitik sowie eine Umverteilung von oben nach unten im Mittelpunkt eines fortschrittlichen Politikentwurfs stehen. Martin Schulz wird mit einer deutlichen Absage an große Koalitionen sowie durch die Rückbesinnung auf die Tugenden Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wieder Glaubwürdigkeit für die SPD zurückgewinnen müssen. Gerade für die Programmpartei SPD werden natürlich die Inhalte wichtiger als jede Personalie sein. Schulz wird daher auch einen Beitrag zur Zurückgewinnung der Attraktivität der SPD als diskussionsfreudige, streitende Partei der Freiheit des Geistes leisten müssen. Ohne Vorschusslorbeeren verteilen zu wollen steht doch jetzt schon fest, dass Martin Schulz engagiert gegen Bestrebungen zur Rückkehr zu nationalstaatlichem Denken sowie zur Diskriminierung von Minderheiten stehen wird. Die demokratische Linke sollte ihm und der SPD eine Chance zur Konsolidierung der Partei geben. Übrigens steht nirgendwo geschrieben, dass Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz in einer Hand konzentriert sein müssen.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

„Martin Schulz war so lange im Europa-“Geschäft“, dass man jetzt unmöglich von ihm verlangen kann, mit sofortiger Wirkung die gesamte deutsche Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik abdecken zu können. Schulz findet aber in den „Denktanks“ der SPD mehr oder weniger für den Abruf bereite Akzentsetzungen vor, um durch Prioritätenzuweisung den Takt für den Bundestagswahlkampf anzugeben.
So wichtig natürlich auch in der deutschen Politik die „richtigen“ Persönlichkeiten für den politischen Erfolg sind (in den USA hat dies noch eine ganz andere Bedeutung), umso wichtiger sind aber nach wie vor zielsichere, transparente und nicht von Wortfahnen durchwehte Parteiprogramme. Diese müssen realistisch und finanzierbar sein und – das Entscheidende – wirtschaftliches Wachstum und eine gute Beschäftigungslage verheißen. Das Hauptproblem der SPD ist nach wie vor ihr wirtschaftspolitisches Defizit. Es ist bisher nicht gelungen, nach dem Ende der neoliberalen Ära ein Alternativmodell wirtschaftlichen Wachstums zu entwerfen, das nicht – wie immer wieder leider durch die Börse veranschaulicht wird – aus Renditegründen zu massenhaftem Abbau von Arbeitsplätzen führt, ohne dass sichergestellt wird, dass die freigesetzten Arbeitnehmer angemessene Chancen zur Wiederbeschäftigung erhalten. Mit anderen Worten: Scheitern Kapitalunternehmen, dann tragen die Kosten zunächst einmal eher die Beschäftigten, als das Kapital selbst.
Die SPD müsste deshalb auf breiter Front den Genossenschaftsgedanken wieder beleben. Dieser hatte seine Blühte im 19. Jahrhundert und lebt auch heute noch, z.B. in den Volksbanken und Raiffeisen-Genossenschaften. Wie die Notwendigkeit des Setzens ökologischer Schranken zeigt, reicht es auch für liberale Wirtschaftsdenker heute nicht mehr aus, den Staat per se zu perhorreszieren, also möglichst aus dem Wirtschaftsleben ganz fern zu halten. Bei Investitionen in die Zukunft muss vielmehr der Staat zusammen mit der Wirtschaft seinen eigenen Beitrag leisten.“

Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:

„Die SPD hatte sich unter Gerhard Schröder mit den Feinden des Sozialstaats eingelassen und dadurch bei ihren traditionellen Wählern die Glaubwürdigkeit verloren. Vermag Martin Schulz die Sozialdemokraten aus dieser selbst verursachten Serie von Plagen und Pleiten zu befreien?
Frank Walter Steinmeier, der Diplomat und Strippenzieher, vermochte es nicht; Peer Steinbrück, der Finanzexperte, unterlag vier Jahre später ebenfalls. Denn das jeweilige Wahlprogramm erwies sich zu offensichtlich als Wein aus den Missernten der Agenda-Jahre, der in den lediglich umetikettierten Flaschen von 2009 und 2013 auch nicht besser geworden war. Vermutlich wäre Sigmar Gabriel im September 2017 ähnlich gescheitert. Er entzog sich der Fortsetzung dieses Hasardeurspiels, indem er den Doppel-Joker Martin Schulz medienwirksam und zur Überraschung der eigenen Partei aus dem Ärmel schüttelte.
Der ehemalige Präsident des EU-Parlaments ist sicherlich kein politisches Leichtgewicht. Seine vielgerühmten klaren, weil entlarvenden Worte, insbesondere gegen die Neo-Rassisten von AfD bis Front National, habe ich jedoch bei TTIP und CETA vermisst. Auch als die EU-Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska 2016 die so genannte „Sharing Economy“ im EU-Recht verankern wollte, war seine kritische Stimme nicht zu hören. Waren ihm die Arbeitssklaven des Uber-Fahrdienstes gleichgültig? Oder die Unterlaufung der Wohnungsinfrastruktur in Großstädten durch den Maklerdienst Airbnb? Hat Martin Schulz den Niedrigsteuerländern Luxemburg, Irland und den Niederlanden den Marsch geblasen? Die Fanfare ist jedenfalls nicht bis zu mir gedrungen. Hat er erfolgreich Maßnahmen des EU-Parlaments gegen die Datensammler Facebook und Google initiiert? Ich finde keine entsprechenden Meldungen dazu in den Medien.
Jahre zuvor hatte der Buchhändler Schulz bei der Klärung urheberrechtlicher Ansprüche zwischen Autoren und Verlagen anscheinend sogar geschlafen. Nämlich bei der „Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“. Denn in dieser Richtlinie, die mittlerweile auch in Deutschland in nationales Recht umgesetzt wurde, hatte man die Verlage als wichtigen publizierenden Faktor völlig vergessen. Jetzt ringen viele kleinere und mittlere Unternehmen in Deutschland ums Überleben, weil sie Tantiemen aus der Zweitverwertung an die „Verwertungsgesellschaft Wort“ zu Gunsten der Autoren (die das vielfach gar nicht wollen) zurückzahlen müssen.
Die Fragen, denen er sich als SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat gegenübersieht, werden sich als mindestens so grundsätzlich erweisen wie die, denen er als Parlamentspräsident eher ausgewichen ist. Denn in diesem Amt verstand er sich zu häufig als Mittler einer Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten.
Gelingt es ihm, jene mindestens 15 Prozent der Wähler zurückzuholen, die sich hierzulande von der SPD hintergangen fühlen? Ist er willens und in der Lage, diese Partei wieder zu einer zu machen, welche die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahne schreibt und diese Forderung auch umsetzt?
Dazu wäre es notwendig, das Schrödersche Küchenkabinett einschließlich seiner Sympathisanten (Seeheimer Kreis, rechter Gewerkschaftsflügel) öffentlich zu brandmarken, aus allen Funktionen zu entfernen und dadurch eine inhaltliche Kehrtwende einzuleiten. Denn die Aufgaben sind immens: Ende der Deregulierung; Re-Verstaatlichung der Deutschen Post und Abschied von einer Privatisierung der Deutschen Bahn; Einführung einer Bürgerversicherung und parallel dazu einer Gesundheitsreform; Stabilisierung der staatlichen Rente ohne Geschenke an die Versicherungswirtschaft (Privatvorsorge); Paradigmenwechsel in der Wohnungspolitik, die Grund und Boden nicht länger als Objekte wirtschaftlichen Handelns begreift; Start einer nachhaltigen Klimapolitik als Neubesinnung in Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Energiegewinnung; Einführung einer neuen Steuern- und Abgabenpolitik, die sich an der Vermeidung wirtschaftlicher Macht und Ressourcenverschwendung und der Stärkung des Staats orientiert; Hinwendung zu einer Bildungskultur statt einer egozentrischen Karriereplanung; Definition der Bundesrepublik Deutschland als säkularem Staat.
Allein dazu bedarf es der Beharrlichkeit eines Gorbatschow, dem Elan eines Obama und der List eines Bismarck. Aber falls Martin Schulz sich das zutraut, sollte man ihn lassen. Und möglicherweise erwiese sich auf diesem Weg ein Außenminister Sigmar Gabriel als optimale Ergänzung. Denn der wäre verwegen genug, um Donald Trump zumindest mit rhetorischen Colts gegenüber zu treten und auf Augenhöhe zu verhandeln. Immerhin hat er beim neuesten Politpoker völlig unvermutet ein Ass aus dem Ärmel gezogen: Martin Schulz.“

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90 Kommentare zu “Kandidat Schulz

  1. „Klärung urheberrechtlicher Ansprüche zwischen Autoren und Verlagen“

    Kann es nicht auch sein, dass diese Regelung in dieser Formulierung Absicht war?
    Warum sollten die Verlage aus der Verwertung durch die VG Wort Anteile erhalten? Die Tantiemen stehen den Autoren zu.
    Dass jetzt manche Autoren „verzichten“, kann man so oder so sehen. War diese Aussage freiwillig oder auf Druck?
    Die Lobbys arbeiten ja schon daran, eine Änderung im deutschen Recht durchzupeitschen.

  2. Wenn das Thema „Tantiemen“ als sein Versäumnis dargestellt wird, halte ich den Kommentar für gerechtfertigt. Ich hoffe eben gerade nicht, dass er „geschlafen“ hat bei diesem Thema, sondern sich berechtigterweise auf die Seite der Autoren geschlagen hat.

  3. Ich bin mal gespannt, ob der Politiker Schulz mit Stallgeruch (Bergmannsfamilie, Buchhändler, Basisarbeit) zeigen wird, ob er innenpolitisch die soziale Frage auf seinem Schirm hat und mit dazu beitragen kann, diesen unsäglichen neoliberalen Ballast der Agenda-2010 abzuwerfen. Da will ich nicht so recht dran glauben. Die aus ehemals einfachen Verhältnissen kommenden Sozialdemokraten haben es im Lauf der Zeit nicht so mit dem Klassenbewusstsein. Sie steigen gesellschaftlich schon gerne auf und sind dann sehr anpassungsfähig, wenn sie in den oberen Regionen angekommen sind. Genügend bekannte Beispiele dafür haben wir derer genug.
    Dagegen müssen wir uns bei der Europa-Frage bei Martin Schulz weniger Sorgen machen.

  4. Ergänzen möchte ich noch, das ein dicker Kumpel von Schulz, nämlich Jean-Claude Juncker, als langjähriger Regierungschef Luxemburgs für den Ausbau des Landes zur Finanzoase verantwortlich ist. Ist Schulz dagegen eingeschritten? Oder zum Ausbau Irlands zum Steuerparadies für Konzerne?

    Weiter: Schulz hat doch immer den neoliberalen Merkel-Kurs mitgemacht. Er hat sich nie gegen die Agenda 2010, den Aufbau eines Niedriglohnsektors und den neoliberal bestimmten Lissabon-Prozess der EU gewehrt. Als Präsident des EU-Parlaments hätte er, als wirklich zu erkennender Sozialdemokrat, auf die Barrikaden gehen müssen, als demokratische Entscheidungen in Griechenland durch Brüssel und Berliner Entschlüsse (und durch Schäubles Spleen mit seiner „schwarzen Null“) mit Füßen getreten wurden.

    Er hat die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staats-Schuldenkrise mitgemacht. Wenn er jetzt plötzlich das Thema „soziale Gerechtigkeit“ neu entdeckt – wo war dann zu seiner Präsidenten-Amtszeit sein KÄmpfen für die Sozialstaatlichkeit Europas?

    Hat er sich eingesetztfür eine Teilhabe der EU-Länder am Produktionsprozess, einer Annäherung der Lohnstückkosten und der Wettbewerbsfähigkeit speziell im Euro-Raum, Voraussetzungen für eine europäische Einigung? Ich habe nichts darüber gehört!

    Schulz hat sich hervorgetan durch herbe und dummdreiste Sprüche gegen Rußland und Putin, meist in Talkshows. Paßt das zu einer sozialdemokratischen Entspannungspolitik?

    Ja, Schulz wirkt anders als der oft poltrige Gabriel, geschmeidiger, konzilianter. Aber hier einen neuen Willy Brandt zu vermuten, wäre doch zu weit hergeholt. Und alle in der SPD, welche sich noch einen Funken sozialdemokratisches Gewissen und historische Verantwortung bewahrt haben, sind entweder abgetaucht, nicht mehr relevant oder haben, so noch in der Partei, resigniert.

    Ob der „neue Besen“ Schulz also, wie die Hoffnung mancher ist, die SPD über die 30%-Hürde hievt, bezweifle ich sehr. Da macht eine Schwalbe noch keinen sozialdemokratischen Sommer. Und mit wem soll er denn koalieren, mit welchem glaubhaften und umzusetenden Programm?

    Er könnte ja schon einmal ein Beispiel liefern, indem er Sozialministerin Nahles dazu bringt, endlich ihre Kraft in die Stärkung der gesetzlichen Rente (Österreich läßt grüßen) zu setzen und nicht weiterhin öffentliches Geld in staatlich geförderte betriebliche Altersvorsorge und andere kranke RIESTER-Verträge zu stecken.

    Natürlich gibt es nach wie vor Träume von R2G. Mit wem denn, mit einem Transatlantiker wie Özdemir, und einigen sich verbiegenden Linken wie Kipping?

  5. Leider kann ich mich der Begeisterung meiner Parteifreunde für Martin Schulz nicht anschließen.

    Bereits in meinem Leserbrief in der FR vom 12.04.2014 habe ich auf der einen Seite auf diverse Postenschachereien um die Spitzenpositionen in der EU hingewiesen, andererseits habe ich meine Besorgnis bekundet, dass von Martin Schulz zwar viele allgemeine Äußerungen zu hören sind, aber wenige konkrete Probleme angesprochen werden.

    Dies hat sich auch in der Folgezeit fortgesetzt, wobei er vor allem die Große Koalition im Europaparlament gepflegt hat, aber weder von der unmenschlichen Austeritätspoltik gegenüber den südeuropäischen Ländern, vor allem Griechenland, noch von den undemokratischen und arbeitnehmerfeindlichen Freihandelsabkommen Ceta, TTIP oder TiSA Abstand genommen hat.

    Vielmehr wurde die Postenschieberei, wie das „Geheimpapier zur Präsidentenwahl“ belegt, zwischen Schulz und dem Fraktionsvorsitzenden der EVP, Weber,fortgesetzt, in puncto Freihandelsabkommen hat er Diskussionen in den zuständigen Aussschüssen und im Plenum des EU-Parlaments verhindert, um das von seinem Förderer Gabriel heiß begehrte Ceta durchzudrücken, und bezüglich der Lux-Leaks und Panama-Papiere erfolgreich eine Befragung von Kommissionspräsident Juncker und Eurogruppenchef Dijsselbloem verhindert.

    Aufgrund dieser Vorgeschichte dürfte für die kommende Wahlperiode im Bundestag von ihm kaum eine Abkehr von der seitherigen Schmusepolitik gegenüber Merkel zu erwarten sein, womit der Abwärtstrend der Partei sich unweigerlich fortsetzen wird.

  6. Was Klaus Philipp Mertens sehen will, von Martin Schulz und der SPD und als zukünftige Aufgaben bezeichnet, muss ja nicht mit meinen Vorstellungen übereinstimmen.
    Zuerst einmal muss es nicht unbedingt die SPD sein, die den Bundeskanzler stellt. Das sage ich als Merkel Versteher. Meine Vorstellungen aber an eine neue Regierung sind folgende :

    Ein Antipode zur neuen amerikanischen Regierung von Donald Trump sollte es sein, mit Sympathie anstelle von Skeptizismus zu Europa. Mit Zurückhaltung bei militärischen Manövern der Nato, wie 2003 im Irak, mit keinem neuen Selbstmordversuch Deutschlands (wie in der Flüchtlingspolitik geschehen) Mit Cannabis Legalisierung in einem Versuchs Modell, mit dem bedingungslosen Grundeinkommen als Forschungprojekt.
    Es gibt bestimmt noch viele weitere Projekte, für die neue Regierung im Herbst.
    Klaus Philipp Mertens hat bereits Aufgaben genannt für Martin Schulz, wie auch immer die Wahl ausgehen wird. Ob Martin Schulz dahingehend überzeugen kann, werden die Monate bis zur Wahl zeigen.

  7. Zunächst meinen Dank an Herrn Mertens für die kritischen Anmerkungen, hatte ich in meinem Posting vergessen.

    Und zu Herrn Vollmershausen: Auch bei Ihnen finde ich interessante Ansatzpunkte, wie der Cannabis-Legalisierung (wohl hinsichtlich Medikament,z.B. in der Schmerz-Therapie), oder dem BGE, dem Grundeinkommen, der Zurückhaltung bezüglich NATO-Abenteuern, egal, ob in Mali (hoffentlich kein zweites Afghanistan) oder gegenüber Rußland.

    Es geht derzeit in Politik und Gesellschaft recht trubelig zu, quer durch die Parteien. Ich wünsche mir vor einer „neuen“ SPD vor allem, das sie sich rückbesinnt, auf die alten, sozialdemokratischen Werte, wie Gerechtigkeit, Abbau der immmer weiter wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, Steuergerechtigkeit, Entzug der Privilegien für Konzerne, Reiche und Mächtige, und Abbau der Lobby(isten) und vieles, was mir gerade noch einfällt. Mit einer solchen SPD könnte ich mir dann auch eine Koalition vorstellen, und womöglich auch, dort wieder mein Kreuzchen zu machen. SPD war schließlich die erste Partei, in die ich, 1969, wg. Willy, eingetreten bin.

    Aber sollten Schulz und seine Partei die Kurve nicht bekommen, erhalten wir 2021 spätestens eine Kanzlerin Petry, so wie jetzt in den USA Herrn Donald Trump.

  8. Martin Schulz hat zuerst einmal das Plus das er nichts mit der Agenda 2010 zu tun hat. Den Rest wird man sehen. Frau Merkel scheint aber nicht mehr so unangreifbar wie vor 4 Jahren. Es wird aber nicht einfach.

  9. @ jhs
    Wieso war die Aufnahme der Flüchtlinge ein „Selbstmordversuch“ Deutschlands?

    Es war ja auch nur ein Versuch sich das Leben zu nehmen und der ist überstanden.
    Deutschland bringt sich um, damit es nicht in der Nato mitkämpfen muss.
    Ich darf nicht andere Länder angreifen, ich darf nicht gegen Minderheiten vorgehen.
    Ich soll Frieden mit meinen Nachbarn halten. Ich darf nie wieder Krieg führen.

    Ich darf aber Hand an mich legen,das geschieht indem Deutschland anderen Erdteilen Haus und Tür öffnet. Statt Soldaten und Material zu stellen, eben ein kollektiver Selbstmord.
    Deutschland hat sich verändert seit den Exzessen im vergangenen Jahrhundert.
    nicht kämpfen, das ist unser Grundgesetz nach dem Weltkrieg.

