Diese Frage treibt mich schon lange um: Wie rede ich künftig Menschen an? Wenn ich von Ihnen als Leser spreche, konnten sich Frauen zu recht als lediglich mitgemeint, also zurückgesetzt, also diskriminiert auffassen. Ich rede also von Ihnen als Leserinnen und Leser oder als Leser und Leserinnen. Jetzt haben wir aber die Situation, dass sich von dieser Formulierung wiederum Menschen mitgemeint fühlen sollen – denn ich will sie keinesfalls ausschließen -, die keinem dieser beiden Geschlechter angehören. In Deutschland wird am Ende dieses Jahres ein Gesetz in Kraft treten, das dem Rechnung trägt. Menschen, die weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich sind, werden vor dem Staat dann als eine Art „drittes Geschlecht“, als „divers“ eingestuft. Das bedeutet einen großen emanzipatorischen Fortschritt für diese Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland aus schätzungsweise 80.000 Menschen besteht. Sie werden nicht mehr zwangsweise einem Geschlecht zugeordnet, sondern sie sind etwas eigenes, und der Staat akzeptiert diese Eigenheit endlich. Melanie Reinsch hat das Thema seinerzeit in einem FR-Leitartikel angemessen eingeordnet.

Wir als Gesellschaft und ich als jemand, der viel mit Menschen kommuniziert, wir sind nun gefragt, über unsere Kommunikationsformen nachzudenken. Susanne Görlitzer, Autorin und Leiterin einer Frankfurter Schule, hat da schon ein paar Schritte unternommen und schlägt in ihrem Gastbeitrag „Anreden in Zeiten der Vielfalt“ vor:

„Bei drei Geschlechtern wird es Zeit, zu der sprachlichen Regelung zurückzukehren, die keine Markierung auf Geschlechtlichkeit legt. Aus der Perspektive der Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt erscheint mir eine einfache Anrede einer Gruppe von Menschen mit „liebe Schüler“ oder „liebe Lehrer“ oder „liebe Freunde“ geboten. Denn dies ist die Pluralform. Mit der Geschlechtlichkeit einer Gruppe hat diese nichts zu tun, sie ist überhaupt nicht gemeint. Wer die Vielfalt der Geschlechter betonen möchte, sollte von einer Markierung von Geschlechtlichkeit absehen. Die Schüler sind allein in ihrer Funktion als Schüler angesprochen. Die unterschiedlichen biologischen oder sozialen Geschlechter spielen dabei keine Rolle.“

Das fände ich gut. Das würde meine Arbeit deutlich vereinfachen. Keine Sternchen mehr mitten im Wort, keine Großbuchstaben, wenn ich mal aus Platzgründen LeserInnen schreiben muss statt „Leserinnen und Leser“. Das Problem bleibt dabei jedoch, dass diese funktionalen Begriffe – in Ihrem Fall wäre dies „Leser“ – durchaus ein Geschlecht haben, wenn auch nur ein grammatikalisches. Der Leser ist männlich. Wird so nicht das Fortbestehen patriarchalischer Sprache zementiert? Ist das mit dem Mitgemeintsein plötzlich kein Problem mehr? Denn die Tatsache, dass das „dritte Geschlecht“ endlich wahrgenommen wird, ändert ja nichts an einer anderen Tatsache, dass Frauen vielfach immer noch um Gleichstellung ringen. Wir sind weit gekommen mit der Verwirklichung von Gleichberechtigung, aber ist sie schon durchgesetzt?

Mich interessiert, was Sie zu diesem Thema denken. Wie sprechen Sie andere Menschen an? Welches Verhalten zeigen Sie in Ihrer Kommunikation – mündlich, schriftlich, online? Erzählen Sie mal.

Balken 4Leserbriefe

Ulrich J. Heinz aus Marburg meint:

„Kurz und bündig „anreden (und bezeichnen) in der Vielfalt“ der Einheit, zu allen Zeiten sich treffend und flüssig ausdrücken: Das geht seit alters auch bei Personenbezeichnungen. Gattungsbegriffe bezeichnen gewöhnlich jedwedes Geschlecht, ungeachtet ihres eigenen. Das gleiche Wort kann eine Gesamtheit ausdrücken wie auch eine Teilmenge oder Einzelne; etwa Fachkraft, Gast, Kind, Lebewesen, Mensch, Person; oder Erde und Tier. Diese Zweiheit besteht auch bei Worten, die auf -er enden. Sie bezeichnen Leute in ihrem Tuen oder Wesen. Schüler-in hat die Grundeigenschaft Schüler. Lehrer-in gehört zur Gesamtheit Lehrer. Oder traut man ihr diesen Beruf nicht zu?
Wenn man übergreifende Angaben auf gleichlautende für ein Geschlecht kürzt, dann ist der Zusatz für andere nur eine Ableitung von diesem. Das stellt nicht gleich, sondern ist widersinnig. Amt, Beruf, Rolle, Stellung behalten im Allgemeinen ihr Geschlecht, auch wenn Inhaber verschiedenen Geschlechtes sind. Von Schulleiterin oder Frau Schulleiter ist nur zu reden, wenn es um sie höchstselbst, nicht jedoch, wenn es um die Aufgabe geht.
Die angeblich geschlechtergerechte Sprache ist nur geschlechtsbetont und umständlich. Sie beruht auf dem Mißdeuten allgeschlechtlicher Begriffe. Sie ist sprunghaft und mißverständlich. Und /_* sind nicht umfassend, sondern machen Teilmengen unaussprechlich. Bloß mit gemeint, sei übergangen, meinen die Mißdeuter. Der Verein Deutsche Sprache fängt diese Fehlsicht allgeschlechtlicher Angaben in seiner Zeitschrift auf: Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter, „sogar für Männer“.
Im Übrigen: Für die Anrede der verschiedenen Drittgeschlechtlichen fehlt Anderes, im Amtsdeutsch Diverses.“

Helmut Helm aus Bischofsheim:

„Was für eine Wonne, diesen Text zu lesen, was für ein Weihnachtsgeschenk! Vielen Dank dafür! Die Schulleiterin, Frau Görlitzer, schreibt aus Lebens- und Berufserfahrung, mit klaren argumentativen Begründungen, in einer erfrischend klaren Sprache. Schade ist nur, dass ihr vernünftiger, logischer Beitrag als Gast (nicht „Gästin“) der FR mit größter Wahrscheinlichkeit ohne größere öffentliche Wirksamkeit verhallen wird. Er wird untergehen im alltäglich gewordenen, massenhaften Sprachgendern, dass sich schon bis in höchste Etagen des gesellschaftlichen und politischen Lebens durchgesetzt und festgefressen hat. Offenbar ist es für viele Zeitgenossen (ohne „Zeitgenossinnen“) eine intellektuelle Überforderung oder eine dümmliche Anpassung an den vermeintlichen Zeitgeist, zwischen kategorialen Gattungsbegriffen und situationsgerechten Genderansprachen zu unterscheiden. In Zukunft dürfte es zur subversiven Tat werden, der klugen Position von Frau Görlitzer zu folgen und nicht irgendeiner gendermäßigen Sprachregelung, sei es mit oder ohne Geschlechts*sternchen. Warten wir mal ab, was der deutsche Gesetzgeber und die deutsche Gesetzgeberin sich noch alles einfallen lässt (oder: lassen ?).“

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63 Kommentare zu “Sogar für Männer

  1. Ein Lob an Frau Görlitzer. Was vorher schon krampfig war, würde durch weitere Aufspaltung bestimmt nicht besser. Amtsdeutsch wäre dann Lesende und das klingt völlig unpersönlich/schrecklich.

  2. Mir gefällt der Artikel von Frau Görlitzer sehr gut.
    Mich irritiert sehr, wenn nur die weibliche Form benutzt wird, wenn auch Männer gemeint sind. Man findet dies jetzt häufig in wissenschaftlicher Literatur, bei der ja eigentlich Klarheit verlangt wird.
    So lass ich vor kurzem in einem Softwarebuch die Warnung, dass dieser Fehler praktisch jeder Programmiererin schon passiert sei. Mein erster Gedanke war: «Welch ein Macho-Unsinn.».
    Der erste Politiker, der immer die weibliche und männliche Form verwandt habe, sei angeblich Adolf Hitler gewesen, behauptet ein deutscher Historiker.

  3. Was Susanne Görlitzer sagt, ist zu 120 Prozent überzeugend. Wir brauchen einen unverkrampften Pragmatismus. Trotz Vielfalt und Differenzen müssen wir den Blick weiten, nicht weiter kleinkariert verengen. Bitte keine Sternchen*** und so. Die Genderdebatte wird durch Steigerung des Formalismus‘ auch nicht gehaltvoller.

  4. Den Begriff „divers“ für zwischengeschlechtliche Menschen halte ich für unglücklich gewählt, weil er ja „unterschiedlich“ bedeutet. Zu der Gruppe der unterschiedlichen Menschen gehören aber auch Männer und Frauen. Präziser fände ich „inter“ oder „intergeschlechtlich“.
    Womit ein Problem noch nicht gelöst ist: Welches Personalpronomen wende ich auf einen intergeschlechtlichen Menschen an? „Er“ oder „sie“? „Es“ würde auch nicht passen, denn das steht für „geschlechtslos“ (oder für Verkleinerungsformen wie „Mädchen“).
    Die Sprachen unterscheiden meist nur zwischen männlich und weiblich. Wenn man hier dem Eigenständigkeitsbedürfnis Intersexueller Rechnung tragen wollte, müsste man ein neues Personalprononen erfinden.
    Und wie ist es mit den Vornamen? Wie sollen Eltern ihr intersexuelles Kind nennen? Streng genommen hätten sie in der deutschen Sprache nur die Wahl zwischen den wenigen Namen, die sowohl für Jungen als auch für Mädchen verwendet werden können, etwa Helge oder Kim. Oder werden in Zukunft eigene Namen für Intersexuelle kreiert?
    Das mag überspitzt oder gar albern klingen, aber wenn man den Belangen Intersexueller schon Rechnung tragen will, muss man das auch konsequent tun. Andererseits möchten Kinder, die keinem Geschlecht eindeutig zuzuordnen sind, ihre Andersartigkeit vielleicht gar nicht so offen vor sich hertragen, weil sie – zumindest zur Zeit noch – mit Diskriminierung rechnen müssen.

    Das alles zeigt, dass wir es hier mit einem hochkomplexen Problem zu tun haben, das nicht mit einem einfachen Eintrag im Geburtenregister oder im Personalausweis oder mit einem Sternchen zu lösen ist.

    Was die geschlechtliche Unterscheidung im Plural anbetrifft, bin ich innerlich zwiegespalten. Einerseits empfinde auch ich Bezeichnungen wie „Studierende“ als gestelzt, und ich spare mir oft die Endung „innen“ samt dem Sternchen, weil es weniger umständlich ist. Ich hatte auch nie ein Problem damit, als Frau unter Oberbegriffe wie „Lehrer“ eingeordnet zu werden. Aber genau genommen wirft die Verwendung der männlichen Form als kategorialer Gattungsbegriff ein bezeichnendes Licht auf die Hierarchie der Geschlechter in einer Gesellschaft. Sprache entwickelt sich ja nicht im luftleeren Raum, sondern spiegelt in diesem Fall deutlich die seit Jahrhunderten gelebte Hierarchie der Geschlechter wider. Und dass es vielen Frauen nicht gefällt, nur „mitgemeint“ zu sein, kann ich auch verstehen.

    In romanischen Sprachen bildet sich die Geschlechterhierarchie noch viel deutlicher ab als im Deutschen. Da „siegt“ im Plural oft die männliche Form, wenn männliche und weibliche Wesen zusammen genannt werden. Also „sono arrivati“ (sie sind angekommen) für männliche und gemischte Gruppen, für mehrere weibliche Personen allein aber „sono arrivate“. Entsprechendes gilt auch für die französische Sprache, was hier aber nur im Schriftlichen zum Tragen kommt.
    Da sich Sprache ständig in einem Veränderungsprozess befindet, kann man es durchaus für legitim halten, sie an veränderte Geschlechterverhältnisse anzupassen.

  5. Ein Lob für Frau Görlitzer für den klugen Gastbeitrag „Anreden in Zeiten der Vielfalt“!
    Da spricht die Praktikerin, die auf unverkrampfte Weise, frei von dezisionistischen Setzungen, mit Sprache umzugehen vermag und auch entsprechendes Wissen erweist. Ich kann mich ihren Ausführungen ohne jede Einschränkung anschließen.

    Zur Erläuterung meiner Begründungen seien mir zwei kurze Exkurse erlaubt:

    Fast jeder kennt die vernichtende Kritik eines Mark Twain: „Die schreckliche deutsche Sprache“. Die ja durchaus humorvoll geschrieben sein mag. Die aber auch von Ignoranz und Vorurteilen geprägt ist. Und niemand wagt es, dem beliebten Schriftsteller diese Erkenntnis entgegenzuhalten.
    So etwa mokiert er sich über „das sächliche Fräulein“ im Deutschen, das angeblich ein Zeichen „dickfelliger Respektlosigkeit dem Fräulein gegenüber“ bei Deutschen sei.
    Wohlweislich vermeidet er es, „das Männlein“ oder „das Männchen“ unter die Lupe zu nehmen. Es wäre ihm ja das Vergnügen genommen worden, seinen Vorurteilen Ausdruck zu verleihen. Und zudem wäre seine Ignoranz zu Tage getreten: Dass der sächliche Artikel ausschließlich mit dem, mit Hilfe der Nachsilbe -lein oder -chen gebildeten, Diminutiv zusammenhängt. Also nichts mit einer Geschlechterzuschreibung und noch weniger mit „Respektlosigkeit“ zu tun hat.

    Schlimmer eine meiner Erfahrungen an der Europäischen Schule:
    Da versuchte der stellvertretende Rektor (Sousdirecteur), ein Belgier, mich davon zu überzeugen, dass Deutsch eine „schlabbrige Sprache“ sei. (Sinniger Weise zur Einstimmung auf seinen Unterrichtsbesuch anlässlich meiner Verlängerungsprüfung. Was mir immerhin klar machte, was ich zu erwarten hätte, und was sich auf noch schlimmere Weise bestätigte.)
    In solchen plumpen Vorurteilen erweist sich die Unfähigkeit, zwischen Sprachgebrauch des Sprechers oder Sprechakt (nach de Saussure: „parole“) und Sprachsystem („langue“) zu unterscheiden.
    Mich hat das im Folgenden veranlasst, meine Schüler darauf hinzuweisen, dass der (ziemlich arrogante) Spruch Rivarols, „Was nicht klar ist, ist nicht französisch“ (als Nachweis der „Überlegenheit“ der französischen Sprache gedacht) in mindestens gleichem Maß auch fürs Deutsche gilt. Dass es Sache des Sprechers ist, für Klarheit des Ausdrucks zu sorgen.

    Wer einmal (wie ich mit meiner Frau) versucht hat, eine philosophische Schrift ins Französische zu übersetzen, der lernt, die Präzision und Ausdrucksfähigkeit des Deutschen (richtig angewandt) zu schätzen, das nicht umsonst als „Sprache der Philosophie“ gilt. Der begreift, dass man nicht einfach so, aus ideologischen oder subjektiven Empfindlichkeiten heraus, am Sprachsystem herumdoktern kann.
    Das gilt auch unter der Bedingung, dass keine natürliche Sprache im mathematischen Sinn „perfekt“ ist, dass jede Sprache Mehrdeutigkeiten und Ungereimtheiten enthält und historisch auch Wandlungen unterworfen ist. Mit denen es aber – in Abgrenzung zu totalitären Versuchen der Sprachsteuerung – sorgfältig und respektvoll umzugehen gilt.
    Und das gilt auch bezüglich der Geschlechterdebatte.

    Zur Sache:
    Im Französischen gibt es nicht einmal zwei Wörter für „Mann“ und für „Mensch“. Beides heißt „l‘homme“. Die Menschenrechtserklärung heißt dementsprechend „la Déclaration des Droits de l‘Homme“.
    Und niemand kommt auf die absurde Idee, den Verfassern zu unterstellen, sie hätten nur an Männer gedacht, oder der französischen Sprache, „frauenfeindlich“ zu sein.
    Die zwei Bedeutungen von „l‘homme“ sind schlicht Homonyme. Ein nicht nur hinnehmbares, sondern notwendiges Phänomen der Sprach-Ökonomie, das ein Anwachsen des Wortschatzes ins Unermessliche vermeiden soll. Im Französischen (bei deutlich geringerem Wortschatz) erheblich häufiger als im Deutschen.
    Jeder Sprecher kann mit solchen „Unzulänglichkeiten“ eines begrenzten Wortschatzes gut leben. Denn über die Bedeutung der (im Prinzip unendlichen) Sprechakte entscheidet der jeweilige Kontext.

    Nicht anders ist es bei den von Frau Görlitzer richtig erwähnten Funktionsbezeichnungen, bei denen der Artikel völlig belanglos ist.
    Mit Ausnahme der ausdrücklichen Bezeichnung von Geschlechtermerkmalen bei bestimmten Nomen ist der Artikel im Deutschen überwiegend willkürlich, ohne inhaltliche Bedeutung. Dies entspricht der generellen Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens (de Saussure: „l’arbitraire du signe“). Dass es bezüglich der Sprachentwicklung gesellschaftliche Bezüge gibt und dies vielfach auf Verhältnisse des Patriarchats zurückzuführen ist, ist beim individuellen Sprechakt – und damit der jeweiligen Bedeutung – belanglos. Entscheidend ist allein der jeweilige situative und sprachliche Kontext.