  10. @jhs II

    Selbstmorde unter Staaten sind an der Tagesordnung im Moment.
    Der arabische Frühling war ein Selbstmordversuch, weil dabei
    christliche Werte in muslimischen Ländern in Ägypten, Libyen, Syrien, Irak zu etablieren versucht wurde . Wir machen das in Deutschland umgekehrt, weil wir versuchen, mit den Flüchtlingen islamische Werte in einem christlichen Land zu etablieren.
    Das trifft natürlich auch auf Widerstand im Land. Das kann ich sogar verstehen.
    Wie der Moslem von unseren Werten nichts wissen will,
    will ein Teil der Deutschen nichts vom Islam und seinen Gläubigen wissen.
    Deswegen sage ich da überspitzt „Selbstmord“ dazu.

  11. Q Henning Flessner: Wette angenommen, aber bitteschön auch begründen, warum Sie dagegen wetten. Außerdem, ich trinke lieber einen Chateau-Neuf-du-Pape, oder einen ganz normalen Cotes du Rhone, ggf. auch Villages. Vielleicht könnten wir uns eher auf eines dieser Gewächse einigen? Nebenbei – ganz schön abgehoben, aber so sind wir Linken nun mal. Philosophieren gelingt halt am besten mit einem guten Roten – und was dann für grandiose Ideen entsprießen…

  12. @ jhs, Stefan Vollmershausen

    Diese Thesen sind mehr als diskussionswürdig. Trotzdem möchte ich Sie bitten, sie hier nicht weiter zu verfolgen. Ich habe die Frage von jhs zugelassen, Herr Vollmershausen hatte Gelegenheit zu antworten und seinen Gedankengang zu erklären, und damit soll es hier gut sein. Bitte kehren Sie zum Thema zurück: Martin Schulz ist Spitzenkandidat der SPD für die kommende Bundestagswahl.

  13. Fragen an Martin Schulz, die wahrscheinlich in den nächsten Monaten beantwortet werden

    Wie steht denn Martin Schulz, der neue Kanzlerkandidat, zur Bundeswehr und ihren Missionen ?
    Ist denn dabei außen und verteidigungspolitisch überhaupt Handlungsspielraum für die SPD,
    in einer möglichen Koalition mit den Linken und den Grünen ?
    Wie will die SPD, in einer möglichen Regierungsführung, sich zum Terrorismus positionieren ?
    Wie steht die SPD zu einem Einsatz der Bundeswehr im Innern ?
    Ich meine, soweit ist Martin Schulz noch ein unbeschriebenes Blatt

  14. Morgen wird Martin Schulz bei Anne Will seine Vorstellungen als Kanzlerkandidat offen legen. Wir werden sehen, ob er eine Richtung hat und wohin die geht. Ich hoffe, Anne Will stellt entsprechende Fragen, die das erhellen.

  15. @ Bronski

    „Merkel liebt Klartext nicht sonderlich.“
    – In einem Fall hat sie Klartext gesprochen: An einem Septembertag in der Flüchtlingsfrage. Freilich nicht davor und auch nicht mehr danach.
    Hier liegt sicher ein Unterschied zum Kandidaten Schulz. Z.B. gegenüber Herrn Erdogan. Es wird auch nicht in erster Linie darum gehen, Merkel anzugreifen, sondern Wähler zu überzeugen. Eben mit Klarheit.
    Ein wesentlicher Punkt fehlt bei Bronskis Einleitung wie auch bei allen Beiträgen: die künftige Bedeutung der Europapolitik angesichts der Trumpschen Provokationen. Herr Jörges vom „Stern“ ist der Auffassung, dass der Wahlkampf in erster Linie von adäquaten Reaktionen darauf bestimmt sein wird und nicht von der „Flüchtlingsfrage“ oder rein innenpolitischen Fragen, wie die meisten hier angesprochenen. Eine Aufforderung an den Kandidaten Schulz, hier seine Trümpfe auszuspielen.
    Im Übrigen halte ich es im Sinne einer sachlichen Auseinandersetzung nicht gerade für angemessen – wie von Wolfgang Fladung – Martin Schulz alles das in die Schuhe zu schieben, was seine „Freunde“ (seiner Meinung nach) so alles verbockt haben. Und wer es als erste Aufgabe eines Präsidenten des EU-Parlaments ansieht, für Griechenland und gegen Schäuble „auf die Barrikaden“ zu gehen, ist schon in der Pflicht aufzuzeigen, wie denn das mit dieser Funktion verbunden und zu bewerkstelligen ist.

  16. Ich verstehe die ganze Euphorie rund um Herrn Schulz nicht. Er gilt als Mann der Mitte, d.h. für mich als ehemaligen SPDler eher: in der SPD rechts, also bestenfalls Netzwerker. Was, bitteschön, könnte er mit dieser Einstellung denn jetzt besser machen, anders machen, als die Partei jahrelang gemacht hat? Die Schröder’schen Reformen zurück drehen, sich für eine Grundsicherung einsetzen, sich für mehr internationale Gerechtigkeit, incl. Abbau europäischer Steueroasen und gegen rücksichtlos die noch vorhandenen Geldweiden abgrasende US-Konzerne einsetzen? Oder den „Mitte“(l)stands bauch begradigen und dafür endlich und notwendigerweise erforderlich mal die Schmarotzer oben zur Kasse bitten – all die, welche sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend von ihrem Beitrag zur sozialen Gesellschaft verabschiedet haben? Oder endlich einmal die Gründe und Ursachen bekämpfen, welche Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, wie Raubfischerei oder rücksichtslos die heimischen Agrarbauern ruinierende Agrarkonzerne? Beendet er die „Friedensmission“ in Mali? Wäre ich Pensionist in Österreich, hätte ich wohl rund 2000 Euro vom Staat zu erwarten als meine 1.221,– Euronen. Warum sollte ich also die SPD und Herrn Schulz wählen? Für mich bedeuten Schulz oder Gabriel keine Änderung zur neoliberalen Merkel & Co.-Politik, sondern ein „weiter so“.

    Da in letzter Zeit immer öfters gefragt wird: „Was tust Du für Dein Land?“ sollte ich vielleicht erwähnen, das ich Mitgründer der hiesigen Lokalen Agenda 21 war und weiterhin aktive Vorstandsarbeit leiste. Meine Frau ist aktiv bei der Sprachförderung für Migranten und bei der Hausaufgabenhilfe, alles, natürlich, ehrenamtlich. Soweit möglich, unterstütze ich neben ÄRZTE OHNE GRENZEN noch LOBBYCONTROL, ATTAC, ABGEORDNETENWATCH das Münchner UMWELTINSTITUT sowie die NACHDENKSEITEN. Gäbe es mehr Rente, würde ich auch davon etwas weitergeben.

  17. Sehr gut Herr Fladung, sie sprechen mir aus dem Herzen. Die sozialdemokratischen Werte sind verloren gegangen. Unsere amerikanischen Freunde machen es uns vor, das Volk ist es leid
    ausgebeutet zu werden und haben einen sogenannten Despoten gewählt. Dieser Mann macht jetzt etwas was wir schon lange nicht mehr gewöhnt sind. Er löst seine Wahlversprechen tatsächlich ein. Unsere Politiker würden sagen, was kümmert uns unser Geschwätz von Gestern. Mal sehen ob die SPD daraus etwas lernt. Die Globalisierung hat für das Volk keinen Nutzen gebracht und wird nun zu Grabe getragen.

  18. Habe gerade eben das Interview im ZDF mit St. Martin gesehen. Selten so gelacht, muß ich sagen, vor allem bei seiner Aussage, er wolle „die Steuerhinterziehung umd Steuervermeidung in Europa bekämpfen“. Ach ja, habe ich mir gedacht, sagt er dann ab morgen zu seinem alten Kumpel Juncker „Sie“? Redet er Tacheles mit den Luxemburgern und Iren, das man nicht nur die EU-Vorteile einheimsen kann, sondern auch etwas konstruktiv gegen die Nachteile, eben die Steueroasen, tun muß?

    Nee, Herr Schulz, so wird dat nix! Du springst jetzt als Tiger, und wirst im September als Bettvorleger landen, so war mir St. Martin helfe.

  19. Ich hätte noch einen Kandidaten für die Kanzlerschaft anzubieten: den Armutsforscher Christoph Butterwegge, derzeit von der LINKEN als Kandidat für die Bundespräsidentschaft nominiert. Der sagt seit Jahren in Punkto Gerechtigkeit das Gleiche und ist glaubhaft, und hängt sein Fähnchen nicht in irgendeinen Wind, oder in ein laues Lüftchen.

    Nur ist er chancenlos, weil er zwar Recht hat, aber Recht haben und Recht bekommen immer noch zweierlei Schuhe bei uns sind. Und er hat keine Lobby, höchstens bei ein paar Hartzern oder links-intellektuellen Akademikern. Schade. Aber Schulz will es ja anpacken und wenden und überzeugen und und und. Da stirbt dann auch meine Hoffnung zuletzt.

  20. Flüchtlinge werden in Ausbildung und Arbeit gebracht, integriert,
    aber egoistisch gesagt, wer tut etwas für die Hier Geborenen ?
    Das ist doch für die Wahl im Herbst entscheidend.
    Ich werde dort ankreuzen, wer meine Interessen am Besten vertritt.
    Das machen andere nicht anders.
    Weil die SPD schon seit einiger Zeit an der Regierung ist, – mit der Unterbrechung von schwarz-gelb – bin ich nicht mehr von der SPD überzeugt.

    Daran ändert auch ein Martin Schulz nichts.

    Erhöhungen in der Grundsicherung von jährlichen knappen 1% gehen an den Bedürftigen vorbei.
    Da besteht auch nicht der politische Wille bei der SPD das zu ändern. Es wird gespart bei den Bedürftigen, das zieht sich wie ein roter Faden durch die Regierungsbeteiligungen der SPD in den letzten Jahrzehnten. Vor den Wahlen wird von sozialer Gerechtigkeit gesprochen,
    danach weiter gespart, mich kann das nicht mehr überzeugen.

  21. Die Sparpolitik der Parteien beginnt damit, das sowas wie auto fahren,
    nicht in der Grundsicherung wie Hartz IV berücksichtigt ist.
    Hole ich mir ein Auto, durch die Inanspruchnahme von dunklen Kanälen ,
    mache ich mich strafbar nach dem Sozialgesetzbuch.
    Das Sozialgesetzbuch wurde 2003, maßgeblich von der Schröder Regierung
    umgeschrieben, seitdem ist eigentlich nicht mehr passiert.

    Bündnis/ 90 ist dahingehend meine Hoffnung, das da endlich wieder etwas passiert.

    Martin Schulz blitzt deswegen bei mir ab.
    Eigentlich war die SPD lange genug an der Regierung,
    seit 1998 – in dieser Zeit wurde nicht viel getan in der Grundsicherung.
    Da hat die Frankfurter Rundschau mehr für mich getan !
    Teilhabe an diesem Blog und mit zu diskutieren, sofern möglich.

  22. Tja, werter Herr Fladung, dann freuen Sie sich schon mal auf vier weitere Jahre unter Angela Merkel. Das ist dann also offenbar Ihre Wunschkanzlerin. Das lassen Sie damit klar genug erkennen. Na gut, dann werden Sie am Wahlabend vermutlich bekommen, was Sie sich so sehnsüchtig erträumen. Ich dachte ja, dass eigentlich jedem demokratisch eingestellten Menschen klar sein müsste, dass man eine andere Regierung nur dann bekommt, wenn man eine andere Regierung wählt. So weit haben Sie verstanden, was Demokratie bedeutet, oder? Ich bin mir da nicht so ganz sicher, weil Ihre politischen Ziele nicht unbedingt die sind, wofür die Kanzlerin steht. Oder vielleicht haben Sie einfach nicht begriffen, was für einen sonderbaren Spagat Sie versuchen, wenn Sie sagen: Ich will eine andere Politik, aber ich will keine andere Politik. Mal sehen, wie oft Sie sich diesmal wiederholen.

  23. @ G.Krause, 29. Januar 2017 um 18:37

    Habe ich richtig gelesen? –
    Sie reden von „verloren gegangenen sozialdemokratischen Werten“ und jubeln einem amerikanischen Immobilienhai, Egomanen und Frauenverächter zu, der jegliche Werte mit Füßen tritt und wie kein anderer Kapitalist arbeitende Menschen um ihren Lohn betrogen hat? – Nur, weil der seine Provokationen aus dem Wahlkampf gegen ziemlich jedermann „tatsächlich einlöst“? Ohne auch nur ein Wort dazu, um was für „Wahlversprechen“ es sich handelt!
    Schon vergessen, dass es in diesem Land einen anderen Demagogen gegeben hat, der auch seine Versprechen, insbesondere die Beseitigung des Rechtsstaates, „tatsächlich“ eingelöst hat – mit allen daraus sich ergebenden Folgen?

  24. Bezüglich der Austeritätspolitik Schäubles und Merkels muss ich Martin Schulz verteidigen. Ich kenne zwei Äußerungen von ihm, in denen er den Sparkurs für Griechenland ausdrücklich kritisiert. Eine wurde heute Abend bei Anne Will zitiert, die andere findet sich bei Wikipedia, Stichwort „Griechenlandkrise“.

  25. @ Stefan Briem: Wo bietet denn Herr Schulz und seine Partei eine echte Alternative zu Merkel? In meinem Alter ist ein echter Spagat eher schmerzhaft und daher Vermeidung desselben wünschenswert. Nur nach dem alten Motto zu verfahren, das neue Besen – angeblich – gut kehren, heißt noch nicht, das dies auch tatsächlich eintritt. Welche Politik unter Schröder/Fischer durften bzw. mußten wir denn erleben? Und welche Glanzleistungen hat schwarz-rot dann erbracht, den wahnsinnig hohen Mindestlohn von € 8,86 oder die weitere Absenkung der Altersrente? Oder die Pflege der Steueroasen und -paradiese? Oder den Staubzucker, den die US-Konzerne und die Vermögensmillionäre und -milliardäre hinten rein geblasen bekamen? Kennen Sie Hartzer, haben Sie diese schon einmal aufs Amt begleitet, zum Kämpfen um jeden Euro, oder wissen Sie, wie es Rentnern geht, die nur ein paar Euro über der Grundsicherung liegen?

    Wäre ich überzeugt, das es sich bei St. Martin Schulz nicht nur um einen Schaumschläger und Sprücheklopfer handelte, würde ich ihn evtl. wählen. Nur, eine Regierung ist wie eine Großküche. Jeder hat seine Verantwortung, seine Aufgabe und seinen Platz. Da nutzt es nichts, wenn der Starkoch ein exquisites Gericht zubereiten will und irgendein Sous-Koch versalzt dann die Champagnersauce.

    Ich habe die Politik von Schulz im EU-Parlament verfolgt. Hat er sich dort mit der Stabilisierung oder dem Ausbau der Sozialstaatlichkeit Europas hervorgetan? Da habe ich nichts bemerkt. Oder glauben Sie, er würde, vielleicht assistiert von Frau Nahles, die geplante Anhebung der Ostrenten zum Großteil aus den Beirägen rückgängig machen – anstelle einer Finanzierung aus den Taschen aller Profiteure der Wiedervereinigung. Die deutsche Rentenversicherung hatte eine Finanzierung aus Steuermitteln gefordert. Aber das könnte ja den Falschen weh tun. Es wird dagegen von Schulz von Steuersenkung geredet. Da hat ein Grundsicherungsrentner oder ein Hartzer aber viel von, oder?

  26. Volle Zustimmung nicht nur zu Hr. Fladungs Meinung zum TV-Interview gestern Abend sondern auch zur Ausführung Hr. Mertens zu Beginn. Was und wie Schulz hier versuchte, zu präsentieren, ist so hochgradig lächerlich wie die Versprechungen und Handlungen SPD selbst und das seit nunmehr 15-20 Jahren. Phrasen wie „Gerechtigkeit“ und zum Thema Bildung „Schulen als Leuchttürme“ aus den SPD Konventen letztes Jahr machen Bauchweh, weil man so lachen muss. Jetzt werden wir mal schauen müssen, ob die sogenannten „Mitentscheider“, die sich bei Gabriel u.a. beim Thema CETA eingeschleimt hatten auch dem „Neuen“ wie die Lemminge folgen werden. Aber vielleicht macht er es ja anders als sein „Freund“ mit seinen Erpressermethoden wie z.B.: …und wenn ihr nicht meiner Meinung seid und zustimmt, bin ich beleidigt, spiele nicht mehr Anführer und geh‘ nach Hause…..
    @Briem
    Genau diese Haltung zeigt die dargestellte Meinung des Herrn Briem: dieses armselige Attackieren auf der persönlichen Ebene, wenn man keine Argumente mehr hat. Und ja, lieber Frau Merkel (deren Großteil der Politik seit ca. 5 Jahren vollkommen daneben ist und die ich nicht wählen werde) und deren Ungerechtigkeitspolitik nochmal vier Jahre, als Herrn Schulz und seine „historische“ SPD! Kann dem Herrn Schulz mal bitte jemand sagen, dass er diesen Begriff nicht weiter strapazieren sollte – und schon gar nicht in Zusammenhang mit der SPD. Sonst könnte ja mal jemand auf die Idee kommen, sich die „historischen“ Themen und Beschlüsse anzuschauen und zu prüfen, was davon heute noch übriggeblieben ist ausser hohles Geschwätz. Vielleicht sollte doch von den SPD Granden auf die Meinung der TV-Putzfrau gehört werden! Deren Argumente sind nämlich ziemlich gut.

  27. Hatte Frau Ernst vergessen:
    als Präsident eines – wie auch immer gearteten sogenannten europäischen Gremiums – hätte er wohl Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, hätte er denn wollen! Hinterher dann rumzujaulen, wie schlimm das für die armen Griechen ist, ist genau die Art, wie ich sie oben beschrieben hatte. „hohles Phrasendreschen“.

  28. Als Freund der Griechen – mein früheres Lieblings-Reiseland, wg. der ungeheuren Gastfreundlichkeit – muß ich wirklich hier nochmals die angebliche Griechenfreundlichkeit des Herrn Schulz korrigieren: Er hätte als Präsident des Europäischen Parlaments auf den Barrikaden stehen müssen, als demokratische Entscheidungen in Griechenland von Brüssel und von Berlin aus mit Füßen getreten wurden. Jetzt aus dem Saulus plötzlich einen Paulus zu machen, geht an den historischen Tatsachen vorbei. Wenn es galt, sich quer zu legen oder Torheiten zu verhindern, hat er immer gekniffen. Wenn das Kind bereits, aufgrund eigenem Zusehens, in den Brunnen gefallen ist, hilft Wiederbelebung nicht mehr.