    So wichtig der Kampf gegen patriarchale Relikte und Denkweisen (nicht erst seit den 70er Jahren), die Sensibilisierung für sexistische Sprache ist: In der ideologisch aufgeheizten Diskussion um „Frauensprache“ – „Männersprache“ erweist sich vielfach (wie bei oben genannten Beispielen) elementare Unkenntnis des Verhältnisses von Sprechen und Sprachsystem. Mit fragwürdigen Folgen für den gesellschaftlichen Umgang: Nicht nur in die Sprache (als System), auch in den Sprechakt (und damit die Intention des Sprechers) wird oft hineininterpretiert, was in diesem gar nicht enthalten ist. Ihm wird angelastet, was aus eigenen Überempfindlichkeiten und Verallgemeinerungen erwächst.

    Zum Beispiel der Funktionsbezeichnung „Lehrer“:
    Diese Substantivbildung ist, wie Frau Görlitzer richtig anführt, von der Verbform „lehren“ abgeleitet, so wie „Bäcker“ von „backen“. Ähnlich auch „Schüler“ von „Schule“. Der Artikel ist dabei inhaltlich bedeutungslos, ist kein Verweis auf Geschlechtsmerkmale, insbesondere nicht in der Pluralform, wenn es etwa um die Tätigkeit des Lehrens geht.
    Das Geschlechtsmerkmal kommt erst dann hinzu, wenn von konkreten Personen die Rede ist oder diese angesprochen werden. Die beiden Begriffe von „Lehrer“ sind also – nicht anders als bei „l’homme“ im Französischen – Homonyme, wobei nur für die Bezeichnung „Lehrer“ als Person eine weibliche Entsprechung „Lehrerin“ existiert.
    Die höfliche Ansprache „Lehrerinnen und Lehrer“ zur – angeblich aus Gleichberechtigung resultierenden – generellen Verpflichtung in jedwedem Kontext zu machen, ist also nicht nur überflüssig. Dies beeinträchtigt auch in erheblichem Maß den Sprachfluss und die Verständlichkeit, ist also dem Ziel eines gleichberechtigten demokratischen Diskurses nicht dienlich, sondern abträglich.

    Frau Görlitzer ist also zu danken für ihren Vorschlag, der nicht nur praktikabel sowie klar und sachlich fundiert ist. Er entspricht auch (im Unterschied zu manchen kuriosen Überspitzungen und Sprachversuchen) in vollem Umfang sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen. Dies galt es hier nachzuweisen – was auch eine entsprechend ausführliche Darlegung erforderte.
    Es wäre zu hoffen, dass ihr Vorschlag nicht nur positive Aufnahme findet, sondern auch als Anregung begriffen wird, ideologisch bedingte Überspitzungen und entsprechende Sprachexperimente endlich zu überwinden, sich statt auf eigene Befindlichkeiten und überspitzte Interpretationen auf den jeweiligen Kontext und den Respekt vor dem jeweils anderen zu konzentrieren.
    Was auch den Respekt vor der Sprache als dem entscheidenden Instrument der Kommunikation und menschlicher Begegnung beinhaltet, auch als wesentlichem Kriterium des Menschseins an sich. Denn Sprache „gehört“ der Sprachgemeinschaft insgesamt, nicht einzelnen Menschen oder Gruppen, darf nicht zum bloßen Instrument individueller Befindlichkeiten degradiert werden – so berechtigt diese sein mögen.
    Es gibt genügend ernst zu nehmende gesellschaftliche Probleme, die dringend einer Lösung und damit eines unaufgeregten, sachlichen Diskurses bedürfen.

  6. Bei genauerem Hinsehen empfinde ich es als bezeichnend für unsere Gesellschaft, dass ausgerechnet der Versuch, eine gendergerechte Sprache einzuführen, auf so übermäßige Proteste stößt, während sonstige Sprachverstümmelungen, z.B. in Form grässlicher Anglizismen, weitgehend widerspruchslos hingenommen oder gar nicht bemerkt wird.
    Dass etwas auf einmal Sinn „machen“ statt „ergeben“ muss, dass Begriffe plötzlich „meinen“ statt „bedeuten“, dass etwas „viral geht“ statt übers Internet verbreitet zu werden, dass das gute alte Fremdwort „Sexualität“ von immer mehr Menschen mit scharfem „S“ ausgesprochen wird, weil man es vom englischen Wort „Sex“ ableitet, dass überall von KONsens statt KonSENS gesprochen wird – nur um ein paar der um sich greifenden Scheußlichkeiten und manifesten Fehler, die mir persönlich immer wieder den Magen umdrehen, zu nennen – diese bedauerliche Entwicklung scheint kaum jemanden vom Hocker zu reißen. Aber wenn es um die Abbildung von Geschlechterverhältnissen in der Sprache geht, kann man sofort mit Empörung und Widerstand rechnen.
    In meinen Augen hat das durchaus mit einem Festhalten an alten Machtstrukturen zu tun.

  7. Ich werde mich nicht weiter an einer Hin- und Her-Debatte beteiligen, zumal wenn es darum geht, wieder und wieder auf Nachweise für das „Festhalten an alten Machtstrukturen“ (Brigitte Ernst) hinausläuft.
    Susanne Görlitzer bleibt bei mir gesetzt.

    Der letzte Schreibabsatz von Werner Engelmann ist mir auch besonders wichtig: „… Denn Sprache „gehört“ der Sprachgemeinschaft insgesamt, und nicht einzelnen Menschen oder Gruppen, darf nicht zum Instrument individueller Befindlichkeiten degradiert werden – so berechtigt diese sein mögen.
    Es gibt genügend ernst zu nehmende gesellschaftliche Probleme, die dringend einer Lösung und damit eines unaufgeregten, sachlichen Diskurses bedürfen.“
    Mit weiterer Sprachakrobatik und Not-Operationen am offenen „Wort“ werden diese Probleme jedenfalls nicht gelöst.

  8. Also hough, wir Männer und Frau Görlitzer haben gesprochen, und so hat es dann zu sein.

    Ohne zu denjenigen Frauen zu gehören, die die bis ins Kleinste verfeinerte Gendersprache militant verteidigen, möchte ich doch einiges zu bedenken geben.
    Sprache ist nie von Inhalten zu trennen und auch nicht von den Menschen, die sie entwickeln. Genauso wenig kann Sprache von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelt hat und weiter entwickelt, getrennt werden.
    Woher kommt es denn, dass in manchen Sprachen dasselbe Wort für Mann und Mensch verwendet wird? Weil für diese Sprachgruppe der Mann der Repräsentant der Menschheit war und nicht die Frau.
    Das Gleiche gilt für das englische Wort „mankind“. Auch hier wird der Mann als der Prototyp der Menschheit angesehen, sonst hätte man ja auch den Begriff „womankind“ prägen können.

    Es wird gerade so getan, als würde Sprache nie bewusst und absichtlich („dezisionistisch“) verändert, wenn es für politisch angemessen gehalten wird. Da werden neue Wörter wie z.B. „Islamophobie“ geprägt und Wörter wie „Neger“ und „Zigeuner“ aus dem deutschen Wortschatz gestrichen, weil man bestimmte Minderheiten nicht verletzen möchte. Aber wenn sich Vertreterinnen und Vertreter der Hälfte der Menschheit über sprachliche Diskriminierung beklagen, wird das als „ideologisch bedingte Überspitzung“ oder „individuelle Befindlichkeiten“ abgetan. Wo bleibt denn da die in anderen Zusammenhängen so oft beschworene Empathie? Wie kann es sich jemand heraussnehmen, einem Menschen, ob weiblich oder männlich, vorzuschreiben, wodurch er oder sie sich diskriminiert fühlt?
    Gerade wurde für 0,1 Prozent der deutschen Bevölkerung eine eigene geschlechtliche Klassifizierung eingeführt. Sind das auch ideologisch bedingte Überspitzungen? Kann man sich da einfach hinstellen, und sagen, das sei alles Quatsch?

    Kommunikation ist Umgang mit konkreten Menschen, und um die und deren Gefühle geht es.
    Statt diese einfach so vom Tisch zu wischen, sollte man sich mit ihnen konfrontieren.