  29. Tut mir ganz arg leid, dass ich noch einen bringen muss. An alle und Hans: die tatsächliche Situation in Deutschlands Politik wird im Cartoon auf der Titelseite der FR vom 26.1.2017 widergegeben. Dazu braucht es keiner weiteren Erklärung.

  30. An Ulrich Niewiem:

    Der Cartoon war wirklich göttlich. Aber ich glaube nicht, dass Merkel den Schulz wirklich so unterschätzen wird, wie der Cartoon das darstellt.

    „Genau diese Haltung zeigt die dargestellte Meinung des Herrn Briem: dieses armselige Attackieren auf der persönlichen Ebene, wenn man keine Argumente mehr hat.“

    Ich mache damit gleich weiter. Sie sollten mal nicht so tun, als würden Sie nicht auf einer persönlichen Ebene argumentieren. Wobei, Argumente kann man das nur schwer nennen, was Sie da vorbringen. Ihre Kommentare sind schlicht destruktiv. Sie schaukeln sich hoch und jagen dann ein Phantom durchs Dorf. Ich sage dazu: Immer mit der Ruhe. Dass mit solchen Kommentaren wie Ihren, die nicht auch nur den Ansatz einer Alternative, geschweige denn einer Lösung anzubieten haben, kein Blumentopf zu gewinnen ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Das wissen Sie selbst schon, sonst hätten Sie nicht solchen Schaum vor dem Mund.

    Für mich steht als erstes die Abwägung: Will ich noch mal vier Jahre Merkel, oder will ich eine andere Regierung, die mir mehr Gerechtigkeit verspricht? Ich will Letzteres. Wenn sie dieses Versprechen nicht hält, wird sie wieder abgewählt. Sie aber allein deswegen von vornherein nicht zu wählen, weil man schon zu wissen glaubt, dass sie das Versprechen nicht einhalten wird, ist ganz einfach deprimierend, destruktiv und, ja, traurig. So geht das Land wirklich den Bach runter. Ich kann nur hoffen – und ich glaube das auch -, dass es sich bei Leuten wie Ihnen und auch Herrn Fladung nur um eine kleine Minderheit von Radikalen handelt, die umso lauter schreien müssen, weil sie wissen, dass sie eigentlich nur wenige sind.

  31. nach der Wahl der SPD 1998 wurde es nicht besser, sogar schlimmer. ( zumindest für mich )
    Mein nicht zu erfüllender Traum ist ein Grundsicherungsbezug, der für zwei Personen langt.
    Damit auch damit die Möglichkeit vorhanden ist, sich selbst zu versorgen und etwas zur Seite legen.
    Ein Grundsicherungsbezug, oder eine Erwerbsminderungsrente, die für zwei langt.
    Das will begründet werden. Mehr Geld wäre zumindest eine Entschädigung. Die Grundsicherung bei Erwerbsminderung ist Gesetz, gezahlt wird daher in jedem Fall. Aber es ist ungerecht, so wie es im Moment ist, weil die Möglichkeit genommen wird,hinzuzuverdienen und für die Zukunft, wie Krankheit und Alter, vorzusorgen
    Mehr Geld wäre wirklich schön, aber allen fehlt der politische Wille.( außer es ist Wahlkampf )
    Deswegen sehe ich die SPD und Martin Schulz nicht mehr als Alternative.

  32. Der Neue. Ganz das Alte.

    Martin Schulz. Nur weil man ihn zum Kandidaten kürt, steigt der Marktwert der SPD um 3 %. Und er selbst sägt mit seinen persönlichen Werten am Thron der Kanzlerin. Auskünfte über die Position die Partei, die er demnächst führen soll, noch er selbst vertritt – vorerst Fehlanzeige. Gut Martin Schulz gibt sich sozial engagiert. Hat eine Sozi-Vita. Wettert gegen Steuertrickser. War da nicht was? Er ist doch ganz Dicke mit Herrn Juncker. Und in dessen Heimat Luxemburg ließen sich doch prima Steuern sparen. Vergessen, alles vergessen. Sankt Martin – wie der Spiegel in dieser Woche titelt – ist der neue Heilsbringer der Sozialdemokraten.
    Ich kann die Euphorie nicht teilen. Ein neuen (übertrieben – so neu ist er ja nicht) Kopf einzusetzen macht noch nicht den Unterschied. Erst das, was als Programm in dem Kopf steckt und die Taten, die folgen, macht ihn. Und was ist da von Herrn Schulz zu erwarten? Ja, er ist ein überzeugter Europäer. Aber er gehört auch seit vielen, vielen Jahren zum Parteiestablishment. Hat also die diversen GroKos, die Agenda-Politik, die unsägliche Hartz IV-Regelung und das Absenken des Rentenniveaus bei gleichzeitiger Anhebung des Rentenalters mitgetragen oder zumindest nicht vehement bekämpft. Und die Demontage dieser sozialen Sicherheitsnetze ist doch der „Sündenfall“ der SPD. Deshalb verlor die SPD Macht, Glaubwürdigkeit, Wähler und Markenkern. Von der Deregulierung der Finanzmärkte mit den bekannten Folgen ganz zu schweigen.
    Wenn er das Überdenken und Umlenken dieser Politik jetzt zu seinem Credo machen würde, hätte er den Heiligenschein, den ihm der Spiegel verliehen hat, verdient. Das wäre der Ruck gewesen, der das Land nachhaltig aufgeweckt hätte. Keine Spur davon in seinen ersten großen TV-Interviews. Mehr Gerechtigkeit für die hart arbeitende Mitte fordert er; auf den Bürger will er hören, wie damals, als er noch in Würselen Bürgermeister war; mehr Bildung; mehr Sicherheit, mehr Investitionen in die Infrastruktur stehen auf der Agenda. Alles nicht falsch, nur das hört man heute landauf, landab. Nichts, was ihm Alleinstellung verschafft. Auf die Regierungsbeteiligung angesprochen wiegelt er ab. Die SPD allein hätte für mehr gesorgt, aber das wäre nun mal nicht gegangen. Auf die Agenda 2010 angesprochen möchte er sie vergessen machen. Als ob die Folgen dieser Entscheidungen nicht die Probleme von heute begründeten. Rot-Rot-Grün als Machtoption? Wieder GroKo? Antwort (sinngemäß): Man könne sich ja an die SPD wenden, wenn sie dann stärkste Partei sei.
    Es wird wohl einen munteren Wahlkampf geben, so quirlig, fast aufgedreht und glückstrunken, er in diesen Interviews wirkte. Aber eine Wende, ein neues Spiel? Wie denn, wenn man die Taktik nicht ändert. Und der aktuelle Applaus der Fans ist doch wie das Pfeifen im dunklen Keller. Es macht Mut, aber die Dunkelheit vertreibt es nicht. Vielleicht ein wenig die Angst. Und den einen und anderen AfD-Wähler zurück zu den Etablierten. Ist ja auch schon was!

  33. Danke, Bertram Münzer, auch ganz meine Meinung. Vielleicht ein schräger Vergleich, aber Stefan Briem empfielt mir, so ich Amerikaner wäre, doch lieber Clinton zu wählen, um Trump zu verhindern. Und was ist mit solchen eher sozial eingestellten wie Sanders? Warum wurde der wohl „verhindert“? Weil er eher eine Politik jenseits des Establisments machen wollte, so wie bei uns Butterwegge oder Wagenknecht. Aber die gelten ja eben diesem Establishemt als eine Art „Gott-sei-bei-uns“, und müssen mit aller Gewalt verhindert werden, weil dann endlich einmal die Profiteure der letzten Jahrzehnte auch ihren Beitrag leisten müssten. Und da höre ich auch nix von St. Martin Schulz, der will eher noch Steuern senken, um denen zu geben, die sowieso schon genügend haben.

    Ich hatte heute das Vergnügen, im Hinterland zwischen Taunusstein und Hünstetten eine Landstraße bzw. Schlaglochpiste zu benützen. Und da habe ich mich gefragt: Wenn jetzt die wenigen übrigen Steuermilliarden in eine Steuersenkung gesteckt werden, wie wird es dann bald mit der Infrastruktur aussehen? Zahlen Schüler demnächst Gebühren, wenn sie das Schulkloo benützen wollen? Zahle ich demnächst Eintritt beim Dottore, wenn ich mich erdreiste, seine Praxis aufzusuchen, als Kassenpatient? Und gibt es demnächst auf den Autobahnen, so wie in den Zügen, Vorfahrtspuren für „Leistungsträger“, sprich Sozialstaat-Schmarotzer?

  34. @ die Herren Briem, Niewiem und Fladung

    Bitte rüsten Sie verbal ab! Bleiben Sie sachlich und freundlich.

  35. Habe gestern Abend Anne Will im Interview mit Martin Schulz gesehen, gehört, und ich muss sagen, dass Anne Will dieses Mal richtig gut nachgehakt hat und den neuen Kanzlerkandidaten ganz schön in die Bredouille brachte. Schulz‘ rhetorischer Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit kam mir eher vor wie so eine Art Fremdsteuerung (da steht dann so jemand hinter der Bühne und impft dem Kandidaten ein: Das musst du jetzt dem Wahlvolk so sagen! Das wollen die Enttäuschten hören!).
    Nee, lieber Martin Schulz, das war überhaupt nicht überzeugend. Es kam nicht ein Sterbenswort über seine Lippen, dass die Sozialdemokraten diesen Fehler Agenda 2010 verbockt haben. Dann diese ständige Lobhudelei der Tradition als immer schon dagewesene Arbeiter- und Arbeitnehmerpartei! Ach nee!
    Die Heilserwartung bei den Sozis kann ich eh nicht verstehen. Aber sie brauchen es anscheinend. Ansonsten haben die Herren Fladung, Münzer und Niewiem soweit das Wichtigste zum Auftritt von Schulz und zu dem Erwartbaren gesagt.

  36. Herr Schulz will etwas für die „hart arbeitende Mittelschicht“ tun. Was denn, den „Mittelstandsbauch“ bei der Einkommensteuer abschmelzen? Die Sozialabgaben senken und damit auch die Kranken- und RV-Beiträge, mit allen Folgen und Nebenwirkungen? Vielleicht in Verbindung mit der dringend notwendigen und demit zu verbindenden Verlängerung und Erhöhung des Spitzensteuersatzes – wie unter Kohl – nach oben, auf 49 oder gar wieder 52%? Wie die derzeitige Situation aussieht, zeigt die neueste aktuelle Studie des DIW. Schaut man sich die Zahlen genauer an, teilt sich die durchschnittliche Erhöhung der Realeinkommen privater Haushalte um 12% in den letzten 23 Jahren auf in drei Gruppen:

    a) die Einkommen der obersten 10 % stiegen im gesamten Zeitraum um knapp 27%
    b) die – nicht nur Herrn Schulz – auch in anderen Parteien so am Herzen liegende Mittelschicht (Haushaltseinkommen vor Steuern und Sozialabgaben zwischen 67 und 200%) hat nur noch ein realen Plus von gerade mal 8% seit 1991 zu verzeichnen. Und liegt somit um 4% unter dem Durchschnitt von 12%. Dies spiegelt sich auch wieder im geschrumpften Anteil dieser Gruppe, Einkommen zwischen 70 und 150% des Medians) zwischen 1991 und 2013 von 63 auf 56%.
    c) Die unteren Einkommensgruppen wurden zur Gänze abgehängt. Von 1991 bis 2014 hatten diese untersten 10% bei uns w e n i g e r als 1991 zur Verfügung.

    Also bedeutet dies die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Die Opfer dieser, ja angeblich täterlosen Ausbeutung sind nicht nur die nicht (mehr) benötigten Arbeitslosen, die zu schlecht verdienenden Familien, Lebensgemeinschaften, Singles, Alleinerziehende, sondern auch viele Teilzeitarbeiter, 450-Euro-Hinzeverdiener, Multijobber, Aufstocker und Rentner.

    Wir leben demnach nicht, wie uns die Politik weis machen will, in einer „Aufstiegsgesellschaft“, sondern in einer Abstiegsgesellschaft, weil für viele nicht nur der Zug abgefahren ist, sondern es auf dem Abstellgleis dann wieder rückwärts geht. Die Hoffnungen und Träume auf Aufstieg bis in die 80er Jahre hinein wurden also weitgehend zerstört.

    Und wer sein Leben lang sich nur von Billigjob zu Billigjob, mit Unterbrechungen womöglich noch wegen Kinderaufzucht und Altenpflege, gehangelt hat, fühlt sich vergackeiert, wenn ihm jetzt noch private Altersvorsorge aufgeschwätzt werden soll oder ihm im Alter vorgeworfen wird, eine solche nicht eingegangen zu sein.

    Wir werden es auch weiterhin in D. erleben, das Populisten wie Trump zunehmend an Stimmen zugewinnen und über die Medien an Einfluß gewinnen. Sollte sich Herr Schulz in einer stillen Stunde einmal mit der Gesamtsituation beschäftigen, wird er vielleicht auch merken, das es mit einer Verbesswerung für die „hart arbeitende Mittelschicht“ allein nicht getan ist.

    Übrigens weiß ich aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Bei meiner Mutter fing es 2002 (sie war 83 damals) allmählich mit der Demenz an. Da wußte ich schon als Einzelkind, was mich erwarten würde. Jetzt hatte ich damals Gottseidank das Glück, das mein Arbeitsstelle hier im Raum dicht gemacht wurde. Ich hätte, um weiter arbeiten zu können, mit nach Stuttgart umziehen müssen. Ich erhielt jedoch ein Angebot, mit einer kleinen Abfindung mit 57,5 Jahren auszuscheiden und dann die Zeit bis zur Früh-Verrentung mit 60 noch mit Hilfe der BA zu überbrücken. Dies bedeutete natürlich für mich einige Hundert Euro Abschlag bei meiner Altersrente. Aber eine Vollzeit-Pflegekraft für Mutter wäre nicht drin gewesen, rein finanziell, weil auch Mutter keine Rücklagen hatte. Und ich wäre mir schäbig vorgekommen (und war auch nicht bereit zum Umzug nach Stuttgart, ebenso wenig wie meine damals noch berufstätige Frau, die auch gerade ihre Arbeitsstelle wechseln mußte, und, wunderbarer Zufall, gleich eine neue, allerdings mit längerer Anfahrt, bei Ffm fand.)

    Ich gehörte also nicht mehr zur „hart arbeitenden Mittelschicht“, sondern litt mehr unter der Agenda 2010 und der Schmälerung der Rente. Mehr Rente wegen Pflege der Mutter gibt es ja nicht, oder?

  37. An Herrn Münzer

    Wenn ich Ihren Kommentar lese, kommt es mir so vor, dass Sie über ein anderes Land schreiben, nicht über das Deutschland, in dem ich lebe.

    “ … der aktuelle Applaus der Fans ist doch wie das Pfeifen im dunklen Keller. Es macht Mut, aber die Dunkelheit vertreibt es nicht. Vielleicht ein wenig die Angst. Und den einen und anderen AfD-Wähler zurück zu den Etablierten. Ist ja auch schon was!“

    Von welcher Dunkelheit reden Sie? Heute schien ein wenig die Sonne. Die Menschen waren draußen, führten vergnügt ihre Hunde spazieren, freuen sich auf den Frühling und reden über Martin Schulz tatsächlich ein bisschen wie über einen Erlöser. Natürlich gibt es auch die, die ihm nicht so recht trauen, aber Dunkelheit? Was wollen Sie denn damit herbeireden? Haben Sie das bei Donald Trump abgeschaut? Wenn man den reden hörte, konnte man ja den Eindruck bekommen, dass die USA am Boden zerstört sind. Besorgen Sie das Geschäft der Populisten? Zu deren Taktik gehört es ja, alles schlecht zu reden.

    Möchten Sie vielleicht lieber in den USA leben? Oder im UK? Es gibt sicher einige Länder auf der Welt, wo es sich noch besser leben lässt als in Deutschland, aber es gibt viele, viele Länder, in denen das Leben schlechter ist. Machen Sie sich das doch mal bitte bewusst. Sicher, mehr Geld ist immer wünschenswert, wie Herr Vollmershausen oben schreibt, aber dieser Wunsch gilt immer und zu allen Zeiten für alle Menschen und ist nichts, was die soziale Lage in Deutschland allein kennzeichnet. Jeder Mensch in Deutschland hat Anspruch auf Grundsicherung, wenn nichts anderes mehr läuft.

    Widersprechen möchte ich Ihrem Satz:

    „die Demontage dieser sozialen Sicherheitsnetze ist doch der „Sündenfall“ der SPD.“

    Die „sozialen Sicherheitsnetze“ wurden nicht demontiert, sondern zusammengefasst und zukunftssicher gemacht. Vorher gab es ein kompliziertes System verschiedener Sozialhilfen. Mit der Einführung von Hartz IV wurde das alles vereinfacht und zugegeben auch zurückgefahren. Der Grundgedanke war, Leistungsanreize zu setzen, um die Menschen zu motivieren, sich da heraus zu arbeiten („fordern und fördern“). Dieser Grundgedanke ist heute noch genauso richtig, wie er es damals war. Er wurde dann leider nur zum Teil umgesetzt. Hartz IV ist ein schlecht gemachtes Gesetz, das die Menschen schikaniert, statt sie zu motivieren. Es macht sie zu Bittstellern statt zu „Kunden“. Es müsste dringend refomiert werden, auch damit unsere Gerichte entlastet werden. Ehrlich gesagt erwarte ich das auch vom Kandidaten Schulz, aber ich erwarte nicht von ihm, dass er ein paar Tage nach seiner Nominierung mit einem fertigen Programm aufwartet. Das wird er aber noch liefern.

    Daher, lieber Herr Münzer, kann man nicht von einer „Demontage der sozialen Sicherheitsnetze“ reden. Ich weiß, das ist das Horn, in das in diesem Blog gern gestoßen wird, aber ich halte das für linke Folklore. Die Realität sieht anders aus. Die „Hartzer“, die ich kenne, schimpfen natürlich alle, aber in Wirklichkeit geht es ihnen mit dem, was sie nebenher hereinholen, gar nicht schlecht. Davon darf die Agentur natürlich nichts wissen, sonst gibt’s Ärger.

    Unter dem Strich ist das alles kein Grund für Schwarzmalerei.

    Zu dem Kommentar von W. Fladung vom 31.1. verkneife ich mir jetzt mal weitere Bemerkungen, aber dass es auch diesmal nicht ohne Opferhaltung und Ausbeutung geht, stand ja schon vorher fest. Linke Folklore eben.

  38. „Der Neue. Ganz das Alte.“ Gut gesprochen Herr Münzer!!
    Herr Briem mag es nicht, dass Hartz IV kritisiert wird. Bei dieser Ansicht trennen uns Welten.
    Hartz IV war ein klarer Angriff auf die Würde der Menschen, die in die Abhängigkeit dieses Systems gefallen sind. Mit sog. handwerklichen Fehlern bei diesem Gesetz hat das gar nichts zu tun. Und wenn ich sowas sage, rede ich nicht wie ein Blinder von der Farbe.
    Und: Kritik an der Agenda 2010 und an den sozialen Verwerfungen in der Folge, sind keine linke Folklore!
    Das ist mir sehr wichtig, dass so eine Aussage nicht unwidersprochen in diesem Forum stehen bleibt!

  39. An Herrn Malyssek

    Vielleicht lesen Sie meinen Kommentar noch mal etwas genauer. Ich habe durchaus Kritik an Hartz IV, und zwar genau an dem Punkt, den auch Sie ansprechen: der Würde.

    Ich halte pauschale Kritik an der Agenda 2010, wie sie hier immer wieder geäußert, für nicht hilfreich. So wie sie hier geäußert wird, funktioniert sie als eine Art Kitt für die Linken, weil alle sich einig sind, sobald der Begriff fällt. Aber es ist wie mit allem im Leben: Man muss genauer hinschauen.

  40. An Herrn Briem: Wenn die Kritik an Hartz IV als Angriff auf die Würde des Menschen nur pauschal ist, dann könnte ich Ihnen das alles mit zig-Beispielen und mit den Gesetzesteilen des SGB II vorlegen. Aber diese Debatte hier (SPD-Kandidat Schulz-Soziale Gerechtigkeit)ist wohl nicht der Platz Fachvorträge zu schreiben.
    Dass Sie so stark betont vom „Kitt für die Linken“ und von „linker Folklore“ sprechen, macht für mich jedenfalls deutlich, dass Sie von der Opposition er Linken in unserem Lande nicht viel halten. Das kann ich Ihnen nicht verwehren. Aber da ist ja jetzt noch der neue Hoffnungsträger Martin Schulz, der sich noch in die Agenda 2010 einarbeiten muss.

  41. Der 24. Januar 2017 könnte für die Sozialdemokraten zu einem denkwürdigen Datum werden. Sigmar Gabriel hat sowohl auf seine Kanzlerkandidatur als auch auf den Parteivorsitz verzichtet. Diese Entscheidung verdient Respekt. Politische Macht ist nur geliehen, Gabriel hat mit seinem Schritt einen Beitrag für mehr Glaubwürdigkeit in der Politik geleistet.
    Er dürfte jedoch auch eingesehen haben, dass er den Erodierungsprozess der SPD nicht aufzuhalten vermag. Ihn, den leidenschaftlichen Sozialdemokraten, werden die hohen Wählerverluste seiner Partei an die AfD bei den letzten Wahlen besonders geschmerzt haben. Die Umfragewerte der SPD fallen seit Monaten ins Bodenlose. Ein Tiefpunkt folgte zuletzt dem anderen. Bis zur Bundestagswahl sind nur noch 8 Monate. Kann es dem Kanzlerkandidaten und neuen Parteichef Martin Schulz in dieser kurzen Zeit überhaupt noch gelingen, das Ruder herumzureißen?
    Die SPD war in der großen Koalition der fleißigere Regierungspartner. Aber was nützen alle Bemühungen, wenn die Errungenschaften, die sie auf den Weg gebracht hat, letztendlich quasi per Automatismus der Bundeskanzlerin zugeschrieben werden. Die Regierungsfraktion der Sozialdemokraten hat sich in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit zweifellos schlecht verkauft. Aber den entscheidenden Fehler hat sie meiner Ansicht nach begangen, indem sie über Jahre hinweg einen Schmusekurs mit der Kanzlerin gefahren ist. Merkel hat die Umarmung erwidert und die SPD dabei klammheimlich regelrecht politisch ausgesaugt.
    Für Frau Merkel dürfte die Meldung vom Rückzug Sigmar Gabriels keine gute Nachricht gewesen sein. Mit ihm hätte sie beim bevorstehenden Wahlkampf vermutlich ein wesentlich leichteres Spiel gehabt. Auch ihre Umfragewerte sind in den zurückliegenden Monaten deutlich gesunken.
    Martin Schulz ist ein leidensfähiger Haudegen, der auch da hingeht, „wo es weh tut“. Er gilt als gradliniger, berechenbarer und glaubwürdiger Politiker, der in der Bevölkerung bereits eine relativ hohe Popularität genießt, obwohl er in Deutschland bisher noch kein politisches Spitzenamt innehatte. Schulz könnte im positiven Sinne ein Pendant zu Donald Trump darstellen. Als erfahrener Wahlkämpfer redet er Klartext, ohne dabei die politischen
    Anstandsregeln zu verletzen. Die Menschen sehnen sich nach Autoritäten, die ihnen „kein X für ein U vormachen“. Schulz ist einer der wenigen in der SPD, der in der Lage ist, die Partei geschlossen hinter sich zu versammeln.
    Die Wirtschaft läuft in Deutschland derzeit noch gut, die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordtief. Die Sicherheitspolitik stellt bei den Bürgern das derzeit drängendste Problem dar und wird zweifellos zum beherrschenden Wahlkampfthema werden. Die SPD müsste sich bei diesem Thema eigentlich weiter rechts als Merkel und ihre CDU positionieren, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen, die sich anschicken, bei der Bundestagswahl ihren Protest über die ihrer Meinung nach verfehlte Sicherheitspolitik der Bundesregierung in den vergangenen Monaten zum Ausdruck zu bringen.
    Möglicherweise erleben wir in den kommenden Monaten doch noch einen interessanten und spannungsgeladenen Wahlkampf. Vorwärts SPD!

  42. @ Alfred Kastner

    Auch ich habe Hochachtung vor Sigmar Gabriels Entscheidung. Aber einen leidenschaftlichen Sozialdemokraten kann ich ihn nicht nennen. Eher einen Mann, der sich leidenschaftlich für eine Partei einsetzt, die zwar den Namen „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ trägt, sich aber von sozialdemokratischen Werten ein gutes Stück entfernt hat. Und das betrifft nicht nur die Gesetze der Agenda 2010, deren Reformbedürftigkeit sich in der Partei ja durchaus herumgesprochen hat, sondern das für die deutschen Arbeitnehmerrechte und die Autonomie des Parlaments durchaus bedrohliche Abkommen CETA, das sowohl Gabriel als auch Schulz vehement befürwortet haben.
    Auch auf mich wirkt Schulz geradliniger und vertrauenerweckender als Gabriel, aber mein Traumkandidat ist auch er – aus obigem Grund – nicht (der müsste wahrscheinlich erst gebacken werden).

  43. Ich bin sicher, Herr Kastner, dass wir einen spannenden Wahlkampf erleben werden, und ich bin mir auch fast sicher, dass Angela Merkel ihre Entscheidung noch einmal anzutreten bereuen wird. Es besteht die reelle Chance, dass sie abgewählt wird. Umfragezahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen, aber zwei Zahlen aus dem Deutschlandtrend sind trotzdem bemerkenswert: 37 und 50. Nämlich 37 Prozent der Deutschen würde Merkel ihre Stimme geben, wenn sie direkt gewählt werden könnte, aber 50 Prozent würden Schulz ihre Stimme geben. Das heißt, wir haben eine Wechselstimmung in Deutschland. In dieser Deutlichkeit hatten wir das zuletzt 1998. Ich hoffe, dass dieser Trend anhält.

    Allmählich schält sich auch heraus, welche Positionen Schulz vertritt. Er sagt, dass mit der Agenda 2010 Fehler gemacht worden sind, und er will offenbar Kapitalerträge genauso besteuern wie Arbeitseinkommen. Das sind schon mal zwei dicke Pluspunkte.

    An Bronski: Ich habe das auf Zeit-online gelesen. Schulz hat dem Spiegel ein Interview gegeben. Auf FR-online habe ich dazu bisher nichts gefunden. Ich hoffe es macht nichts, wenn ich hier den Zeit-Link angebe:
    http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-02/martin-schulz-agenda-2010-kritik-interview

  44. Wird vielleicht Zeit, dass mit den Beiträgen von Alfred Kastner und Brigitte Ernst so etwas wie eine sachliche Debatte zurückkehrt.
    Mancher der Beiträge von den Herren Niewiem, Münzer und auch Fladung oder Malyssek kostete mich schon einige Selbstüberwindung, um sie zu Ende zu lesen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht wegen der inhaltlichen Position, sondern wegen eines arroganten, schwer zu ertragenden sprachlichen Duktus.

    Und, lieber Jürgen Malyssek, um auf Ihre Wahrnehmung des Interviews mit Anne Will zu sprechen zu kommen, die ich in keiner Weise teile: In dem die Moderatorin nach meiner Sicht die erste journalistische Aufgabe geradezu grandios verfehlt hat, Informationen über den Interviewpartner zu befördern, statt das Interview zur Selbstdarstellung verkommen zu lassen und bei jeder Gelegenheit die eigene Voreingenommenheit gegenüber dem Interviewpartner zur Schau zu stellen.
    Un wenn Sie von „Heilserwartung bei den Sozis“ sprechen, als Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit dem Kandidaten das Eingeständnis fordern, „dass die Sozialdemokraten diesen Fehler Agenda 2010 verbockt haben“, dann kommen bei mir in dem von Ihnen assoziierten religiösen Kontext schon sehr zwiespältige Erinnerungen hoch: an einen Beichtstuhl mit darauf folgend auferlegter Buße, um als reuiger Sünder der Gnade teilhaftig werden zu können, wieder in die Gemeinschaft der echten Christen aufgenommen zu werden.
    Sprache ist verräterisch und sagt mehr aus über die Einstellung des Sprechers als über den vermeintlich Charakterisierten bzw. Abgewerteten. Mit berechtigter kritischer Haltung hat dies m.E. wenig zu tun, schon gar nicht mit fairem Umgang, einem neuen Kandidaten seine Chance einzuräumen, umso mehr mit Voreingenommenheit. Und mir kommt der Verdacht, dass süffisantes Reden über „Heilserwartung“, die von vornherein fixierte Abwehrhaltung mit Angst zu tun haben könnte, dass die eigene Sicht evt. einer Revision unterzogen werden sollte.

    Vielleicht ist es symptomatisch, dass bei solcher Art der Diskussion die entscheidende Hoffnung (unabhängig davon, wie man persönlich zum Kandidaten Schulz steht) nicht einmal ins Blickfeld kommt, die Alfred Kastner mit dem Hinweis auf einen „spannungsgeladenen Wahlkampf“ wenigstens andeutet: Dass endlich zu erwarten ist, dass Hetze und Demagogie aus Richtung AfD u.a. nicht im Vordergrund stehen werden.

  45. Nach meiner Meinung hat der Kandidat einen guten Start hingelegt. Nicht mehr und nicht weniger. Das er sich ein Stück von der Agenda 2010 distanziert und über Steuergerechtigkeit redet ist ein Anfang dem noch einiges folgen muss.

  46. Lieber Herr Engelmann, die Schwierigkeiten in dieser Debatte liegen weniger in den unterschiedlichen Meinungen, die eigentlich das Salz in der Suppe sind, als darin, wie das Gesagte jeweils interpretiert oder umgedeutet wird. Wir müssen beispielsweise bei der Wahrnehmung des Interviews von Anne Will (die ich als Moderatorin eher selten lobe) mit Martin Schulz auch nicht übereinstimmen. Aber wenn Sie meine hier ausgesprochene „Heilserwartung“ (hier mit „“) der Sozis gleich mit Beichtstuhl, Buße, reuigem Sünder und Gnade zusätzlich in Verbindung bringen, dann ist es nun wirklich nicht mehr mein Problem.
    Das Bild von der Gemeinschaft der Christen lasse ich mal unkommentiert. Wenn Sie von nicht fairem Umgang mit einem neuen Kandidaten oder Kandidatin sprechen, weiß ich auch nicht, was und an welcher Stelle Sie das meinen? Dann psychologisieren Sie über das, was alles hinter den Worten der Sprache (angeblich arroganter, süffisanter Duktus, Zurschaustellung) stecken könnte. Erschweren es aber damit selbst „zur sachlichen Debatte“ zurückzukehren“. Wir sind in diesem Blog nun wirklich weit entfernt von einer Demagogie und Hetze im Geiste der AfD. Meinungsunterschiede sind allerdings greifbar. Das ist jetzt sachlich und freundlich gemeint.

  47. zu @Wolfgang Fladung
    Gehört nicht hierher, aber nur zur Info. Heute in der gleichen Situation mit 57 würden sie nach Stuttgart umziehen oder von Hartz 4 leben. So gut wie ihnen geht es den nachfolgenden Jahrgängen nicht mehr.

  48. Wenn ich mir den Wunschzettel bzw. Forderungskatalog an Martin Schulz von einigen im Blog durchlese, dann müsste die SPD die absolute Mehrheit bekommen, um das zu realisieren. Und selbst dann würde es nicht klappen. Da es aber mit Sicherheit wieder eine Koalition werden wird, in der nur Kompromisse möglich sind, wäre Schulz schlecht beraten, eine Koalitionsaussage zu treffen. Mit Wahlprogrammen ist das auch so eine Sache, wenn die Tagespolitik unverhofft andere Prioritäten setzt. Und die werden in Zukunft nicht weniger werden. Ich kann ja die Anhänger von Rot-Rot-Grün verstehen, wenn sie bis ins Detail gehende Festlegungen von Schulz verlangen, die er gar nicht geben kann. Diese Konstellation wird es m.E. nach aber nicht geben. Dafür würde schon Die Linke sorgen, wenn Leute wie Sarah Wagenknecht die Richtung bestimmen sollten.

  49. Martin Schulz hat eine Chance von der ich noch vor ein paar Wochen nicht gedacht hätte das es sie gibt. Er muss in der nächsten Zeit mit viel Fingerspitzengefühl die richtigen Akzente setzen und hatte alle Möglichkeiten sich in irgendwelchen Fettnäpfchen wieder zu finden. Lassen wir uns doch einfach mal überraschen wie das weiter geht.

  50. Hier im Blog wurde lange diskutiert, welche programmatischen Änderungen die SPD vornehmen müsste, um wieder in der Wählergunst zu steigen. Manch einer hatte überhaupt keine Hoffnungen in dieser Richtung.
    Kaum tauscht die SPD eine Führungsposition aus und ob dies auch programmatische Änderung impliziert, ist noch vollkommen unklar und schon steigt die SPD in der Wählergunst von 20 auf 28 Prozent.
    Dies deutet daraufhin, dass ein nicht unbedeutender Anteil der Wähler seine Wahlentscheidung unabhängig von Wahlprogrammen fällt.

  51. So scheint sich wieder einmal zu bewahrheiten, wie „Linksdenkende“ mit ihren Hoffnungsträgern umgehen. Alles was an Zerlegbarem zu finden ist, wird zerlegt, jeder irgendwo mal gesprochene Satz von allen Seiten kritisch beleuchtet. Was wollt ihr denn für einem Kandidaten? Einen von ganz weit draußen, vom Umfeld das Orions, mit wirklich außerirdischen Fähigkeiten?! Bei manchen Kommentaren kann da der Verdacht aufkommen, dass hierbei schon die Arbeit des politischen Gegners gemacht würde. Statt froh zu sein, dass noch jemand sich solch eine Herkulesaufgabe zutraut und beherzt anpackt !

  52. Josef Ullrich, 5. Februar 2017 um 10:28
    „Ich kann ja die Anhänger von Rot-Rot-Grün verstehen, wenn sie bis ins Detail gehende Festlegungen von Schulz verlangen, die er gar nicht geben kann.“
    Verstehen kann man das. Klug ist etwas anderes. Denn so funktioniert Politik nicht, und auf diese Weise wird jegliche Koalition von vornherein ausgeschlossen. Ansonsten stimme ich Ihrer Analyse im Wesentlichen zu.

    Jürgen Malyssek¸5. Februar 2017 um 1:05
    Lieber Herr Malyssek, leider haben Sie meinen Vergleich (der sich nicht ausschließlich auf Sie bezieht, bewusst subjektiv gewählt ist, um nicht belehrend zu wirken) missverstanden. Es geht natürlich auch im Klartext.
    Zunächst: Lassen wir die Anspielung auf AfD-Demagogie mal beiseite. Wie unsinnig ein solcher Vergleich im Zusammenhang mit den Blogbeiträgen hier ist, wissen Sie selbst.
    Viel wichtiger die Haltung gegenüber Martin Schulz und die SPD.
    Die Gründe für Entfremdung kann ich verstehen, anfängliche Verbitterung auch. Fast ein jeder hat da sein Päckchen zu tragen, ich auch. War immerhin ein stellvertretender SPD-Schulsenator, der um ein Haar meine berufliche Zukunft zerstört hätte. – Was aber nützt es, solche Verbitterung über Jahre mit sich zu schleppen? Schlimmer: Mit Fixierung auf die Vergangenheit jedem positiven Ansatz der Veränderung mit äußerstem Misstrauen entgegen zu treten und ihn so im Keim zu ersticken?
    Das eben erkenne ich in manchen der Beiträgen hier, in der ultimativen Forderung, bei jeder Gelegenheit für Agenda 2010 – mit der ein Martin Schulz wenig zu tun hat – Abbitte zu leisten, bevor man überhaupt bereit ist, ihn ernst zu nehmen. (Den Kniefall eines Willy Brandt in Ehren – aber das war eine völlig andere Dimension.)
    Ein solches Ansinnen entspricht der Methode „Beichtstuhl“, die in dem Recht, Absolution zu erteilen oder zu verweigern, auch Herrschaft über „Seelen“ repräsentiert. Und in eine solche Rolle zu schlüpfen, empfinde ich als anmaßend. Auch durch leidvolle Erfahrung nicht legitimiert.

    Auch mir ist die einem Martin Schulz entgegenschlagende Erwartungshaltung etwas unheimlich. Ist doch die Unmöglichkeit, ihr zu entsprechen, darin schon impliziert. Er mag machen, was er will.
    Es erscheint mir als ein psychologisches Problem, Indikator für die verletzte SPD-„Seele“, die sich selbst schon fast aufgegeben hat und ganz plötzlich Hoffnung schöpft, in Euphorie gerät. Eine äußerst schwere Aufgabe, dies in realistische Bahnen zu lenken, die Hoffnung aber zu erhalten.
    Ein kluges Verhalten von Martin Schulz, den Blick auf die Zukunft zu lenken, um einen Vorschuss an Vertrauen zu bitten, statt sich in Versprechungen zu verzetteln. Hier stimme ich Josef Ulrich absolut zu.
    Was „Gerechtigkeit“ bedeutet, welche Forderungen anzuschließen sind, wird zu diskutieren sein. Unter der Voraussetzung der Bereitschaft aller Beteiligten Mit Martin Schulz und nicht in Form eines ultimativen Forderungskatalogs.
    Und das erfordert auch Selbstreflexion: Den Mut, Vergangenes auch ruhen lassen zu können. Aufeinander zuzugehen, einen positiven, zukunftsorientierten Beitrag zu leisten.
    Dazu beizutragen ist die Intention meines Beitrags. Nicht mehr und nicht weniger.