  9. @ Brigitte Ernst, 20. Dezember 2018 um 10:09

    Ich teile voll und ganz Ihre Besorgnis hinsichtlich von „Sprachverstümmelungen, z.B. in Form grässlicher Anglizismen“. Ich nehme sie nicht widerspruchslos hin und ich meine, dass es jedem, der nur ein bisschen was auf seine Muttersprache hält, es genauso tun wird. Z.B. dazu beitragen, den Snobismus, der erkennbar dahinter steht, in seiner Lächerlichkeit auch öffentlich zu entlarven. Immerhin zwingt einen ja (noch) niemand, solchen Unfug mitzumachen.
    Schwieriger sind schon Strategien gegenüber Sprachignoranten, die – im Namen welcher scheinlegitimierenden Institution und Ideologie auch immer – sich berufen und berechtigt fühlen, unaussprechbare Sprachmonster wie etwa „Auszubildende“ normativ zu verordnen. Oder die – noch schlimmer, im Stil totalitärer Regime – etwa mit Begrifflichkeiten wie „Gutmenschen“ oder mit noch tieferen Griffen in das „Wörterbuch des Unmenschen“ Hasspropaganda betreiben und jegliches positive und differenzierende Denken auszumerzen versuchen.
    Eine Tendenz, die im Zeitalter globalisierter Hasspropaganda und Trumpschen Größenwahns die beklagte Anglomanie fast belächelnswert erscheinen lässt.

    Klarer Widerspruch aber gegen die letzten beiden Sätze:
    „Aber wenn es um die Abbildung von Geschlechterverhältnissen in der Sprache geht, kann man sofort mit Empörung und Widerstand rechnen. (…) In meinen Augen hat das durchaus mit einem Festhalten an alten Machtstrukturen zu tun.

    Schon sprachwissenschaftlich ist das unhaltbar.
    Sicherlich spielen bei der phylogenetisch bestimmten Sprachbildung und -entwicklung jeweils herrschende Machtverhältnisse eine Rolle.
    Die ontogenetische Entwicklung der Herausbildung von Begriffen beim Kind (wesentliches Forschungsgebiet der Psycholinguistik), wobei das Kind in kürzester Zeit eine Entwicklung des Sprechens und Denkens über Jahrhunderte hin in kompakter Form nachvollzieht, ist aber von einem völlig anderen Bezugsrahmen geprägt: Das Kind übernimmt ein Kategoriensystem, das mittels Sprache die gedankliche Erfassung und Ordnung SEINER Erlebniswelt, in der Weiterentwicklung beim Erwachsenen Orientierung in UNSERER Welt ermöglicht.
    Etymologische Bezüge, evt. zu „Machtstrukturen“, sind dabei nicht nur völlig verblasst. Sie sind – sofern sie nicht gezielt erforscht werden – auch gar nicht mehr vorhanden bzw. bewusst.
    Wer will denn beispielsweise, wenn er die Redewendung „mit Kind und Kegel“ verwendet, ein mittelalterliches System der Aussonderung und Diskriminierung verbreiten, das dem unehelichen Kind nicht einmal das Wort „Kind“ zubilligt, sondern es als „Kegel“ ächtet? Oder denken Sie, wenn Sie einem Kind mit den Worten „Das kriegst du aber nicht!“ einen Wunsch abschlagen, immer gleich an „Krieg“?

    Bei der geforderten „Abbildung von Geschlechterverhältnissen in der Sprache“ geht es aber sogar noch um mehr: Hier wird im Namen einer Ideologie – so berechtigt sie auch erscheinen mag – nicht nur in semantischen, sondern auch grammatischen Kategorien, also grundlegenden Bezugselementen einer Sprache herumgepfuscht. In der Regel bar jeglicher Kenntnis sprachwissenschaftlicher und sprachpsychologischer Zusammenhänge, und (schlimmer noch) ohne Sensibilität für das, was Sprache für den einzelnen Menschen bedeutet.
    Erworbene Sprache ist Teil des Menschen, seiner Individualität, seines Denkens und Fühlens. Hier einzugreifen, dies zu verändern, obliegt allein der freien und bewussten Entscheidung des einzelnen Menschen.
    Dass Menschen sich gegen Eingriffe in ihre Individualität von außen wehren, ist nicht nur verständlich, es ist auch berechtigt. Sie empfinden solche Übergriffigkeit als Form der Enteignung bzw. Entmündigung, vielleicht gar als Unterwerfung unter ein ihnen aufoktroyiertes „System“, als Versuch, sie in ihrer Person ungefragt umzumodeln.

    Ganz sicher sind rechtsradikale Äußerungen nicht für bare Münze zu nehmen. Wer aber genau hinhört, sich Gedanken macht über die Gründe, wird sehr schnell auf Indizien stoßen, dass missionarische Aktionen solcher Art (unabhängig davon, wie berechtigt die zugrundeliegende Sicht ist) zu einem nicht unerheblichen Teil beitragen zu Misstrauen, Aggressivität, rechtsradikalen Aus- und Abgrenzungsversuchen.

    —–
    P.S.: Leider notwendige Ergänzung betr. Beitrag 20. Dezember 2018 um 15:19:

    Dieser verdient keine Erwiderung, schon gar nicht, wenn einem pauschalisierende Vorwürfe erneut an den Kopf geworfen werden, auf die soeben (wie die Homonyme von „l’homme“) differenziert eingegangen wurde.
    Ich habe es bisher für ein Spezifikum vorrangig rechtsradikaler Befindlichkeiten gehalten, im entrüsteten Opfer-Modus zu schwelgen, in Passivkonstruktionen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu verschleiern, mit pauschalisierenden, trivialen Sprüchen (wie „nie“ zu trennender Zusammenhang von „Sprache“, „Inhalt“ und Menschen“) einen Absolutheitsanspruch zu untermauern, unterschiedlichste Phänomene mit einander zu vermengen, sich selbst mit einer großen Masse (oder „Volk“) gleichzusetzen, ultimativ Eingehen auf die eigenen „Gefühle“ zu fordern und zugleich durch Aufoktroyieren von Sprech- und Denkweisen die Gefühle anderer zu verletzen.
    Ich habe mich da wohl getäuscht.
    Wissenschaftlich fundierte Bemühungen zu differenzieren und Klarheit in vielfältig verflochtene Beziehungen zu bringen (die Psycholinguistik etwa wird ja bald 100 Jahre alt) kann man dann wohl vergessen.
    Einen einigermaßen seriösen, sachlichen Dialog wohl auch.

    Für einen Scheindialog im Sinne von Geschlechterkampf, der mit Kategorien wie „wir Männer“ operiert, stehe ich nicht zur Verfügung. Ich bin immer noch ein Mensch mit individuellem Denkvermögen und werde mir das auch nicht nehmen lassen.

  10. @ Jürgen Malyssek, 20. Dezember 2018 um 13:45

    Den ersten Satz Ihres Beitrags nehme ich zur Kenntnis und respektiere ihn auch, allerdings nur mit großem Bedauern.
    Ich gebe zu, dass Sie schneller erkannt haben als ich, wohin der Hase laufen könnte. Vielleicht bin ich da auch zu naiv oder gutgläubig, eine Eigenschaft, die ich dennoch nicht aufgeben möchte.
    Ich kann mich noch gut an eine „Diskussion“ erinnern, aus der ich mich herausgehalten habe – nicht aus Feigheit, sondern aus eben dem Grund, der sich nun erneut herauszustellen scheint. Es hat ja keinen Sinn, sich immer wieder im Kreis zu drehen und in „Diskussions“formen zurückzufallen, die man seit Jahrzehnten überwunden glaubte.
    Sicher verstehe ich, dass es Momente gibt, in denen alte Verletzungen aktualisiert werden, in überdimensionierter Form wieder erscheinen, jegliche differenzierte Wahrnehmung zuzuschütten drohen. Wer kennt solche Verletzungen nicht?
    Ich habe mir vorgenommen, in solchen Momenten erst mal die Augen zu schließen und tief durchzuatmen, um dem Gemisch aus Hilflosigkeit und Empörung zu entkommen
    Meine jüngsten Vietnam-Erfahrungen sind dabei vielleicht hilfreich.

    Bei der Gelegenheit hier ein paar Eindrücke dazu (wenn Bronski es erlaubt).
    Bei einer solchen Reise, die so eng mit eigener privater wie politischer Sozialisation verbunden ist, kommen intensive Erinnerungen und Gefühle auf. Eindrücke, die nicht sogleich zu verarbeiten sind. Die ich aber (zunächst für unsere Kinder) festhalten möchte.
    (Vielleicht kann daraus ja auch, mit Bronskis Zustimmung, ein Beitrag zum Umgang mit Vergangenheit werden.)
    Natürlich steht da an erster Stelle das vergangene (und noch gegenwärtige) Leid.
    Ich kenne auch die bedrückende Atmosphäre eines „kommunistischen“ Landes, in Ostberlin („Hauptstadt der DDR“). Umso überraschender die Jugendlichkeit, (sicher auch nervtötende) Quirligkeit im Dauergehupe hunderter durchrasender Motorräder. 40 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von über 90 Millionen. Da Ahnenkult, höchste Reserviertheit – auf der Straße entfesselte Disziplinlosigkeit. Und doch haben wir nicht einen Unfall beobachtet. In Hanoi äußerste Kontraste zwischen Bruchbuden, Dritte-Welt-Atmoshäre und durchaus auch Läden mit Luxuscharakter.
    In Saigon scheinen 40 Jahre „Kommunismus“ kaum etwas am kapitalistischen Geist geändert zu haben, im offiziellen Sprachgebrauch zur „Hauptstadt der Ökonomie“ umdefiniert. Noch auffälliger, bedrohlicher die Massen von Motorrädern, ausschließlich von Jugendlichen, Motorradgangs vergleichbar, wie ich sie noch in keiner westlichen Großstadt gesehen habe. Lebensfreude oder Verdrängung? Oder Auskosten der Freiheitsräume bis zum Äußersten, einer „eingerahmten Freiheit“ – wie unser ausgezeichneter Reiseleiter erläutert. Höchst sympathisch, humorvoll, der gleich alle für sich einnimmt. Ich gebe ihm, unterstützt von der Gruppe, ein Abschiedsständchen, frei nach Gilbert Bécaud, „Nathalie“: Hommage an eine russische Reiseleiterin, in die er sich am Roten Platz in Moskau verliebt.
    Dann, zum Schluss, im Anti-Kriegs-Museum in Saigon, die erneute Konfrontation mit den Schrecken des Vietnam-Kriegs: grausam, aufrüttelnd, beeindruckend, ernüchternd. Und Respekt für ein Volk, das so mit immer noch präsenten Schrecken der Vergangenheit umzugehen versteht, fast mit (sicherlich nicht zur Schau gestellter) Heiterkeit.
    Als Erklärung vielleicht eine vietnamesische Lebensmaxime: „Vergiss das Schlechte und halte das Gute fest!“
    Eine Devise, die sicher helfen kann, Verletzungen zu überwinden, sich Neigungen zur Opferpose entgegen zu stellen.
    Die ich hier als weihnachtliches Motto auch weitergeben möchte.

  11. @ Brigitte Ernst

    Da sich Werner Engelmann eine große Mühe gemacht hat, auf Sprache, Geschlechterverhältnis und Machtstrukturen einzugehen, will ich zumindest noch das Folgende dazu sagen – und das aus vollem Herzen:
    Auch ich stehe nicht mehr für einen Dialog zum Geschlechterkampf bei jedem verdächtig nahen Thema zur Verfügung. Es hat ja nun jeder von uns so seine persönlichen Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten aus irgendeiner alten Geschichte, die ihn immer mal umtreibt. Aber ich möchte dann doch gerne das eine von dem anderen (dem Sachthema) trennen wollen. Man kommt sich ja manchmal als Mann wie von einer alttestamentarischen Erblast verfolgt, aber auch bei jeder dritten oder vierten gesellschaftlichen Schieflage/Problementwicklung als genereller „Machtfaktor“ auseinander gepflückt zu werden. Das möchte ich nicht und das stimmt auch objektiv nicht!
    Es gab vor einigen Jahren ein Buchtitel: „Lasst endlich die Männer in Ruhe!“ (Autorin(!) weiß ich im Moment nicht). So geht’s mir manchmal.
    Und so schließe ich mich den letzten Sätzen von Werner Engelmann an – ich kann’s jedenfalls nicht besser ausdrücken -, dass ich mich „für einen Scheindialog im Sinne von Geschlechterkampf, der mit Kategorien „wir Männer“ operiert, stehe ich nicht zur Verfügung. Ich bin immer noch ein Mensch mit individuellen Denkvermögen und werde mir das auch nicht nehmen lassen.“
    So ist es.

  12. @ Werner Engelmann

    Danke für Ihren Kommentar. Ich bitte aber darum, das von Ihnen angeschnittene Thema nicht zu vertiefen. Es war für mich in letzter Zeit mitunter schwierig, die Balance zu halten zwischen dem, was noch zum Thema gehört, und dem, was eigentlich schon nicht mehr dazu gehört. Manchmal sind die Grenzen fließend. Ihre Vietnam-Schilderung gehört klar nicht zum Thema. Ich nehme aber die zitierte vietnamesische Lebensmaxime: Vergiss das Schlechte und halte das Gute fest! Mal abgesehen davon, dass dies nicht die Maxime für uns Deutsche sein kann, die wir z.B. die Nazi-Zeit niemals vergessen dürfen, ist der Spruch als lebensbejahendes Motto vielleicht dennoch wegweisend. Bezogen auf den Kampf der Frauen für Gleichberechtigung, auch sprachliche, wäre also zu fragen: Ist die Zeit denn schon reif, das Schlechte zu vergessen? Haben sich die Strukturen der Gesellschaft, auch die Denkstrukturen in den Köpfen, weit genug verändert, um Gleichberechtigung umzusetzen? Das ist für mich – abgesehen vom rein Sprachlichen – die Crux beim Gastbeitrag von Frau Görlitzer, denn ich glaube das nicht.

  13. @ Werner Engelmann und Jürgen Malyssek

    Sollte ich mich missverständlich ausgedrückt haben: Das „Hough, wir Männer und Frau Görlitzer haben gesprochen“ bezog sich auf die vier Männer deutscher Michel, Henning Flessner, Sie, Herr Engelmann, und Sie, Herr Malyssek, die sich der Position von Frau Görlitzer unisono so begeistert angeschlossen haben.

    Es verwundert mich immer noch, wie heftig hier gegen meine harmlosen Versuche, der Position von Frau Görlitzer auch nur ein paar Überlegungen entgegenzusetzen, geschossen wird. Sie beide plädieren für einen „unaufgeregten sachlichen Diskurs“, legen aber in einem Ton los, bei dem man den Schaum vor Ihrem Mund förmlich mit Händen greifen kann.
    Merken Sie gar nicht, dass Sie genau das induviduelle Verhältnis zur Sprache, das Sie sich selbst zugestehen, Frauen, die sich von bestimmten Aspekten des überkommenen Sprachgebrauchs ausgegrenzt und damit verletzt fühlen, absprechen?

    Sie, Herr Engelmann, fordern in Ihren Kommentaren mehrfach einen respektvollen Umgang mit Sprache. Dem will ich nicht grundsätzlich widersprechen. Wenn dieser Respekt vor der Sprache aber größer ist als der vor den Menschen, die man sprachlich benennt oder mit denen man sprachlich kommuniziert, wird es für mich problematisch.

    Ich muss Bronski insofern recht geben, als einige Ihrer Exkurse, Herr Engelmann, nicht nur der zu Vietnam, weit vom Thema wegführen. Was sollen die breiten Ausführungen zur von wem auch immer geübten Kritik an der deutschen Sprache, wenn es doch um das vielen Sprachen gemeinsame Phänomen der Dominanz männlicher Formen geht?
    Geradezu ärgerlich finde ich Ihre Gleichsetzung der Versuche, mehr weibliche oder geschlechtsneutrale Formen in der Sprache zu verankern, mit Totalitarismus.

    Im Übrigen verstehe ich die ganze Aufregung nicht. Es wird keinem Menschen vorgeschrieben, ob er sich gendergerecht ausdrücken möchte oder nicht. Es werden Empfehlungen gegeben, aber niemand bekommt ein Ordnungsgeld verpasst geschweige denn eine Gefängnisstrafe, wenn er oder sie sich diesen sprachlichen Formen verweigert.
    Ich plädiere also für Abregung.

  14. Oh je, hier soll doch kein Geschlechterkampf geführt werden. Sprache ist etwas Lebendiges. Deshalb verändert sie sich auch ständig und lässt sich nicht einengen durch Gebote. Sicher ist sie auch ein Spiegel von gesellschaftlichen Veränderungen. Meine geliebte Großtante wurde auch in hohem Alter noch als Fräulein tituliert, weil sie nie verheiratet war. Ich habe mir als Kind dazu keine Gedanken gemacht. Aber diese Frau war eine sehr starke Persönlichkeit, die ungeachtet gesellschaftlicher Einengungen ihre Überzeugungen sehr selbstbewusst gelebt hat, sehr souverän, sehr naturverbunden und viel über die Natur und ihrer Erhaltung wissend. Sie stand einfach über den Nicklichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, sie war keine Kämpferin für Frauenrechte, sie nahm sie sich einfach und es war ihr egal, damit als schrullig, sonderlich und als peinlich für ihre Familie zu gelten. Nein, sie kam nicht aus armen Verhältnissen, aber sie teilte mit uns unsere und ihre Flüchtlingsarmut nach dem Krieg. Sie war für mich das Vorbild einer Frau, die sehr selbstbestimmt durchs Leben ging. Das hat mich geprägt.
    Gehört das jetzt hier her? Ich finde ja. Das Herumbasteln an sprachlichen Veränderungen zeugt gerade nicht vom einem Selbstbewusstsein der Frauen. Die Sprache wird ihre Wege von alleine finden, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.