  53. zunächst zu Hans, 5. Februar 2017 um 6:10. Ja, lieber Hans, weiß ich alles, und ich habe damals wirklich saumäßig Glück gehabt. Wäre wohl heute nicht mehr so drin gewesen. Interessant allerdings, das mir dieses „Glück“ noch unter einer SPD-Regierung beschert wurde, und die wunderbaren Reformen damals noch nicht griffen.

  54. Ich habe während meines Aufwachsens gelernt, das gilt: „Nicht an ihren Worten sollt ihr sie messen, sondern an ihren Taten“. Und da gebe ich Herrn Schulz selbstverständlich erst einmal auch Vertrauenvorschuß – Demokratie kann ja nicht anders funktionieren. Es waren eben Dinge aus der Vergangenheit, siehe seine Freundschaft zum Steueroasenbetreiber Juncker oder die Schrauben, welche den Griechen angelegt wurden, oder der Blick auf unser Wohlstandswunderland, mit den „hart Arbeitenden“, und nicht auf die, welche hart arbeiten möchten, aber nicht können oder dürfen. Was ist mit den unteren 40%, all den Abgehängten? Sollen die lieber AfD wählen, aus Trotz, Frust und sonst noch was? Ist die SPD nur für die „hart Arbeitenden“ da? Wie sähe es aus mit einem höheren Mindestlohn, einer anderen Rentenform, einer steuerlichen Anpassung – weniger unten und in der unteren Mitte, dafür mehr oben? Dazu möchte ich mal was hören – aber vielleicht kommt das noch. Jedenfalls gebe ich ihm gerne eine Chance, und schmeiße meine Vorurteile über Bord.

    Und wenn er Bundeskanzler werden sollte, können wir uns in einem Jahr neu unterhalten. Bin gespannt schon auf die Argumente, warum dies und jenes – nicht möglich war. Schuld sind dann sicherlich die oder der Koalitionspartner.

  55. An Henning Flessner: Sehe ich ähnlich. Und eine Wahlentscheidung treffen nach dem vagen Prinzip Hoffnung.
    An werner.h: Es kann schon ein irdischer Kandidat sein. Nur von altbekannten Sprechblasen sollte man sich nicht leiten lassen. Mein Vertrauen hat die SPD jedenfalls nicht.

  56. Als Kanzlerkanditat(in)en bräucht’s in der SPD keinen „Hamlet“ und keinen
    „Diogenes“, sondern eine sozialdemokratische „Stuntfrau“ oder einen
    „sozialdemokratischen“ Stuntman.

  57. Wolfgang Fladung hat Recht. Man soll sie an ihren Taten messen, sofern es überhaupt zu Taten kommt.

    Die Ausrede mit dem Koaltionspartner ist schon uralt (in der früheren sozialliberalen Koaltion war es schon die FDP) und jetzt höre und lese ich bei jeder Gelegenheit, dass die Union schuld sei.

    Deshalb habe ich regelmäßig darauf hingewiesen, dass keine Verpflichtung zu dieser Koalition bestanden hat, und in einer anderen Koalition eine bessere Lösung möglich gewesen wäre.

    Deshalb sollte man auch Schulz ständig darauf nageln, dass mit der CDU/CSU keine soziale Gerechtigkeit zu erreichen ist. Doch leider lernen die Parteioberen nie aus den bisherigen Erfahrungen, sondern streben lieber nach der Macht, egal, welche Folgen sich daraus ergeben.

  58. @ werner.h, 5. Februar 2017 um 18:06

    Sie treffen es mit Ihrer Einschätzung über den Umgang von „Linksdenkenden mit ihren Hoffnungsträgern“ wohl ziemlich genau.
    Ich möchte dennoch eine Differenzierung vorschlagen. Denn, was Sie sagen, betrifft wohl nur einen Teil von ihnen. Und auch hier wird ein Differenzierungsprozess eintreten.
    Eine Aufbruchstimmung verlangt Wertvorstellungen und Inhalte, mit denen Menschen sich identifizieren können. „Soziale Gerechtigkeit“ ist so eine. Man muss aber auch konkretisieren und mögliche Wege der Realisierung angeben. Da werden sich die Geister scheiden. Vor allem auf der „Linken“.
    Klar, dass ein Kandidat Schulz versuchen muss, möglichst viele einzubeziehen und mitzunehmen, und das tut er auch. Was freilich die Bereitschaft zu einer kooperativen Auseinandersetzung und zu Kompromissen voraussetzt. Das wird nicht bei allen gelingen. Sicher nicht, wenn die Absicht besteht, ihn auf vorgefertigte Positionen zu „nageln“ (Peter Boettel). Da wird auch eine klare Trennlinie nötig sein – schon um zu erwartenden Angriffen der Gegenseite vorzubeugen.
    Auch die „Linke“ täte gut daran, diesen Klärungsprozess voranzutreiben – so schnell wie möglich.

    Eine Gelegenheit ergibt sich schon jetzt: info@campact.de fordert zu Mitteilung von Anliegen auf, die in einem Gespräch an Martin Schulz herangetragen werden sollen. – Auch ein Kriterium dafür, wo die Trennlinie anzusetzen sein wird.

  59. Lieber Herr Engelmann,dass Sie den Kandidaten Martin Schulz in einem besseren Licht sehen, lasse ich jetzt so stehen.
    Sicher hat meine „Zurückhaltung“ und Entfremdung der SPD gegenüber ihre stärksten Wurzeln in der viel kommentierten Agenda 2010. Das kommt in jedemfall daher, dass ich von Anfang an diesen Dammbruch im Sozialsystems der Bundesrepublick unmittelbar in meiner sozialen Arbeit mit den Armen, Wohnungslosen und Unterprivilegierten die vorhersehbaren und auch so eingetroffenen sozialen Einschnitte erlebt habe. Auch im operativen Geschäft kam der große Wandel der Anpassung mit leider wenig politischem Widerstand von den Wohlfahrtsverbänden. Das ist das Eine.
    Sicher schwingt auch die Willy-Brandt-Ära mit, die ich zumindest als junger Mensch mit einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung verbinde (so einfach lässt einen diese Erfahrung nicht los). Mir ist später im Laufe der Jahre, weit nach Brandt und Schmidt, immer mehr die Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit der Sozialdemokraten aufgefallen, die immer mehr hinter ihren gewiss alten historischen Errungenschaften und Ansprüchen zurückfielen, bis schließlich zum kalten Einstieg in die neolibralistische Anpassung und den bekannten Hartz-Gesetzen mit ihren Folgen, usw. Nur kurz hier umrissen.
    Sodass Sie mein Misstrauen und meine Skepsis etwas nachvollziehen können. Das ist auch keine Verbitterung mehr und gilt durch meine zurückliegenden Erfahrungen (auch im lokalen, regionalen Bereich)auch sachlich betrachtet. Eine Euphorie, wie ich sie medial bei den Sozialdemokraten und Anhängern kurz nach der Kandidatenkür Martin Schulz erlebt habe, wirkt für mich eher befremdent. Sie haben’s ja oben als ein psychologisches Problem, als „Indikator für die verletzte SPD-„Seele“, die sich schon fast aufgegeben hat und ganz plötzlich Hoffnung schöpft …“ meines Erachtens ganz gut getroffen. Nur, das alleine wird keine wirklichen politischen Konsequenzen haben können, wenn das, was die SPD seinerzeit angerichtet hat, durch Hoffnung und Begeisterung ersetzt wird. Der Schnitt müsste schon ein ganz anderer sein.
    Die Agenda 2010 hat schon noch was mit Martin Schulz zu tun, denn zu dem damaligen Kurs hat auch er nichts anderes verlauten lassen. Da kann er jetzt mit seiner Biographie (aus ärmeren Verhältnissen kommend) noch so oft daherkommen, wenn er jetzt die „soziale Gerechtigkeit“ auf sein Schild gehoben hat.
    An einem Punkt steckt er meines Erachtens aktuell in einem wirklichen Dilemma, wenn’s die Leute denn überhaupt gemerkt haben:
    Nach Winterkorn folgte just gerade die Fortsetzung der politischen Verlogenheit. Christine Hohmann-Dennhardt erhält nach ihrem Ausscheiden aus dem VW-Vorstand eine Abfindung von 12 (zwölf!) Millionen Euro (für 13 Monate Arbeit) – mit dem Segen der SPD-geführten Landesregierung Niedersachsens – und nun kommt Schulz gerade und fordert LOHNGERECHTIGKEIT! Das haut einem dann schon die Perücke vom Kopf.
    In so einem Moment braucht Kandidat Schulz seinen Wahlkampf für soziale Gerechtigkeit erst gar nicht anzutreten. Wer da noch an die Sprechblasen und eine politische Wende glaubt, dem ist dann auch nicht mehr zu helfen. Aber dem normalen Wähler wird es wahrscheinlich nicht auffallen.
    Somit sehe ich mich weniger mit einer Fixierung auf die Vergangenheit, als dass ich voll und ganz im Hier und Jetzt diese saure Zitrone schmecke.
    Mir ist schon klar, dass wir von unterschiedlichen Erfahrungn mit den Sozialdemokraten ausgehen und dabei können wir gerne den neuen Hoffnungsträger für einen Moment aussparen. Und insofern komme ich mit Ihrem Standpunkt jetzt auch zurecht. Vielleicht habe ich auch mit den „Welten, die uns trennen“ ein bisschen dick aufgetragen. Jetzt weiß ich auch gar nicht mehr, an welcher Stelle, ich mich so geäußert habe? Lassen wir’s so ruhen.

  60. @ Bronski
    Betr.: Campact-Initiative.
    Ich habe mich nochmal vergewissert. Diese Initiative gilt in der Tat nur für Campact-Mitglieder, da die Anregungen direkt an Martin Schulz weitergereicht werden. Hat also wenig Sinn, sie weiter zu reichen.
    Ist dennoch hilfreich zu wissen, dass es eine solche Initiative über Parteigrenzen hinaus gibt.

    Jürgen Malyssek, 6. Februar 2017 um 14:11
    Lieber Herr Malyssek, natürlich respektiere ich eine Haltung, die aus Erfahrungen resultiert, wie Sie sie schildern. Es stellt sich dennoch die Frage, wie man damit umgeht.
    Dazu ein Beispiel meiner Erfahrung:
    Ich war völlig konsterniert, als ich von der (sehr willkürlichen) Auflösung einer meiner Klassen (mit die beste) erfuhr, was, wie ich vorausahnte, für viele Schüler katastrophal endete. (Und mir darauf eine Strafversetzung einbrachte.) Ich berief nicht nur einen Elternabend an, wurde auch bei Stadtrat und Bezirksverordnetenversammlung vorstellig. Antwort des Stadtrats, durchaus beeindruckt: „Sich für Gerechtigkeit einzusetzen bedeutet auch, Ungerechtigkeit zu ertragen.“
    Eine Antwort, die keineswegs als zynisch zu verstehen ist, vielmehr auch so interpretiert werden kann:
    Wer eine Ungerechtigkeit hinnehmen muss, sollte auch in der Lage sein, die nächste Gelegenheit, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, nicht verstreichen zu lassen.

    Einspruch in Sachen VW-Abfindung: Denn was hat Martin Schulz damit zu tun? – Ich bin da schon für saubere Trennung der Verantwortlichkeiten, schon in Hinblick auf eine politische Kultur. „Argumente“ wie die, einem Martin Schulz Verhalten seines (angeblichen) „Freundes“ Juncker in die Schuhe zu schieben, sind schlechtweg nicht tragbar.
    Natürlich sind Vorstandsboni eine Sauerei. (Meines Wissens sind die aber bei verschiedenen Firmen, zumindest in Deutschland, schon deutlich gekürzt worden.) Adresse für den Protest wären hier aber VW-Vorstand und Landesregierung Niedersachsen, nicht ein Martin Schulz. Vermutlich wird man da auch zur Antwort bekommen, dass man an langfristig wirkende Verträge gebunden ist, die nicht auf die Schnelle und schon gar nicht rückwirkend veränderbar sind.
    Politik ist nun mal das Bohren dicker Bretter, und auch von einer SPD-geführten Regierung würde man (selbst bei absoluter Mehrheit) keine Wunder erwarten können. Die Frage ist ist eben nicht allein die des Wünschbaren, sondern auch die nach den möglichen Alternativen.

  61. Lieber Werner,

    ich wollte mich nach Redaktionsschluss mit Deinem Anliegen befassen. Nun hast Du schon für Klarheit gesorgt. Vielen Dank!
    Ja, die Campact-Aktion ist ein Beispiel dafür, dass man sich auch als winzigster Teil der Zivilgesellschaft Gehör verschaffen kann. Ob und inwiefern es sinnvoll ist, dabei Maximalforderungen aufzustellen, das mag jeder für sich selbst beantworten.

  62. Lieber Herr Engelmann, danke für Ihre Rückmeldung. Bei beiden Punkten wollte ich aber noch etwas vervollständigen:
    Der Ausgangspunkt ist ja die jeweilige persönliche Erfahrung und was man draus macht.
    Die Aussage des Stadtrats in Zusammenhang mit dieser Schulsache, ist auch für mich durchaus beeindruckend, auch wenn man bei der ersten Konfrontation damit wahrscheinlich erst einmal die Luft anhalten muss. Ja, sie hat tatsächlich Bestand. Ich orientiere mich übrigens (und das hat u.a. – nicht nur – etwas mit meiner alten Arbeit bei vermeintlicher Aussichtslosigkeit mit Menschen ganz unten was zu tun)in ähnlicher konfrontativen, vielleicht auch hoffnungslosen Situation gerne am Beispiel des Mythos des Sisyphos, der immer wieder den Stein den Berg hinaufrollt und oben von selbst wieder hinunterrollt. Die Deutung dazu von Albert Camus, Sisyphos als Symbol der Selbstbehauptung des Menschen gegen die scheinbare Sinnlosigkeit des Lebens, weiter zu machen, Widerstand zu setzen (das heißt den Stein immer wieder den Berg hinaufzuwälzen), macht die einzigartige Würde des Menschen aus, am Leiden nicht zu zerbrechen. Diese Symbolik hat für mich immer eine große Bedeutung gehabt.
    Jedenfalls hat mich dieser Satz des Stadtrates an dieses andere (mythologische) Beispiel erinnert.
    Zum Zweiten: Ich habe Schulz nicht direkt in Verbindung mit dieser neuerlichen VW-Abfindung gebracht (da kann er wirlich nichts dafür), sondern nur, wie VW die SPD und den neuen Kandidaten, der sich gerade für die soziale Gerechtigkeit stark macht, in die Zwickmühle bringt. Wenn es allerdings eine Frage von Peanuts ist, dann bleibe ich zumindest etwas ratlos zurück. Klar, dicke Bretter bohren, wo nicht in diesem Theater!?

  63. Jürgen Malyssek sagt:
    6. Februar 2017 um 19:18

    Lieber Herr Malyssek,
    bevor der Thread ganz in der Versenkung verschwindet, doch noch eine Antwort. Ihre positive Reaktion auf mein Schulbeispiel hat mich zu neuer Überlegung veranlasst. Es könnte auch ein vereinfachtes Modell für die komplexen entfremdeten Beziehungen zwischen SPD und (ich sage mal vereinfachend) „fundamentalistischen“ ehemaligen Mitgliedern und Sympathisanten darstellen.
    Eine Beziehung, und eine entfremdete in besonderem Maße, verlangt die Reflexion über Verhaltensweisen beider Seiten. Schon hieraus wird deutlich, dass SPD-Kritiker den Fokus einseitig auf die Partei richten (manchmal in durchaus zutreffenden und konkreten Analysen), die eigene Position aber völlig aus der Betrachtung ausblenden.
    Emotional zugespitzt wird das deutlich in dem immer wieder zu hörenden Vorwurf vom „Verrat“. („Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ sang der von mir sonst geschätzte Franz-Josef Degenhardt.)

    Nun also zum Schulbeispiel, denn das ging ja noch weiter.
    Die Aufteilung meiner Klasse war vom Rektor verfügt worden, ohne dass er mich (ich war 3 Jahre lang deren Klassenlehrer) informiert oder gar an der Beratung beteiligt hätte. Bei der Durchsetzung der über meinen Kopf verfügten Entscheidung allerdings sollte ich mithelfen: durch einen Vorschlag, in welche Schülergruppen die Klasse aufgeteilt werden sollte.
    Sie verstehen, dass das Wort „Verrat“ das erste war, das mir bei dieser Zumutung durch den Kopf schwirrte: „Verrat“ an meinen Ideen von „Gerechtigkeit“.
    Erst lange Überlegungen brachten mich zum Umdenken: An wem wird denn „Verrat“ begangen: an Ideen oder nicht vielmehr an den Menschen, die von diesen Ideen betroffen sind? Mit welchem Recht konnte ich meine Ideen über die konkreten Belange der eigentlich Betroffenen, der Schüler stellen?
    „Verrat“ an den Schülern wäre es gewesen, aus Trotz ihnen nicht noch wenigstens hilfreich beiseite zu stehen, mit meiner Kenntnis ihrer Beziehungen untereinander wenigstens das für sie beste aus der Situation herauszuholen. – Dass diese Situation dennoch bei vielen zu einer Verweigerungshaltung mit anschließender Nichtversetzung geführt hat, steht auf einem anderen Blatt.

    Zurück zur SPD. Die Situation von SPD-Kritikern gleicht in vielfacher Hinsicht meiner damaligen. Die Frage ist, ob denn wirklich die elementaren Interessen von Benachteiligten dabei Richtschnur sind, oder nicht vielmehr die eigenen Ideen davon. – Die Antwort erscheint mir bei vielen – leider – eindeutig.

    Ein weiterer Punkt wäre anzufügen:
    Da werden, auch in den Medien, immer wieder sozial Benachteiligte zu Zeugen der Anklage gebraucht (oder missbraucht), und ihre – subjektiv verständlichen – Statements werden zu objektiven Beurteilungskriterien erhoben, um das Verdikt zu untermauern. Gefundenes Fressen für rechte Demagogen.
    So etwa neulich eine Reportage aus Duisburg-Marxloh. Interviewt wird eine Putzfrau, früher SPD-Wählerin, die wortreich ihrer Enttäuschung Ausdruck verleiht, sich schließlich mit großer Verachtung über unbestreitbare Erfolge wie den Mindestlohn auslässt, von dem sie selbst profitiert.
    Auch hier wieder: Alles wird auf (angebliche oder wirkliche) SPD-Versäumnisse fokussiert. Nicht in Ansätzen wird thematisiert, dass diese Frau schlicht Opfer eines gesellschaftlichen Klimas, insbesondere rechter Hetze geworden ist.
    Marx, der den Begriff des „Klassenbewusstseins“ geprägt hat, hat mit seinen Äußerungen über das „Lumpenproletariat“ auch schon markiert, welche Vorsicht im politischen Alltag hierbei angebracht ist, dass zwischen objektiven Interessen und Bedürfnissen einerseits und subjektiven Bewusstseinslagen streng zu unterscheiden ist.