  15. @ Brigitte Ernst

    „Ich plädiere also für Abregung.“

    Bitte fangen Sie damit bei sich selbst an. Wann hat hier jemand auf Sie „geschossen“?

  16. @ Brigitte Ernst

    Ich verstehe Sie, Frau Ernst, im Moment nicht mehr, allenfalls habe ich ein Ahnung. Weder Herr Engelmann noch ich haben auf Sie „geschossen“? Ich habe mich jedenfalls nur abgegrenzt. Und: „Schaum vor Ihrem Mund …“
    Verärgert schon, aber kein Schaum …
    Es gibt sowas wie emotionale Fallen, und die möchte ich nicht fallen, wenn ich’s rechtzeitig merke. Das ist alles.

  17. @ Werner Engelmann,

    Ich kann jetzt nicht groß ausholen, der Tag ist noch voller Überraschungen. Aber ich danke Ihnen für Ihre Schilderungen aus Ihrer Vietnam-Reise. Da haben Sie einen wertvollen Erfahrungsschatz, den ich sehr spannend finde.

    Kann es sein, dass ich Ihren ersten Satz (20.12.) „Den ersten Satz Ihres Beitrags nehme ich zur Kenntnis und respektiere ihn auch, allerdings nur mit großem Bedauern.“ Wie das Bedauern?
    Kurz zur vietnamesischen Lebensmaxime: „Vergiss das Schlechte und halte das Gute fest!“
    Ich persönlich kann das Schlechte nicht vergessen – und will es auch gar nicht, was aber nicht bedeutet, dass ich nicht das Gute festhalte. Beides geht.
    Alles Gute!

  18. @ Bronski

    Sie wissen sehr wohl, dass das Verb „schießen“ hier metaphorisch gemeint war und dass nicht auf mich, sondern gegen mich und diejenigen, deren Belange ich hier – auf sehr zwiespältige und fragende Weise – vertrete, scharf geschossen wurde (s. http://www.redensarten-index.de für „scharf schießen“: jemanden verbal angreifen).

    Offensichtlich haben Sie sich schon so an Herrn Engelmanns zwar oft verklausulierte, aber dennoch zwischen den Zeilen wahrzunehmende scharfe Angriffe gewöhnt, die man – wenn man auf der metaphorischen Ebene bleiben will, durchaus auch als Schläge unter die Gürtellinie bezeichnen könnte.

    Ein Beispiel aus seinem Kommentar vom 20. Dezember um 8:30:
    „…dass keine natürliche Sprache im mathematischen Sinne „perfekt“ ist, dass jede Sprache Mehrdeutigkeiten und Ungereimtheiten enthält und historisch auch Wandlungen unterworfen ist. Mit denen es aber – in Abgrenzungen zu totalitären Versuchen der Sprachsteuerung – sorgfältig und respektvoll umzugehen gilt.“
    Habe ich das falsch verstanden, oder wird hier ein Vergleich gezogen zwischen „totalitären Versuchen der Sprachsteuerung“ und der von Feministinnen und Feministen angestrebten Sensibilisierung für eine frauenfreundlichere Sprache? Ich sehe den totalitären Anton Hofreiter förmlich vor mir, „mit diktatorischen Methoden jegliche Demokratie unterdrückend, das gesamte politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben [nach dem Führerprinzip] sich total unterwerfend, es mit Gewalt reglementierend“. (Definition des Dudens für den Begriff „totalitär“).

    Heftig wird es auch am 20. Dezember um 18:53.
    „Ganz sicher sind rechtsradikale Äußerungen nicht für bare Münze zu nehmen. Wer aber genau hinhört, sich Gedanken macht über die Gründe, wird schnell auf Indizien stoßen, dass missionarische Aktionen solcher Art (unabhängig davon, wie berechtigt die zugrundeliegende Sicht ist) zu einem nicht unerheblichen Teil beitragen zu Misstrauen, Aggressivität, rechtsradikalen Aus- und Abgrenzungsversuchen.“
    Mit anderen Worten: Seht euch vor, dass ihr es mit euren Versuchen, beim Umgang mit Sprache stärker auf weibliche Belange Rücksicht zu nehmen, nicht übertreibt, sonst seid ihr schuld am Anwachsen des Rechtsradikalismus.
    Starker Tobak!

    In demselben Kommentar fährt Herr Engelmann fort:
    „Ich habe es bisher für ein Spezifikum vorrangig rechtsradikaler Befindlichkeit gehalten, in entrüstetem Opfermodus zu schwelgen, in Passivkonstruktionen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu verschleiern, mit pauschalisierenden , trivialen Sprüchen (wie „nie“ zu trennender Zusammenhang von „Sprache“, „Inhalt“ und Menschen) einen Absolutheitsanspruch zu untermauern, unterschiedlichste Phänomene mit einander zu vermengen, sich selbst mit einer großen Masse (oder „Volk“) gleichzusetzen, ultimativ Eingehen auf die eigenen „Gefühle“ zu fordern und zugleich durch Aufoktroyieren von Sprech- und Denkweisen die Gefühle anderer zu verletzen.
    Ich habe mich wohl getäuscht.
    Wissenschaftlich fundierte Bemühungen zu differenzieren und Klarheit in vielfältig verflochtenen Beziehungen zu bringen, kann man dann wohl vergessen.
    Einen einigermaßen seriösen, sachlichen Dialog wohl auch.“

    Hier ein – wie auch immer begründeter – Vergleich meiner Argumentation mit den Methoden Rechtsradikaler.
    Wo und inwiefern ich im entrüsteten Opfermodus geschwelgt habe, einen Absolutheitsanspruch geäußert habe, wo ich mich mit einer großen Menge gleichgesetzt habe – während ich doch im Gegenteil anfangs betont habe, dass ich den Forderungen der „Gender-Aktivisten“ zwiespältig gegenüberstehe – und wo und wann ich jemandem eine Sprech- und Denkweise aufoktroyieren wollte, bleibt Herrn Engelmanns Geheimnis. Ich wollte lediglich Denkanstöße geben.

    Wie schon aus früheren Diskussionen mit Herrn Engelmann bekannt, spricht er mir zum Schluss noch die Fähigkeit, zu differenzieren und einen seriösen, sachlichen Dialog zu führen, ab.
    Wer also seiner (wie immer unangreifbaren, weil wissenschaftlich fundierten) Argumentation nicht folgt, ist einfach zu doof zum Denken und Diskutieren.

    Ich muss gestehen: Auf einen Dialog, der mit Methoden wie den in den obigen Zitaten zum Ausdruck kommenden operiert, kann ich gut und gerne verzichten.

  19. Problemlos habe ich bisher die Ansprache im persönlichen Gespräch empfunden. Kommt nicht häufig vor, aber mein Gegenüber hat mir mitgeteilt, wie die gewünschte Anrede sein soll.

    Im beruflichen Alltag schreibe ich meine Kollegen Mal so oder so an. Unter Zeitdruck sind es die lieben KollegInnen, sonst schreibe ich liebe Kolleginnen, liebe Kollegen. Das wird von allen so praktiziert.

    Keine Ahnung habe ich, wie ich auf dieser Ebene, Menschen des „dritten Geschlechtes“ anschreiben soll. Liebe diverse geht ja wohl schlecht.
    Vermutlich lande ich bei liebe Kollegen.

  20. @ Brigitte Ernst

    Ich möchte gern zu einem friedlichen und freundlicherem Umgang miteinander zurückfinden. Sie selbst fordern einen sensiblen Umgang mit Sprache. Dazu sage ich: Hier wird nicht geschossen. Auch nicht verbal. Wenn Sie eine solche Redensart hier einsetzen, eskalieren Sie die Situation. Ich meine: unnötig.

    @ all

    Ich richte diese Bitte auch an alle anderen Userinnen und User. Nonverbale Kommunikation wie hier per Blog-Kommentar ist schwierig genug. Scherze können missverstanden werden, eine flapsige Bemerkung kann schwer verletzen, über allem schwebt jederzeit die Gefahr der Eskalation, und all das vor allem deswegen, weil man sich dabei nicht in die Augen sehen kann. Ich bitte Sie darum zu versuchen, zu einem konstruktiven Austausch zurückzufinden. Ich halte das Thema des Threads für wichtig genug, um es ernst zu nehmen, da die Art und Weise, wie Menschen sich ansprechen, eine Frage des Respekts ist.

    Danke!