    Fazit für mich:
    „Soziale Gerechtigkeit“ heißt, dass Belange sozial Benachteligter sehr wohl im Vordergrund stehen müssen – unabhängig von jeweiligen Einstellungen der Betroffenen. Zugleich aber muss von der Illusion Abstand genommen werden, dass deren subjektiven Einstellungen und Äußerungen Richtschnur für ein Handeln im Sinne von „sozialer Gerechtigkeit sein oder objektive Kriterien dafür liefern könnten. Dies kann sehr wohl bedeuten, dass eben so entschieden wie ihre Interessen wahrzunehmen sind, den subjektiven Einstellungen und Beurteilungen der gleichen Menschen entgegen getreten werden muss. In Zeiten von AfD und Pegida mehr denn je zuvor.

  64. Lieber Herr Engelmann,
    zum Schulbeispiel: Ich sehe schon auch diesen Punkt der Unterscheidung zwischen den eigenen Ideen von Gerechtigkeit und den (konkreten) Belangen der Betroffenen. Diese Nachdenklichkeit ist wichtig. Ich kenne das auch aus meiner Arbeit mit Wohnungslosen. Und meine eigene Richtschnur war immer, meine zumindest annähernd bürgerliche Lebensweise nicht zum Maßstab meiner Vorstellung von zu erreichender richtiger Lebensform für diese sozial benachteiligten Menschen zu machen. Das heißt, deren Lebensrealität wahrzunehmen und zu respektieren. Das hat sich für mich bis heute nicht geändert.
    Insofern kann ich sogleich Ihr Fazit mit einer im Kern zustimmenden Einstellung bestätigen. Auch dem Entgegentreten, sagen wir mal rassistischer und menschenverachtender Einstellungen aus dem Kreis derer, denen ich gleichzeitig Hilfe anbiete oder mit denen ich auch außerhalb der Profession in Kontakt stehe.
    Das, was Sie an Ihrem Schulbeispiel schildern ist jedenfalls hilfreich, sich der eigenen Motive und manchmal auch der eigenen alten Kränkungen durch Nachdenken mehr Klarheit zu verschaffen, um der Instrumentlisierung anderer Menschen zu entkommen.
    Das geht über das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ hinaus. Aber es ist auch so, dass ich das tue (nicht blind), von ich auch überzeugt bin. Und nicht um einer Partei oder einem politischen Wortführer zu gefallen.
    Die Situation mit der SPD ist insofern eine schwierige, weil sie, wie Sie auch selbst hintergründig beleuchten, vordergründige und tiefsitzende Wurzeln von Enttäuschungen, Verratsvorstellungen und offensichtlich bestehenden politischen Widersprüchen.
    Das, was Sie mit „komplexen entfremdeten Beziehungen zwischen SPD und … ehemaligen …“, trifft es schon ganz gut. Zumindest gehörte ich auch mal zu den alten Sympathisanten. Ich habe an anderer Stelle von meinen Erfahrungen mit Sozialdemokraten gesprochen und ich bin leider zu einem Ergebnis gekommen, dass unter dem Strich meine Skepsis ihnen gegenüber schwerlich kleiner werden.
    Politisch betrachtet hat es die SPD nie wirklich mit den Schmuddelkindern gehabt. Es war immer eine Abgrenzung da zum Subproletariat mit der Tradierung über die Sprüche wie „arm aber sauber“ oder arm, aber anständig“.
    Niemand anderes als die Agenda-Promotoren aus der SPD haben ihre Verachtung stärker zum Ausdruck gebracht als Schröder, Clement, Müntefering oder auch Struck ..

    Eigentlich tut mir der jetzt so kometenhaft aufgestandene Kandidat Martin Schulz sogar etwas leid, wenn man sieht, welche Riesenerwartungen auf ihn einschlagen und er selber auch so euphorisiert auftritt. Das kann bis zum 24. September gar nicht so funktionieren.
    Meines Erachtens liegt ein großes Problem in dieser Partei, dass mit dem Mythos des sozialen Aufstiegs aus der Arbeiterklasse bzw. aus ärmeren Verhältnissen, eine sozialdemokratische Mentalität verbunden ist, die eben diesen Aufstieg über Entbehrungen und Willenskraft ereichbar macht. Die Klassenfrage wird reduziert auf die Bildungsgerechtigkeit. (Ich bin selbst damals über den 2. Bildungsweg zum Abitur und dem Studium gelangt, ich kenne das)
    Und jetzt sollte alles anders werden?

    Aber ich schweife wohl gerade etwas ab und verordne mir an dieser Stelle eine Gedankenpause. Werde mich aber gerne noch zu dem Beispiel der Duisburg-Marxloh-Reportage (Sozial Benachteiligte als Zeugen der Anklage) äußern.

  65. @ Jürgen Malyssek

    Lieber Herr Malyssek,
    danke für die ausführliche Antwort. Insbesondere freut mich, dass Sie dem, was ich als „Fazit“ formuliert habe, zustimmen können. Denn das hat ja auch mit einem Lernprozess anhand eigener Lebenserfahrung zu tun. (Zumindest sollte es so sein.) Ich sehe das auch als Beispiel, wie hinreichend konkrete und respektvolle Einlassungen sehr wohl zu einem Klärungsprozess führen können.

    Zur Situation der SPD:
    Martin Schulz bedaure ich nicht, beineide ihn aber auch nicht. Er weiß wohl selbst genug, worauf er sich eingelassen hat.
    Oberflächlich und sicher kurzlebig ist wohl die Erwartung einer grundlegenden Veränderung durch bloßen Personalaustausch.(Das hat sicher mit der verbreiteten Neigung zu Personalisierung zu tun.) Entscheidend vielmehr ist, auch die dahinterstehenden grundlegenden strukturellen Veränderungen zu erkennen und zu reflektieren: in der Gesellschaft wie besonders in der eigenen Wählerschaft.
    Verkürzt ausgedrückt: Die Arbeiterpartei war einmal und wird auch nie mehr zurückkommen. Die frühere soziale Basis, die Industriearbeiterschaft, existiert ja kaum noch mehr – zumindest nicht in den früheren Ausprägungen. Denkmodelle des 20. und noch weniger des 19. Jahrhunderts können da nicht mehr ausreichen. Und das heißt für die SPD vor allem: programmatische Ausrichtung an sozialen Belangen alleine genügt nicht mehr. Es geht um mehr.

    Historisches Beispiel:
    Ich habe 1968 als Student in Paris zugebracht, davor die Bewegung nach dem 2.Juni 1967 in Berlin erlebt.
    Auffällig: Die Bemühungen der Studenten in Deutschland, die Arbeiterschaft zu einem Generalstreik zu bewegen, sind grandios gescheitert. Sie haben die Kluft zwischen intellektuellem und vom Arbeitsprozess geprägtem Denken völlig unterschätzt. In Paris war das zunächst ganz anders. Da kam es zum Generalstreik. Hier war die Stellung von Intellektuellen in der Gesellschaft eine andere. Freilich dauerte auch das nur kurz. Denn Intellektuelle konnten und können keine Machtperspektive bieten.

    Zur Situation heute:
    Was nottut, wäre eine grundlegende Analyse der realen sozialen, soziokulturellen und politischen Gegebenheiten und zu erwartenden Herausforderungen unter den Bedingungen der Globalisierung und nationalistischer Gefahren – sowie die programmatische Umsetzung der Resultate. Ein langfristiges Unternehmen, das auch in einer Legislaturperiode nicht zu bewältigen ist. Vor allem aber: Das auch in eine realistische Machtperspektive eingebettet ist. Und das wiederum erfordert die Entfaltung einer Bewegung und eben auch Vertrauensvorschuss für den/die Vorsitzenden.
    Ich möchte hier das Marxsche Wort von der „Idee, die zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift“ nicht allzu sehr bemühen. Ich halte es aber im Prinzip nach wie vor für richtig. Und es könnte auch hier als Richtschnur dienen.

    Was also heißt das für die SPD?
    Die oben genannte Kluft zwischen Intellektuellen und Arbeitern existiert in dem historisch überlieferten Maße und in dieser Form nicht mehr. Es hat eine Annäherung in zweierlei Hinsicht gegeben: Eine Form von „Verbürgerlichung“ der Arbeiterschaft durch Automatisierung und Digitalisierung einerseits, eine Annäherung der „bürgerlichen Mitte“ nach unten durch soziale Verunsicherung andererseits.
    Veränderungen, die gegenwärtig bewusstseinsmäßig – auf beiden Seiten – nach rechts bis extrem rechts ausschlagen. Dies aber ist kein Naturgesetz. Dies spiegelt lediglich die Verunsicherung wider, die Veränderungen mit sich bringen, und die sich in emotionalen Ausschlägen manifestiert.
    Zugleich aber bietet diese „Proletarisierung“ moderner Prägung auch eine Chance, das genannte Marx-Wort in die Realität umzusetzen. Freilich unter Voraussetzungen, die da wären:
    (1) eine „Idee“ zu formulieren, die der Lebensrealität aller betroffenen gesellschaftlichen Gruppen entspricht
    (2) allen Spaltungsversuchen von rechts und rechtsaußen (gerade auch zwischen denen an der untersten sozialen Leiter: sprich sozial Benachteiligten und Flüchtlingen) mit aller Entschiedenheit entgegen zu treten
    (3) den entscheidenden Gegner dieser Idee unter den Bedingungen der Globalisierung mit monopolkapitalistischem Vorzeichen zu kennzeichnen und zu entlarven
    (4) Modelle der Bewältigung sozialer Fragen unter den Bedingungen der Globalisierung anzubieten
    (5) die Perspektivlosigkeit insbesondere vermeintlicher „Alternativen“ mit nationalistischem und isolationistischem Vorzeichen aufzudecken
    (6) zumindest mittelfristig eine reale Machtperspektive anzubieten.

    Ein Mammutunternehmen, gewiss. In einer Gesellschaft, die sich in einem bisher ungekanntem Maße als volatil erweist, aber nicht ohne Chancen. Die Euphorie, welche die Kandatur von Martin Schulz ausgelöst hat, ist nur ein Indiz dafür.
    Und Aufforderung zugleich, eine kurzfristige Euphorie aufzugreifen und in eine zielgerichtete, langfristige Bewegung überzuführen, die auch Krisen überdauert. Eine Aufforderung vor allem an Menschen, die Lebenserfahrung und Kämpfergeist in eine gemeinsame Aufgabe einbringen können.
    Ehrliche, respektvolle Auseinandersetzung – so auch in diesem Blog – können sicher ein Teil davon sein. Das wird aber nicht ausreichen, und es gilt, auch andere Formen zu finden, um einer gemeinsamen „Idee“ zum Durchbruch zu verhelfen.
    Wichtig ist, den ersten Schritt zu wagen und überhaupt in den Kommunikationsprozess einzutreten.

  66. Noch war es in der FR nicht zu lesen; dehalb sei jetzt schon soviel verraten: Der Kandidat Schulz ist ein hunanoider Roboter, den die SPD vorerst bis zur nächsten Kanzlerinnenwahl von der Nanyang Technological University in Singapur geleast hat. Der echte Martin Schulz genießt währenddessen die Annehmlichkeiten dieses asiatischen Inselstaates in einer abgeschlossenen Wohlfühloase. Wer das Dilemma mit Gabriel kennengelernt hat, braucht nicht viel Phantasie, um die Vorteile dieses Verfahrens zu erkennen.

  67. Lieber Herr Engelmann,
    ich war vorhin gerade dran, Ihnen noch zu antworten, aber dann kam eines zum anderen und da ich jetzt anschließend unterwegs bin, wollte ich Ihnen kurz mitteilen, dass Sie morgen von mir hören. Es sind doch noch paar interessnte Punkte, die ich gerne mit Ihnen ausgetauscht hätte: Zur SPD, zur Arbeiterschaft, zur Arbeitswelt heute und halt noch die Stichworte zur Reportage Duisburg-Marxloh.
    Im Übrigen, weil Sie Paris 1968 erwähnt haben: Ich war im August 1968 in Paris unterwegs und habe das Spektakel, die große Demo am 21.8. für Prag (Die Russen waren in Prag mit Panzern eingerückt; Ende des Prager Frühlings )mit erlebt. Es ging heiß her am Place St. Michel usw. Ich nehme an, Sie waren auch vor Ort?
    Bis morgen.

  68. @ Jürgen Malyssek

    Nur kurz die Antwort auf die letzte Frage:
    Ich war von Anfang (5. Mai, Rue Gay-Lussac: eingekesselt bis ca. 5 Uhr morgens) bis zum Ende bei den „évènements du mois de mai“ (wie es später hieß) dabei – (Pfingsten, dann noch die verschobenen Prüfungen „Civilisation française“).
    Ich war ja Student an der Sorbonne, überwiegend aber bei den Germanisten im Grand Palais, wo ich u.a. über die Ereignisse in Berlin berichtete. Meine Frau studierte in Nanterre Philosophie. Da war auch Cohn-Bendit (Dani le rouge). Den habe ich eine gute Woche vor dem 5. Mai bei einer Diskussion mit dem Tübinger Philosophen Bloch kennengelernt – war nicht zu übersehen (und vor allem nicht zu überhören). Im Unterschied zu ihm bin ich als Ausländer aber nicht ausgewiesen worden. Nicht, weil ich keine dreckigen Hände gehabt hätte („Nachweis“ für Schmeißen mit „pavés“ (Pflastersteinen), später Name einer Zeitung), sondern, weil man mich nicht erwischt hat.
    Berichtenswert vielleicht noch der Tag der großen Gegendemonstration der „Bürger“ (mit Autokolonnen) auf den Champs Elysées und dem „rive droite“, während am „rive gauche“ die Studenten das von CRS (Schulter an Schulter, mit Schilden bewaffnet) umzingelte „quartier latin“ umrundeten. Da nisteten sich dann später Clochards ein.
    Für mich das Bewegendste eine Nacht im „Odéon“ unter dem „drapeau noir“. Da fanden Tag und Nacht Diskussionen statt, sehr hitzig, aber durchaus tolerant, was mich sehr beeindruckte. Am Eingang eine große Banderole: „L’Odéon est ouvert“. (So ähnlich muss es wohl im „Konvent“ während der französischen Revolution zugegangen sein.) Man wurde lediglich am Eingang nach Waffen und Fotoapparaten durchsucht. (An sowas hatte ich aber nicht gedacht.)
    Jean-Louis Barrault, der berühmte Pantomime, war damals Direktor des „Odéon“. Er wurde darauf entlassen, weil er bei der Besetzung durch die Studenten nicht die Polizei geholt hatte. Er gründete danach mit Madeleine Renaud das Theater „Gare d’Orsay“ (heute Museum). Ich habe es mehrfach besucht, als Theater höchst eindrucksvoll.
    Ein schönes Wochenende!

    An Bronski meine Entschuldigung: Soviel Abschweifung darf doch wohl sein?

  69. Lieber Herr Engelmann,
    erst einmal ein Dankeschön für den Paris-Report!
    Sehr spannend!
    1968 habe ich noch in der Druckereibranche in Wiesbaden gearbeitet und erst später studiert.

    Zurück zur SPD und zur Arbeiterschaft …
    Natürlich bedaure ich Schulz nicht wirklich. Aber es geht so etwas in die Richtung der Wahrnehmung, wie sie gestern in der FR-Kolumne Brigitte Fehrle beschrieben hat: „Vorsicht Stimmung“.
    Die Arbeiterpartei, die war einmal, so wie wir sie durchaus noch gekannt haben. Richtig.
    Mit den starken Veränderungen in der Arbeitsgesellschaft haben sich ja auch die Gewerkschaften verändert. So’n bisschen kommen sie jetzt wieder in Bewegung.
    Ich würde aber noch von der Arbeiterklasse (allerdings ohne Klassenbewusstsein) sprechen. Dabei war zuletzt die Lektüre von Didier Eribon mit „Rückkehr nach Reims“ hilfreich. Ich mache da zwischen Frankreich und Deutschland, grob betrachtet, erstmal keinen großen Unterschied.
    Die Arbeiterklasse verdient eine neue Beschreibung. Ich denke da an den bizarren Dienstleistungssektor. Klar, die frühere soziale Basis, die Industriearbeit, sagen Sie, existiert kaum noch mehr. Auch richtig.
    Das ganz große Problem ist für mich die Entwicklung der Konsumgesellschaft, die die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Klassen auf eine Art zu verwischen vermag, da die Bedürfnisorientierung der Menschen eigentlich nur „dem Markt“ folgt. Alles ist Markt.
    Insofern ist der Begriff Klassenkampf auch schon obsolet.
    Aber es ist richtig, dass es für die SPD (aber auch für die Linke)um mehr geht als um die programmatische Ausrichtung an sozialen Belangen. Ein bisschen von diesem erforderlichen Mehr sickert für mich in dem Artikel von Fabiola Rodriguez Garzón im FR-Feuilleton vom 3. Februar („Keine Rückkehr zum Ressentiment“)durch. Es geht dabei auch um die Frage der Herrschaft und der Beherrschten.

    Historisches Beispiel: Das was Sie 1968 in Paris erlebt haben und davor die Bewegung nach dem 2. Juni in Berlin:
    Ich stimme Ihnen zu, dass die Bemühungen der Studenten in Deutschland, die Arbeiterschaft zu einem Generalstreik zu bewegen, wirklich gescheitert sind. Das hatte auch was mit einer intellektuellen und bürgerlichen Abgehobenheit der teils hoch aktiven Studentenschaft zu tun, der Sprache, der Ideologie, der sozialen Distanz u.a.m. Wahrscheinlich waren Cohn-Bendit und Dutschke noch die klarsten unter den Studentenführern. Das werden Sie sogar besser oder anders beurteilen können als ich.
    Ich selbst zählte damals zur Arbeiterschaft.
    Die Franzosen und der Generalstreik, das ist mit der sozialen Bewegung in Deutschland vom Protestpotenzial, vom Ausmaß und der Wirkung nicht zu vergleichen.
    Ich halte weiterhin die Intellektuellen für eine wichtige Schicht im Kampf um die Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es gab in den 1950, 60er,70er Jahren viele wichtige Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler. Ich gehe hier nicht ins Detail, aber es fällt mir schwer, aktuell bedeutsame Figuren spontan zu nennen.