  21. @all, @Henning Flessner, 20. Dezember 2018 um 10:58

    „Liegt dem ganzen nicht ein Kategorienfehler zugrunde, weil Genus mit Sexus verwechselt wird?“

    Danke für diesen Hinweis!
    Eine richtige und, wie mir scheint, auch wichtige Fragestellung. Die zum zentralen Problem führt, aber eben auch unbeliebte, weil differenzierte Stellungnahmen erfordert.
    Ich bin ihr nachgegangen, nehme es zum Anlass einer abschließenden tiefergehenden Auseinandersetzung.
    Sich bloß auf den verlinkten Text zu beziehen, erscheint problematisch. Dessen Methodik enthält (eingestandenermaßen) erhebliche Schwächen: So wird der zugrundegelegte Begriff von „Sprache“ nicht definiert, die angewandten unterschiedliche Methoden werden nicht erkennbar und ohne Klärung der Voraussetzungen vermischt.
    Dennoch ergeben sich auch hilfreiche Ansätze.

    Eine Widerlegung wissenschaftlich nicht haltbarer Positionen ist aber selbst wissenschaftlich sauber zu führen. Ich beziehe ich mich daher auf gesicherte Erkenntnisse traditioneller Grammatik sowie moderner Sprachwissenschaft.

    Zuerst die dazu notwendige Eingrenzung.
    Hier seien nur die für die Bearbeitung des Themas relevanten Ansätze genannt.
    Generell sind alle Ansätze der modernen Sprachwissenschaft deskriptiv und wertneutral. Weltanschauliche Vorgaben haben hier nichts zu suchen. Grundlegend ist die Unterscheidung von Sprachsystem („langue“) und Sprechen oder Sprechakt („parole“). Ohne diese ist keine konsistente sprachliche Analyse möglich.
    Die traditionelle Grammatik untersucht die grammatischen Bezüge innerhalb des Sprachsystems. Semantische Untersuchungen über das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung dagegen kommen nicht ohne Bezug zu den Sprechakten sowie zu den vom Sprecher zugeordneten Bewusstseinsinhalten aus. Die pragmatische Linguistik (auch die Soziolinguistik) stellt darüber hinaus Bezüge zu gesellschaftlichen Aspekten her. Die Psycholinguistik erfasst, über Semantik hinausgehend, Verlauf und Bedingungen der Wortbildung, vor allem beim Kind, deren Bedingungen sich grundsätzlich von phylogenetischen (auf die Sprache bezogenen) Entwicklungen unterscheiden. Derart, dass etymologische Untersuchungen zu Herkunft und Entwicklung von Wortbedeutungen keine schlüssigen Erkenntnisse über Bewusstseinsinhalte, etwa im Sinne einer sprachlich überlieferten Männerwelt, zulassen. Und vergleichende Sprachwissenschaft (auf die sich auch der verlinkte Artikel bezieht) liefert Erkenntnisse aus dem Vergleich verschiedener Sprachstrukturen.
    Jeder dieser Bereiche erfordert für sich schon sehr komplexe Untersuchungen.

    „Feministische Linguistik“:
    Der „feministischen Linguistik“ im Sinne von „Professx“ Lann Hornscheidt, sicher nicht zu Unrecht als „elitärer Neusprech“ kritisiert, ist es auch in bald 30 Jahren nicht gelungen, halbwegs brauchbare wissenschaftliche und praktikable Ansätze zu erarbeiten (vgl. Wikipedia).
    Die Hauptfehler:
    (1) Rückkehr zu normativen Vorgaben, im Widerspruch zu allen linguistischen Disziplinen. So als könne man, aus einem „moralischen“ Impetus heraus, ohne Reflexion über die Konsequenzen, ein ganzes, in fast zwei Jahrtausenden gewachsenes grammatisches System voluntaristisch aus den Angeln heben.
    (2) Vermengung von Sprache als System (langue) mit Sprechen und Sprechakten (parole).
    So müssen vereinzelte Ergebnisse der Etymologie (die in der modernen Linguistik kaum mehr eine Rolle spielt) als „Beleg“ für die Behauptung vom Deutschen als einer „Männersprache“ herhalten, bei der Frauen lediglich „mit gemeint“ seien, aber nicht in Erscheinung treten. Und im Umkehrschluss wird das eigene subjektive Empfinden auf die Ebene des Sprachsystems zurück projiziert, um massive Eingriffe sowohl ins grammatische System wie in die Orthographie zu postulieren.
    So etwa durch Verdrängung des geschlechtsneutralen Pronomens „man“ (bei dem die etymologische Herkunft vom Homonym „Mann“ schon längst keine Rolle mehr spielt) durch „man/frau“ oder „mensch“.
    Weit kurioser wird es freilich, wenn man angesichts von Dreigeschlechtlichkeit „Proffessx“ (bitte ohne Zusatz „Frau“!) nach der Deklination des von ihr gewählten Titels oder der Pluralbildung ihrer „Studierx“ fragt – was man tunlichst vermeiden sollte.
    (Vgl. „Professix im Geschlechterkampf“, http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/gendertheorie-studierx-lann-hornscheidt-ueber-gerechte-sprache-a-965843.html)
    Was als „Geschlechtergerechtigkeit“ gemeint war, bringt unlesbare und kaum verstehbare Texte mit vielfachen semantischen Verfälschungen, Bürokratisierung und Verarmung der deutschen Sprache – mithin das Gegenteil des Postulierten – hervor.
    Weitere Absurditäten finden sich im – durchaus humoristischen – Vortrag von Dr. Tomas Kubelik: „Gendersprache“ (https://www.youtube.com/watch?v=95aBF-S5cp8)

    Zu einzelnen Fragestellungen:

    – Entstehung der Artikel im Deutschen (Nebenaspekt, relativ bedeutungslos):
    Erstmals belegt im Griechischen. „Das Westgermanische bildete dann die bestimmten Artikel „der“, „die“ und „das“ aus den Demonstrativpronomen.“ (Wikipedia: Artikel).
    Ein Hinweis darauf, dass die Genus-Bezeichnungen im Deutschen aus der Zeigegeste, also der unmittelbaren Erfahrungswelt heraus entstanden, dann auf alle zeigbaren Lebewesen und Gegenstände (Konkreta), schließlich auf Abstrakta ausgeweitet wurden.

    – Genus und Sexus. (die wohl wichtigste Unterscheidung: Wikipedia,“Geschlecht“):
    Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen:
    – Genus, das grammatische Geschlecht als Klassifizierung von Wörtern
    – Sexus (Sprache), das natürliche Geschlecht der durch die Worte bezeichneten Lebewesen.
    Der verlinkte Artikel fügt in durchaus sinnvoller Weise hinzu:
    Generisches Femininum: z.B. die Person, die Geisel, die Waise, die Lehrkraft
    Zu nennen wären auch generische Neutra: das Mitglied

    Genus und Sexus fallen in der Regel bei Lebewesen zusammen. Sexus kann aber auch in Konflikt mit dem Genus als neutraler (nicht geschlechterbezogener) Kategorie geraten, wobei letzteres dominiert. So bei „das Fräulein“, „das Männlein“ (Diminutivsilbe als Träger des Genus).
    Vorstellungen von Sexus betreffen also nur einen winzigen Teil des Wortschatzes. Bei der überwältigenden Zahl der Wörter hat das Genus damit überhaupt nichts zu tun: Es ist „arbiträr“ (willkürlich), nach de Saussure die Natur des Zeichens überhaupt.
    Genus wird mit Vorstellungen von Sexus beim Sprecher/Hörer nur dann verbunden, wenn diese gezielt situativ oder im Kontext evoziert werden. (Angeblich) frauenfeindliche Bedeutungen liegen also nicht in der Sprache selbst, sondern in (meist ideologisch bedingten) Voreinstellungen (z.T. auch Vorurteilen) der Sprecher/Hörer.
    Sinnlos, einem Tisch männliche, einer Bank weibliche Eigenschaften zuschreiben zu wollen. Ebenso unsinnig, ins Pronomen „man“ Geschlechtsvorstellungen hineinzuprojizieren.