    Zur Situation heute: Sie betonen die notwendige und grundlegende Analyse der realen sozialen, soziokulturellen und politischen Gegebenheiten … die Herausforderungen unter den Bedingungungen der Globalisierung. Ich sehe das keinen Deut anders. Durchaus auch in Verbindung mit dem Marxschen Wort von Idee zur gesellschaftlichen Praxis …
    Ich möchte aber noch hinzufügen – und das wäre der Lackmus-Test für die Sozialdemokraten in ihrem vermeintlichen Stimmungshoch -, dass außer Analyse, auch der politische Wille zu einer gundlegenden gesellschaftlichen Veränderung da sein muss. Und da fehlt mir der irdische Glaube. Da ist mir zuviel Theater im Spiel.
    Mit dem, was Sie mit der verschwindenden Kluft zwischen Intellektuellen und Arbeitern beschreiben, bin ich noch etwas in abwartender Stellung. Ich meine aber etwas Ähnliches weiter oben zum Ausdruck gebracht zu haben, mit der Marktdominanz und der Konsumgesellschaft.
    Was die Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung aus der Arbeitsgesellschaft noch machen wird, das steht zwar nicht in den Sternen, aber da sind die Experten von Science-Fiction meistens äußerst treffsicher.
    Jedenfalls sind die zukünftigen und jetzt schon wirkenden Herrschafst- und Machtverhältnisse wohl nicht mehr mit der Politik, wie wir sie jetzt noch kennen und ausüben, beeinflußbar, angreifbar. Ich denke da an Silicon Valley, diese Welt des Größenwahnsinns.
    Sie führen gegen Ende die sechs Voraussetzungen für die Chancen einer grundlegenen Veränderung auf, die das bisher Gesagte inhaltlich sehr treffend abrunden. Da möchte ich wirklich nicht widersprechen. Und es sind auch anspruchsvolle Thesen. Das müssen sie auch sein, gerade um aus diesem zeitgeistigen Gequatsche von Plattitüden, Sprechblasen und Stimmungsaufhellern herauszukommen.
    Ein Mammutprogramm, gewiss – aber wichtig, wenn man es in dieser Richtung verstanden hat, auch wenn die persönlichen Kräfte nicht ausreichen werden. Es bewahrt ja auch vor der anderen Variante des Größenwahns. Trotzdem: Denken hilft.
    Insofern ist Ihre so bezeichnete Aufforderung, „Lebenserfahrung und Kämpfergeist in eine gemeinsame Aufgabe einbringen zu können“ perspektivisch sehr lohnenswert. Perspektivisch meint dann auch, dass junge Generationen die gemeinsame Aufgabe in ihrer Weise fortführen müssen. Da bin ich nicht ganz ohne Hoffnung.
    Gerne bestätige ich Ihnen auch, dass wir hier im Blog „eine ehrliche, respektvolle Auseinandersetzung“ haben. Unser Austausch (auch von einigen Lebenserfahrungen) hat jedenfalls bei mir zu weiteren inhaltlichen Verdichtungen, Klärungsprozessen, ja auch Lernprozessen geführt.
    Auch Ihnen noch ein angenehmes Wochenende und vielen Dank für den kreativen Austausch.
    P.S.: Duisburg-Marxloh-Beispiel dann doch später.

  70. @ werner engelmann @ jürgen malyssek

    Sehr interessant was sie schreiben über die Zeit in Paris, als sie studierten
    1968 war ich noch ein Kind, wuchs im Frankfurter Westend auf, auf halben Weg zwischen Opernplatz und Universität. Die Demonstrationszüge bewegten sich von der Universität voran, es war dicke Luft, wenn sie mit der Polizei zusammentrafen. Später lebte ich im Vorort Frankfurts, dort gab es keine Uni und keine Demos, dafür aber jede Menge Woodstock.
    Mit dem Woodstock ist es aber inzwischen auch zuende, weil der Hippie nur die Musik kennt und die Drogen, tatsächlich aber etwas mehr verlangt wird, wie zb eine Erwerbsbiographie. Na gut, als echter Hippie erhalte ich vom Grundsicherungsamt meine Brötchen.Glücklich bin ich darüber nicht, bin ich gleich doppelt bestraft. Unser grösstes politisches Ziel war ja seit jeher, Woodstock 1969, die Legalisierung von Cannabis.
    Dabei sind die Hippies in der Gegenwart schon weit vorangekommen.
    Wenn ich das mit ihren Zielen aus Paris 1968 vergleiche, dann ist doch die politische Forderung der Hippies eigentlich ziemlich simpel “ Legalize „

  71. @ bronski
    hoffentlich sprenge ich nicht die Diskussion

    Es geht ja um den Kanzlerkandidaten Schulz in diesem Thread und nicht um Woodstock. Ich denke falls die Grünen in eine mögliche Koalition kommen, sei es mit Merkel sei es mit Schulz, wird die alte Forderung des „Legalize it“ erfüllt werden.
    Deswegen überzeugt mich Martin Schulz nicht weiter als Merkel.

  72. @ Jürgen Malyssek

    Lieber Herr Malyssek,
    danke für Ihre vielen Reflexionen, die exemplarisch zeigen, was „ehrliche, respektvolle Auseinandersetzung“ bedeutet. Weshalb ich das auch schätze.
    Dennoch gleich zu Beginn ein Wermutstropfen: Ich mache mir nichts vor, dass dies die große Ausnahme ist. Gewöhnlich schallt einem, wenn man eine Reflexion zu einem komplexen Problem versucht, prompt der Vorwurf der „Schulmeisterei“ entgegen (lese ich auch gerade wieder – wie orginell!), offenbar ohne zu merken, welches Armutszeugnis man sich damit selbst ausstellt. Oder man wird in den „Elfenbeinturm“ gesteckt. – Geschenkt!
    Was durchaus zum Thema führt: Geht es Journalisten denn besser? Und Politikern, Parteipolitikern im Besonderen? – In Zeiten, in der Meinungen – faktenfrei – aus dem hohlen Bauch gesaugt werden, möglichst alles auf Twitter-Format reduziert, und unter „Diskussion“ verstanden wird, dem anderen seine Klischees um die Ohren zu schlagen.
    Und damit zur „Entfremdung mit der SPD“: Könnte es nicht sein, dass dieser „Zeitgeist“ – unbewusst – auch hier (etwa in Vorwürfen von „Verrat“) eine nicht unerhebliche Rolle spielt? – Man wird jedenfalls, wenn man etwa Chancen für die SPD ausloten will, gut daran tun, sich nur auf das zu konzentrieren, was konstruktiv ist und weiterhelfen könnte. Und die eigene Position aus der Reflexion nicht auszuschließen.

    Natürlich kann es hier nicht darum gehen, so etwas wie einen Programmentwurf aus den Fingern zu saugen. Bestenfalls ein paar Überlegungen zur Klärung des Vorverständnisses. Im Folgenden stichwort- und thesenartig reduziert und beschränkt auf Kernbegriffe.

    „Klasse und Klassenbewusstsein“.
    Ich bin überzeugt, dass der Inhalt dieser Begriffe – wie die Marxsche Theorie, als kritische Methode und erkenntnistheorietischer Ansatz begriffen – nicht überholt ist. Doch in welcher Weise? Historische Klärung ist notwendig, in Abgrenzung zu dogmatischen Verirrungen.
    Verirrung: Erwartung, dass „Klassenbewusstsein“ schon aus der Zugehörigkeit zu einer Klasse resultiert, positiv wie negativ. Beispiel DDR-Praxis: Regimehörigkeit als Ausdruck von „Klassenbewusstsein“, Abschottung von „bürgerlicher Klasse“.
    Neudefinition unter Berücksichtigung struktureller Veränderungen:
    Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Produktionsmittel, Ressourcen und Arbeitskraft im Gegensatz zu „Lohnabhängigen“, die prinzipiell dieselben Erfahrungen von Abhängigkeit machen.

    Vorteil dieses Verständnisses:
    Vereinheitlichung, Sammlung der Kräfte statt Spaltung durch falsche Gegensätze:
    Verallgemeinerte Kritik am „Establishment“: Was steckt anderes dahinter als Intellektuellenhass, Versuch, Menschen gegeneinander auszuspielen, vom Kernkonflikt Verfügungsgewalt – Abhängigkeit abzulenken? Beispiel: Trump nicht als Sprachrohr und „Beschützer“ der „Abgehängten“, sondern als deren Hauptgegner.

    Schlussfolgerung für politischen Programmentwurf:
    Feststellung und Formulierung von Gemeinsamkeiten, sozialen und politischen Interessen; von Kernkonflikten; Machtverhältnissen; möglichen politischen Strategien; möglichen Bündnissen; Essentials und möglichen Kompromissen.
    Hier spielt die teilweise Angleichung der traditionellen „Arbeiterschaft“ und „Mittelschicht“ (Abstiegsängste) eine Rolle, erfordert eine Neudefinition.

    Schwierigkeiten:
    – Dogmatisches Vorverständnis: „Das Kapital“ ist kein monolitischer Block, es gibt verschiedene Fraktionen (z.B. anglo-amerikanische als aggressivste Fraktion) mit Teilinteressen, die sich mit Lohnabhängigen überschneiden (z.B. Kaufkraft), mehr oder weniger Kompromissbereitschaft, z.B. betr. Mitbestimmungsmodelle.
    – Sprachproblem, tradierte Vorurteile:
    Diese werden von „Populisten“ bewusst geschürt und zur Spaltung der Gesellschaft genutzt (vgl Eingangsbemerkungen: Lehrer-, Journalisten-, Politikerbashing, Intellektuellenhass, dazu natürlich Flüchtlings- und Fremdenhass).
    „Konsumgesellschaft“ ist mir ein zu vager Begriff, der sich mit den genannten Diverisfizierungsstrategien überschneidet, nicht notwendigerweise zu Vernebelung eigener Interssen und Sprachdekadenz führen muss.
    Es ist noch keine gemeinsame Sprache erkennbar, zugespitzt zu emotionalen, aber rational abgesicherten Kernbegriffen, in denen sich viele wiedererkennen können („Idee, die die Masse ergreift“). Wohl derzeit eine Kernaufgabe „der Politik“, nur erfüllbar, wenn sich möglichst viele in den Diskussionsprozess einbringen.

    Das soll zunächst reichen. Denn man sieht: Wenn man der Sache auf den Grund geht, stößt man auf viele Detailfragen. Sich denen zu stellen, macht aber wohl den Unterschied aus zu billigem Populismus.
    Noch einen schönen Sonntag!

  73. Lieber Herr Malyssek,
    natürlich warte ich gespannt auf Ihre Einschätzung, wie mit mit Verhaltensweisen wie der genannten Putzfrau von Duisburg-Marxloh umzugehen sei. Ist ja ein wichtiger Punkt und Voraussetzung für eine zu erarbeitende Perspektive.
    Inzwischen, da es auch für Sie von Interesse scheint, einige Bemerkungen zu Frankreich, die man kaum in politischen Kommentaren lesen wird, die aber dennoch für die Einschätzung wichtig sind: Bedeutung von Familie und Nation. Dies aus der Perspektive von nun 50jährigen Beziehungen: Es war 1967, in meinem 2. Sudiensemester, als ich im Rahmen des dt.-frz. Jugendwerks den ersten Jugendaustausch organisierte, womit alles begann.

    Familie:
    Ich habe hier erst erfahren, was Familienzusammenhalt bedeutet. Die Unterschiede zwischen Familienmitgliedern mögen manchmal extrem sein, auch politisch. Wenn die Familie zusammentrifft. ist das aber kein Thema mehr. Ein Onkel meiner Frau hat über viele Jahre große Familientreffen organisiert (bisweilen bis über 100 Teilnehmer), und wir sind nun, nach seinem Tod, in seine Fußstapfen getreten.
    Der Krieg Marine LePens mit ihrem Vater ist keineswegs typisch. Das hat mit Marines Ehrgeiz zu tun, auf Teufel komm raus ins Präsidentenamt zu kommen, wobei der offene Rassismus ihres Vaters ein Stein auf dem Weg ist.
    Politische Bedeutung hatte dieses Familienverhältnis z.B. bei der Frage der „Homoehe“. Da haben sich die Sozialisten, nicht nur bei Katholiken, gehörig in die Nesseln gesetzt. Natürlich auch 68: Da zeigten sich – in scharfem Kontrast zu Deutschland – die meisten Bürger (anfangs auch die Arbeiterschaft) mit den rebellierenden Kindern solidarisch. Erst, als nationaler Zusammenhalt in Frage stand, schlug die Stimmung um.
    Ein Beispiel, wie klug (ein seinem Sinn) de Gaulle im Mai 68 damit umging: Der hatte über Wochen Benzin verknappen lassen. Am Pfingstsamstag aber sprudelte es wieder. Familienausflug kommt vor Revolution, und damit war alles zu Ende.

    Nation:
    Es wird wohl kaum ein Land geben, in dem so viel über die eigenen Politiker geschimpft wird, wie Frankreich. Da kann das Bild, z.B. was den FN angeht, durchaus täuschen. So, wenn man deren Wähler pauschal als Nationalisten begreift. Bei vielen geht es aber schlicht um „Ras-le-bol“-Stimmung („Schnauze voll“). Davon kann LePen im 1. Wahlgang enorm profitieren. Im 2. Wahlgang reicht es aber nie (bei den Regionalwahlen nicht einmal mit 55 % im ersten Wahlgang). Die Nation einer LePen zu überlassen, geht eben doch zu weit. Da bin ich auch, was die Präsidentenwahlen angeht, optimistisch. Die Anbiederung an Trump wird LePen eher schaden: Französischer „Patriotismus“ ist kein in dem Maße ausschließender wie der eines Trump in Bezug auf Mexikaner. Vergleichbare Aggressivität gegen mich als Deutschen habe ich nie erfahren. Eher Bewunderung.
    Wenn die Nation auf dem Spiel steht, stehen alle wieder zusammen, über politische Grenzen hinweg. Das hat sich nach den Attentaten gezeigt. Das aber lässt sich nicht so leicht vereinnahmen, wie eine LePen glaubt. Der FN stand bei der gemeinsamen nationalen Trauer jedes Mal abseits. Sehr zurecht!
    Das erklärt auch das Umschwenken der Arbeiterschaft 68 auf die Linie de Gaulles nach dem Generalstreik.

    Mein Fazit: In beiderlei Hinsicht gibt es in Deutschland durchaus etwas zu lernen. Was nicht heißt, dass Übernahme von Strategien sinnvoll ist. Die jeweiligen Bedingungen im eigenen Land sind zu berücksichtigen. Ein Vorteil für Nationalisten, die hier vielleicht (zum Teil) das Ohr näher an denen haben, die sie „das Volk“ nennen. Zugleich aber auch ihr Pferdefuß, wenn sie von einer „Internationale“ der Nationalisten träumen. Das wird grandios scheitern, und hoffentlich zuerst in Bezug auf Trump.
    Solche Überlegungen erscheinen mir wichtig, wenn es um den Umgang mit nationalistischen „Populisten“ und die nötige klare Abgrenzung geht. Gerade auch für eine künftige SPD-Linie.

  74. Lieber Herr Engelmann,
    ich komme zunächst auf den liegengebliebenen Punkt von Duisburg-Marxloh zurück, bevor er wieder zum Schlusslicht wird:
    Das, was für mich häufig das Problematische an Sozialreports ausmacht, ist, dass die betroffenen Menschen etwa eines Stadtteils, der für die Armutsentwicklung Beispiel (geworden) ist, „zu Zeugen der Anklage“ ans Mikrophon gelangen, Gefahr laufen, von den jeweiligen Medien manipuliert zu werden – im Sinne der Bestätigung der Schlagzeile, des Titels der Sendung. Das Subjekt kann in diesen Situationen schwerlich sich anders ausdrücken und verhalten, wie es einer gewissen Regievorgabe entspricht. Sozial Benachteiligte entsprechen dann entweder ganz den Vorgaben oder ufern gerne persönlich aus, in ihren Enttäuschungen oder in ihrem Zorn über die persönliche Lage. Das Bild, das dann oft entsteht, bleibt ein verzerrtes und man hätte diese Sozialreportagen oft besser dem Blick der Journalisten überlassen.
    Wir erleben Ähnliches häufig in den Berichten über Obdachlose und Wohnungslose, wo die Einzelschicksale zwar dazu gehören. Diese aber in einem fast erwartbaren „beweinenswerten“ Zustand präsentiert werden, der sie dann auch als von Armut und Elend betroffene Einzelschicksale zurücklässt, ohne gesellschaftliche Bezogenheit. Die Klischees, die Stereotypen bleiben über Jahre der zuschauenden Öffentlichkeit erhalten. Im schlimmsten Fall endet eine Sendung als Doku-Soap. Was gesagt und berichtet wird, bleibt ohne Konsequenzen für die Gesellschaftspolitik. Allenfalls gesellen sich die vielen Initiativen und Ehrenamtlichen-Gruppen dazu, um Not zu lindern, ohne dass das den Sozialstaat nötigt politisch zu handeln oder die eigenen Gesetze einzuhalten (Paradebeispiel: Die bundesweiten Tafeln, die seite über 20 Jahren etabliert und systemerhaltend und vielleicht in bester Absicht arbeiten).
    Auch eine Putzfrau, die durch alle Sendungen und Talkshows gereicht wird, nutzt sich innerhalb kurzer Zeit wieder ab und bewirkt, objektiv betrachtet, gar nichts mehr.
    Ab einem bestimmten Zeitpunkt gehört sie dann selbst zur Ausstattung des Senders und taugt auch, als Opfer des herrschenden sozialen Klimas, der sozialen Schieflagen, nicht mehr.

    Auf Ihre Frankreich-Erfahrungen und Rückschlüsse für den Umgang mit der politischen Entwicklung heute („Entfremdung mit der SPD“) komme ich später wieder zurück. Bis dahin.

  75. Guten Abend, Herr Engelmann,
    Ihre Bemerkungen zu Frankreich sind für mich interessant, weil Sie ein spezielles Beziehungsgeflecht zu Land und Leuten aufgebaut haben. Ich bin nur Reisender gewesen. Paris ist mir recht vertraut, aber ohne ein persönliches Netzwerk. (Die Clochards sind mir damals häufig über den Weg gelaufen und haben Eindruck hinterlassen)
    Familienzusammenhalt und Politik: „Familienausflug kommt vor Revolution“ (1968)- ein Aspekt, der mir sicherlich nicht so klar war. Didier Eribon hat in seinem Buch beschrieben, wie und warum er sich als junger Mensch von seiner Familie (Arbeiterklasse) getrennt hat, um in Paris Karriere zu machen. Und erst spät wieder Kontakt zu seiner Mutter aufgenommen hat.
    Unter dem Stichwort Nation schreiben Sie, dass Sie nie als Deutscher Aggressivität von Frankreichs Seite erfahren haben. Als ich meine eher kurzen Aufenthalte zwischen Mitte 1960er/Anfang 70er in Frankreich hatte, waren die Begegnungen mit meist älteren Franzosen ohne das Stichwort „Hitler“ eher selten.
    Meine Erfahrungen mit Familienzusammenhalt und Nation in Deutschland sind sehr zwiespältig. Dazu muss ich allerdings auch sagen, dass meine ganz persönlichen Erfahrungen mit Familie eher desillusionierend, auf dem Hintergrund unserer erlebten Nachkriegszeit als Flüchtlinge. Ich bin ein Soldatenkind, in Norwegen geboren. Der Krieg ist für meine Eltern privat nie zuende gegangen. Ein nationales Gefühl ist bei mir nie wirklich entstanden, obgleich gerade die Norweger sehr stolz auf ihr Land sind.
    Das Nationalgefühl der Deutschen ist für mich immer und bis heute ein sehr fragiles, wenig überzeugendes geblieben. Es blitzt nur dann auf, in der Unverfänglichkeit hoher Festlichkeit oder bei den Fußballweltmeistereschaften („Sommermärchen“). Vielleicht liegt in der verheerenden Niederlage des Zweiten Weltkrieges auch eine Wurzel dieser militaristischen nationalen Auftritte und Bekenntnisse von den Neonazis und jetzt dieses Nationalgehabe der Aufgebrachten und der jetzigen politischen AfD.
    Insofern sind Betrachtungen von unterschiedlichen nationalen Mentalitäten, Ausprägungen oder „Ausartungen“ gar ein gewisses Lernfeld, die Verfassung im eigenen Lande besser wahrzunehmen. Ohne Vergleichsmöglichkeiten dreht man sich oft genug im Kreise.
    Der Aspekt und die Bedeutung von Familie und Nation verdienen weitere Beachtung, wenn man sich die weitere politische Entwicklung eben auch in Deutschland (nicht nur)genauer anschauen will. Der neue Kanzlerkandidat Schulz hat schon erkannt, dass die Gesellschaft ins Rutschen geraten ist und scheinbar sind Sozialdemokraten und Sympathisanten hellhörig und etwas „angebaggert“ worden.
    Nur, wenn es bei den bisher üblichen Appellen und Anpassungsritualen an den wirtschaftspolitischen Mainstream bleibt (da hat am Samstag Stephan Hebel in seinem Leitartikel wieder sehr genau den Finger auf die Wunden gelegt), wird es schwerlich anders werden können. Der neue sozialdemokratische Bundespräsident strotzt auch nicht gerade vor allzu großer politischer Richtungswechselattitüde. Zur Zeit beklatschen sie sich in der SPD so stark untereinander, dass man den Eindruck haben kann, yes we can … but than we can’t.
    Meine Entfremdung mit der SPD ist in unserer Debatte wohl klar zum Ausdruck gekommen. Und ich möchte inzwischen eben, dass Die Linken mehr Einfluss in der Berliner Politik gewinnen. Was aber nicht heisst, dass damit schon für eine Regierungsbeteiligung wäre. Und, um wieder D. Eribon zu zitieren: „Wir brauchen keinen linken Populismus“. Das Ganze ist für mich im Moment ziemlich offen, trotz der SPD-Euphorie. Wahrscheinlich sollte man die Rechnung auch nicht ohne die Wirtsleute Seehofer-Merkel machen, deren heiterer Schulterschluss nicht nur symbolisch zu sehen ist.
    Noch einen angenehmen Abend! Und nochmals danke für die vielen Anregungen.

  76. An Stefan Vollmershausen: Die Pop-und Rockmusik der 1960er und -70er Jahre waren nicht unwichtig für die Zeitenwende bzw. für die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas. Woodstock war sicher ein starkes Wetterleuchten (trotz Dauerregen). Ich finde es auch ganz sympathisch, dass Sie sich als „echter Hippie“ scheinbar treu geblieben sind. Das politische Ziel der Legalisierung von Cannabis passt schon dazu. Mit Merkel und/oder Schulz wird das aber wohl nicht zu machen sein. Trotzdem, bleiben Sie sich treu!

  77. LIeber Herr Malyssek,
    vielen Dank für Ihre interessanten Stellungnahmen und Einschätzungen. Nun bin ich auch heute (wie schon gestern) viel in Sachen Flüchtlingsgruppe unterwegs (nach und nach bekommen sie ihre offizielle Asyl-Anerkenung, werden in leere Wohnungen eingewiesen und bedürfen da dringend der organisatorischen wie praktischen Hilfe). Meine Reflexionen können daher nur häppchenweise erfolgen.
    Ich schlage vor, dass wir uns von der Peripherie her (Probleme, die vergleichsweise schnell zu klären sind, atmosphärisch aber auch ihre Bedeutung haben) zur zentralen Frage vorarbeiten. Die lautet nach meiner Auffassung:
    Was bedeutet „soziale Gerechtigkeit“ konkret? Auf welchen Voraussetzungen beruht der eigene Einsatz? Wie kann dieser, auch gegen Widerstände, glaubwürdig vertreten werden? Welche konkreten Schritte müssen zumindest perspektivisch anvisiert werden?

    Erst nochmal zu Frankreich und dem Verhältnis zur eigenen Nation:
    Dass es so etwas wie Identifikation von Deutschen mit Nazis bisweilen gegeben hat, ist sicher richtig und auch verständlich. Auch ich wurde Ende der 60er Jahre (an einer Tankstelle) schon mit „Heil Hitler“ begrüßt. Das aber ist schon lange her, und die Gegenbeispiele überwogen auch damals schon klar.
    Entscheidend ist, dass diese Gleichsetzung auch bei einfachen Menschen nicht mehr stattfindet – es sei denn, es wird vom FN wieder erneut angeheizt (was auch im Falle eines Sieges bei der Präsidentenwahl sicher zu erwarten wäre).
    Beispiel: Ich hatte natürlich, auch in der eigenen Familie (verschiedene Cousins), mit Vorurteilen gegenüber Deutschen zu tun. Ich habe sehr schnell den besten Kontakt mit ihnen gepflegt. War auch nicht besonders schwer: Ich war für sie nicht Deutscher, sondern Werner.
    Meine Schwiegermutter hatte diesbezüglich anfangs auch Angst. Sie hätte mich (wegen besserer Assoziationen) lieber als Österreicher präsentiert. Denn ich bin in Böhmen-Mähren geboren (hatte für sie einen guten Klang). Meine Antwort klipp und klar: Ich bin Deutscher.
    Fazit:
    Nur Klarheit kommt an. Verleugnung der eigenen Herkunft, der eigenen Nation wird nur (sehr zurecht!) mit Verachtung quittiert. Dies gilt eben auch für Leute, denen zwar Fußball ziemlich egal ist, die aber vor jedem Spiel wissen, dass die Deutschen zu verlieren haben. Lächerlich! Für Franzosen sowieso. Da ist klar, dass Verleugnung der eigenen Nation nicht nur heuchlerisch ist, sondern auch überheblich und intolerant. Sie fühlen sich (zurecht) in ihrem Selbstverständnis verletzt, bei dem das Bekenntnis zur eigenen Nation eine wichtige Rolle spielt. Internationalismus kann nicht vorgeschrieben, sondern nur gelebt werden.
    Ich füge hinzu: Solcher „Anti-Nationalismus“ ist auch gefährlich. Und ich sehe sehr wohl einen Zusammenhang mit dem Chauvinismus à la AfD, der – auch – als Umschlag hieraus zu verstehen ist.
    Ich könnte noch eine ganze Reihe von Erfahrungen mit französischen Gruppen bei dt.-frz. Jugendaustausch anführen, die in die gleiche Richtung gehen. Ich spare mir das aber, um die oben genannten wichtigeren Punkte nicht aus den Augen zu verlieren.

    Ihre Kritik an medialen „Sozialreports“ (12. Februar 2017 um 15:34):
    „Das Subjekt kann in diesen Situationen schwerlich sich anders ausdrücken und verhalten, wie es einer gewissen Regievorgabe entspricht. (…) Die Klischees, die Stereotypen bleiben über Jahre der zuschauenden Öffentlichkeit erhalten.“
    – Ich teile Ihre Kritik voll und ganz.
    Bleibt noch die Frage nach dem „Warum?“ Das wieder erfordert Einblick über Bedingungen und Wirkungsmechanismen von Medien, auch öffentlich-rechtlicher.
    Ich konnte hier selbst Anschauungsunterricht erhalten, bei einem Wochenendseminar des Saarländischen Rundfunks in Saarbrücken. Wir zogen, nur kurz begrüßt, mit Mikrofon und Tonbandgerät los, um nach eigenen Ideen möglichst viele „O-Töne“ für eine Reportage einzufangen. (Ich wählte mir einen bekannten deutsch-französischen Kabarettisten und dessen Vorstellung aus.) Erfolg: 20 Minuten Material, vieles recht informativ. Dann die Redaktionsarbeit: Aus den 5 Gruppen wird eine Reportage von 10 Minuten erstellt, für jeden also etwa 2 Minuten. Darin muss das Projekt vorgestellt, der Rahmen abgesteckt werden, was nur zusammenfassend in eigenen Erläuterungen geht. Aber möglichst viele O-Töne müssen rein (ehernes Gesetz!). Also wird geschnippelt, Sätze werden zerhackt, der eigene Satzbau umgekrempelt, damit der Satzbruchteil eines „O-Tons“ reinpasst.
    Was da dann rauskommt, haben Sie trefflich beschrieben: Nicht nur, dass viel wertvolles Material rausfliegt. Schlimmer ist, dass keine Möglichkeit besteht, Intentionen der Gesprächspartner (die ja nicht mit den eigenen identisch sind) auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Was sie geliefert haben, wird zerhackt und nach dem eigenen Konzept „passend“ gemacht. (Im französischen Rundfunk und Frernsehen, TF1 allen voran, ist das übrigens noch schlimmer.)
    Ein Grund, warum ich diese „O-Ton“-Manie hasse, die mit „Authentizität“ verwechselt wird. Und über Sprüche von Leuten nur lachen kann, die alles „kurz und knackig“ haben wollen und nicht einmal merken, dass sie damit eigene Vorurteile dem Gegenüber schon aufoktroyiert haben (auch ein Merkmal von Intoleranz).
    Ein „Mainstream“, der konsequenterweise in „authentischer“ Trumpscher Twitter-Manie endet und, so man sich denn darauf einlässt, zu Übernahme seiner menschenverachtenden Ideologie führt, zumindest führen kann.

    Soweit die die sezierende Analyse. Wenn Sie dem soweit folgen können, wäre der nächste Schritt angesagt: Wie wäre die Erkenntnis, dass Teile „rechter“ Medienkritik durchaus anzuerkennen sind, positiv zu werten? In welcher Weise hat sich konstruktive Kritik von den demagogischen Formen zu unterscheiden?
    Und hier konkret: Wie wäre berechtigtem „Zorn“ sozial Benachteiligter in angemessener Weise Gelegenheit zu geben, sich auszudrücken? Wie wäre dies in konstruktive Projekte „sozialer Gerechtigkeit“ einzubauen, derart, dass die zugrunde liegende Lage nicht nur „interpretiert“, sondern auch „verändert“ wird (Marx: 11. Feuerbach-These)?
    Ich möchte es hier zunächst genug sein lassen und den Ball an Sie weitergeben.

  78. @ Jürgen Malyssek

    Legalize it, Martin Schulz
    woraufhin ich mir Gedanken mache über die Weltläufe und hoffe, nicht völlig verdreht zu schreiben.
    Das Armutszeugnis ist eher in der Verwaltung zu suchen. Ich wurde dabei zum Opfer bürokratischen Treibens, wenn man sich unten in der Schublade befindet, sieht die Welt ein wenig anders aus.

    Deshalb versuche ich zu vereinfachen und überhaupt :
    Die SPD hat mich enttäuscht, die CDU hat mich dagegen angenehm überrascht,
    mit dem Atomausstieg, mit der Willkommenskultur, mit der Entsorgung der rechten CDU Fürsten. Ich habe nichts gegen Angela Merkel und nichts gegen Martin Schulz.
    Hoffe aber, das sie auch nichts gegen mich oder meine soziale Gruppe haben.
    Schlimme Vorstellung ist das, wenn die Regierenden etwas persönlich gegen einen haben, oder gegen die soziale Gruppe haben, zu der man gehört. Soweit habe ich mich bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel eigentlich gut aufgehoben gefühlt. Keine Klagen.

  79. @Werner Engelmann
    Ich möchte Ihren Dialog mit Herrn Malyssek stören, insbesondere weil ich mich in ihm nicht wiederfinde.
    Vielleicht habe ich Sie auch jetzt wieder mal missverstanden. Für mich ist der Begriff Nation inhaltsleer und ich finde in der Realität nichts, was ich diesem Begriff zuordnen kann. (Unsere französischen Freunde haben damit kein Problem, sind aber auch nicht sehr an Fussball interessiert.)
    Ich fühlte mich durch einen Artikel in der SZ bestätigt, der darlegte, dass es sich um eine Erfindung der deutschen Romantik, also einem Projekt der Gegenaufklärung, handele.
    Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bin ich mit dieser Einstellung aber heuchlerisch, überheblich, intolerant und sogar gefährlich.

  80. @ Henning Flessner, 13. Februar 2017 um 17:24

    Zu den weniger erquicklichen Erscheinungen unserer Zeit gehört sicherlich der erzwungene Umgang mit Plumpheiten, mit einer Selbstgewissheit vorgetragen, als sei deren Autor vom großen Hegelschen Weltgeist persönlich ergriffen worden.
    Über ominöse Autoren zu urteilen, die sich meiner Kenntnis entziehen, gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten. Wohl aber vermag ich die Klischeehaftigkeit plumper Gleichungen und Gegensatzpaare zu erkennen, wie Sie sie verbreiten. Genügt doch schon ein Blick in eine simple Literaturgeschichte für den Schulgebrauch, um zu erfahren, dass deutsche Romantik und mehr noch deutsches Nationalbewusstsein ohne Napoleon wie auch Befreiungskriege – an denen z.B. ein Eichendorff aktiv teilnahm – überhaupt nicht erklärbar ist. Und wer sich nur etwas mit der Sache befasst hat, weiß auch, dass ohne Romantik keine Psychoanalyse existierte.
    Worüber Sie sich selbst definieren, ist Ihr Problem, und ich werde mich hüten, mich hier in irgend einer Weise einzumischen. Wer aber meint, sich hier über andere äußern zu müssen, von dem ist mit Fug und Recht zu erwarten, zumindest Kontext und Kernaussagen zur Kenntnis zu nehmen. In diesem Fall: „Erst nochmal zu Frankreich…“ sowie „Internationalismus kann nicht vorgeschrieben, sondern nur gelebt werden.“
    Ich bitte Sie also inständigst, wenn Sie schon glauben, nicht ohne Klischees auszukommen, es gefälligst zu unterlassen, mir Ihre Verdrehungen auch noch unterzujubeln.

  81. @Werner Engelmann
    Auch nach mehrmaligem Lesen verstehe ich leider immer noch nicht, was Sie mir sagen wollen. Ich vermute, dass Sie mir sagen wollen, dass ich zu ungebildet für Sie bin (Plumpheit, Klischees, weniger erquicklich). Womit Sie vermutlich Recht haben. Lassen wir es damit gut sein. Ich werde Sie in Zukunft von meinen wenig erquicklichen Beiträgen verschonen.

  82. @ Henning Flessner, 14. Februar 2017 um 10:31
    Es ist halt immer wieder das gleiche Problem, wenn jemand keine Reflexion und keine Analyse verträgt und reflexartig alles und jedes auf sich bzw. seinen Gegenüber projiziert.

  83. Lieber Herr Engelmann,
    vielen Dank für die Impulse vom 13. Februar (12:47). Ich nehme den Ball auf, indem ich a)Ihre als zentral benannten Fragen herausgreife, was „soziale Gerechtigkeit“ konkret bedeutet, auf welchen Vorraussetzungen der eigene Einsatz beruht und wie dieser (auch gegen Widerstände) glaubwürdig vertreten werden kann?
    b)- letzter Absatz – Wie dem berechtigtem „Zorn“ sozial Benachteiligter in angemessener Weise Gelegenheit zu geben wäre, sich auszudrücken und wie dies in konstruktive Projekte „sozialer Gerechtigkeit“ einzubauen (also zu ermöglichen die soziale Lage der Betroffenen zu verändern)?
    Unsere Kritik an den medialen „Sozialreports“ war weitestgehend übereinstimmend (Beispiel der Putzfrau im Stadtteil Diusburg-Marxloh).
    Ich kann zu diesen Fragen einiges sagen, aber dies momentan auch nur „häppchenweise“, weil ich – um den berühmten Ball wieder ins Spiel zu bringen – erst einmal mit Fußballfragen in unserem Verein bis morgen beschäftigt sein werde.
    Die generelle Frage, die ich aber noch vorher stelle, ob wir mit der Thematik vielleicht doch den Rahmen dieses Blogs sprengen? Deshalb vorher die Frage an Bronski, wie er es sieht?
    Es wird ja zwischendurch immer mal die eine oder andere Stimme laut, dass sie sich in unserem Dialog nicht wiederfindet.
    Ansonsten komme ich dann später auf unsere Reflexionen wieder zurück.
    Lieber Bronski, was tun?

  84. Lieber Herr Engelmann,
    ich habe Sie und unser Thema (s. 13. und 14.o2.) nicht vergessen, aber ich bin gerade auf einer anderen „Baustelle“ stärker beschäftigt und am Wochenende auf kleine Reise. Kriege es also auch nicht „häppchenweise“ gebacken. Auch Mr. Trump muss ruhen.
    Bis später alles Gute!

  85. @Jürgen Malyssek

    Lieber Herr Malyssek,
    erstmal danke für Ihre Rückmeldung. Was die Möglichkeit einer schnellen Reaktion angeht, geht es mir, wie im Beitrag vom 13. Februar 2017 angedeutet, auch nicht viel anders. Eine Baustelle ist zudem ganz konkret in unserem Dachboden zu finden, den ich z.Zt. für das sehr gut laufende integrative Projekt eines Flüchtlingstheaters (entsprechend meiner Website) zu einem Theaterraum umbaue.
    Unsere gerade erst angedachten Überlegungen betr. Erwartungen an den Kandidaten Schulz würde ich dennoch nicht gerne als Baustelle liegen lassen. Zudem ist dies ja ein langsames Blog und die Fragestellung wird uns ja noch einige Zeit erhalten bleiben. Warum sich also nicht in Geduld üben?
    Ich schlage vor, dass wir die weitere Diskussion in den neueren Thread „Auf die Menschen zugehen und ihnen zuhören“ verlegen. Dieser Titel trifft das, worauf es wohl ankommt, doch recht gut. Wobei das Eingehen auf unsere Putzfrau aus Duisburg-Marxloh auch nicht zu kurz kommen sollte.

  86. Lieber Herr Engelmann,
    wir machen das so, wie Sie’s vorschlagen auf „Menschen zugehen und …“. Ich denke ich kriege den Faden bis morgen wieder aufgegriffen.
    Gute Nacht!

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