    – Das generische Maskulinum:
    Hier gilt Ähnliches. Hier wird, laut Duden, die grammatische „männliche“ Form verwendet, „um eine Allgemeinheit zu bezeichnen oder gemischtgeschlechtliche Gruppen oder Referenten, deren Geschlecht (Sexus) unbekannt oder gleichgültig ist“. (Wikipedia)
    So etwa (wie Frau Görlitzer schlüssig aufzeigt) bei Funktionsbezeichnungen wie „Lehrer“, die aus einem Verb abgeleitet sind. Diese, im Kontext der Tätigkeit/Funktion begriffen, enthalten keinen Bezug zum Sexus, sind also neutral.
    Sie unterscheiden sich von der zweiten Verwendung als Personenbezeichnung („der Lehrer“, die „Lehrerin“). Nur im zweiten Fall sind sie in Bezug auf Sexus zu interpretieren.
    Man kann die beiden Begriffe von „Lehrer“ daher auch als Homonyme (gleichlautende Wörter mit verschiedener Bedeutung) auffassen.
    „Gender-Mainstreaming“ interpretiert hier auch im ersten Fall den Sexus hinein.
    Dazu der renommierte Linguist Prof. Eisenberg:
    „Der Trick ist doch gerade, dass niemand mit seinem Geschlecht gemeint ist. Sondern die reine Person, die rein über ihre Tätigkeit bezeichnet wird, nur die Tätigkeit interessiert.“
    Nicht-Diskriminierung durch Nicht-Nennung – das sei die eleganteste und einfachste Form in der deutschen Sprache, sagt Eisenberg.
    (https://www.deutschlandfunk.de/er-sie-die-genderfrage-im-rechtschreibrat.724.de.html?dram:article_id=433109)

    Die Beispiele für „generisches Maskulinum“ im verlinkten Text zeigen, dass dies auch in umgekehrter Richtung vorkommt.
    Dementsprechend hätte ich mich als Mann darüber zu empören, wenn ich „eine Person“ oder „eine Waise“ genannt (was ich seit früher Kindheit tatsächlich bin) oder als „die neue Lehrkraft“ vorgestellt werde. Da mir doch nach feministischem Verständnis weibliche Eigenschaften zugeschrieben werden.
    Ich sehe dazu freilich keine Veranlassung, weiß ich doch, dass ich nicht lediglich in einer Frauenwelt „mit gemeint“, sondern in einer Frauen und Männer gleichermaßen umfassenden Sprache „inkludiert“ bin.

    Fazit:
    Die genannten Untersuchungen lassen in der Tat erkennen, dass bei feministischen Sprachexperimenten im Sinne von „Gendersprache“ Sexus und Genus verwechselt werden. Dem liegt eine – nach sprachwissenschaftlichen Kriterien nicht haltbare – subjektive eigene Voreinstellung zugrunde, die auf die Sprache projiziert und in dogmatischer Form als für alle Sprecher verbindlich postuliert wird.

    Für die Fragwürdigkeit dieser Position in gesellschaftspolitischer Hinsicht ergeben sich darüber hinaus auch Hinweise aus Sprachvergleich, der im verlinkten Text angesprochen wird:
    „Etwa 55% der Sprachen haben keinen Genus, sind also 100% geschlechtergerecht. Große Vertreter sind hier Chinesisch, Persisch (Iran, Afghanistan), Türkisch, die meisten kurdischen Sprachen, Japanisch und weitere. Keines dieser Länder ist als ein Land bekannt, in dem die Gleichstellung der Geschlechter besondere Erfolge erzielt hat. Vielmehr wird gerade in diesen Ländern die traditionelle Rolle der Geschlechter sehr betont.“

    Auch dies ein wichtiger Befund, der die Behauptung von der „sexualisierten“ Sprache ad absurdum führt. Nicht „die Sprache“ ist „sexualisiert“ und bedürfte einer „genderneutralen“ Ummodelung. Sexualisiert und damit revisionsbedürftig sind vielmehr die Vorstellungen bestimmter Sprecher (hier wohl eher: Sprecherinnen), die ihre eigenen, sachlich nicht legitimierten Vorstellungen zum Maßstab erheben.
    An sich berechtigte Kritik am Patriarchat wird pauschal in „die Sprache“ an sich, in das Bewusstsein „der“ Sprecher hineinprojiziert.
    Behauptungen über angebliche Übernahme patriarchaler Vorstellungen mittels Sprachsystem, also DIE Sprache an sich vermittle in ihrem SYSTEM frauenfeindliche Sichtweisen, etwa, indem „der Mann als der Prototyp der Menschheit angesehen“ werde, sind nach sachlichen sprachwissenschaftlichen Kriterien nicht haltbar.

    Politische Einschätzung:

    Im Deutschen gibt es – bisher – keine normierende Sprachinstanz, vergleichbar etwa der Academie française. Auch der Duden hat die quasi-normierende Funktion zugunsten von bloßer Deskription längst aufgegeben. Welche gewaltigen Probleme selbst Regelungen in Teilbereichen mit sich bringen, hat über 20jähriger Hickhack zur Rechtschreibreform gezeigt.
    Der durch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um „Gendersprache“ freilich noch weit in den Schatten gestellt wird.
    Was als Konsequenz aus Erfahrungen mit totalitärer Sprachsteuerung (dokumentiert im „Wörterbuch des Unmenschen“) gedacht war, wird nun wieder im Stil „gendergerechter“ Erziehung zurückgedreht. Aus Sprache als bedeutendstem Instrument der Kommunikation wird (wieder) ein Instrument der „Erziehung“ des „Volkes“ – von „feministischer“ und „völkischer“ Seite her mit freilich höchst unterschiedlichen Ansätzen. Wobei die von der ersten produzierten Absurditäten „das Volk“ mehr und mehr in die Hände der letzteren treiben. Nicht nur werden seriöse Wissenschaftler wie Prof. Eisenberg von NationalistenSeite für sich okkupiert, sie werden auch in deren Hände getrieben und erscheinen mehr und mehr nur noch auf Online-Foren der extremen Rechten.
    Wo Kritiker unausgegorener Vorstellungen von Aktionisten selbst der „Frauenfeindlichkeit“ bezichtigt werden, wo man zu Umgangsformen unseligen „Geschlechterkampfes“ zurückkehrt, ist verbohrter Dogmatismus programmiert. Und wo Erben (oder „Erbinnen“) erkämpfter Frauenrechte fortlaufend Material liefern, das für Hohn und Spott sorgt, finden Vorstellungen von „links-grün versifften Kulturimperialismus“ massenhaft Verbreitung.
    So leisten diese – selbst, wenn Teile des Anliegens berechtigt sein mögen – einen beträchtlichen Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft.

    Privat kann jeder schreiben oder sich lächerlich machen, wie er will, auch das Scheitern von Kommunikation überhaupt riskieren. Funktionsträger mit Vorbildfunktion wie Journalisten oder Lehrer können das nicht. Sie bedürfen sachlicher, sprachwissenschaftlich ausgewiesener Orientierung für ihr Verhalten im eigenen Verantwortungsbereich.
    Aktionisten für „Gendersprache“ leisten das ganz sicher nicht.

    Natürlich gibt es frauenfeindliche Denk- und Sprechweisen, wie auch solche rassistischer Art, sie werden auch gezielt verbreitet. Diese manifestieren sich vor allem lexikalisch im Gebrauch bestimmter, verächtlicher Begriffe, sicher nicht in Grundstrukturen der Sprache.
    Frauenverachtung – oder schlicht Menschenverachtung – zu ächten, ihr den Kampf anzusagen, ist nicht Angelegenheit einer selbsternannten „Elite“, sondern der Zivilgesellschaft insgesamt, erfordert den Einschluss aller. Und Sprache „gehört“ allen Sprechern.

    Mit normativen Eingriffen in die Sprache, mit einem Erziehungsprogramm einer selbsternannten „Elite“ für „das Volk“ ist mit Sicherheit kein respektvollerer Umgangs mit jedermann (jede Frau natürlich inbegriffen) zu erreichen.
    Höchste Zeit, dass „Gender-Aktivisten und Aktivistinnen“ im Stil von „Professx“ – den Plural kann ich leider nicht nennen -, die sich zur „Volkserzieher*innen“ in Sachen Sprache und Moral aufschwingen, damit beginnen, ihr eigenes Sprachverständnis, ihren eigenen „moralischen“ Impetus zu hinterfragen!

    *******
    Ich wünsche allen Mitbloggerinnen und Mitbloggern (Mitblogger*innen oder Mitbloggx) ein frohes und friedliches Weihnachtsfest!

  22. @ Werner Engelmann

    Danke für die interessanten Ausführungen zur deutschen Sprache. Sie betonen vorab:
    „Ich beziehe mich daher auf gesicherte Erkenntnisse traditioneller Grammatik sowie moderner Sprachwissenschaft.“ Ich ergänze: Soweit es in einer Wissenschaft, die sich nicht exakt nennen kann, gesicherte Erkenntnisse tatsächlich gibt. Denn es existieren natürlich zu Ihrer Sicht – und derjenigen der von Ihnen herangezogenen Germanisten – auch Gegenmeinungen, ebenfalls von namhaften Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern vertreten.
    Dem von Ihnen genannten emeritierten Professor Peter Eisenberg kann ich den an der Freien Universität Berlin lehrenden Professor Anatol Stefanowitsch gegenüberstellen, der ein Blog http://www.sprachlog.de betreibt, wo er wiederholt auf Fragen zu einer geschlechter-gerechteren Sprache eingeht. Ich wähle bewusst einen Mann, weil ich dem Vorwurf, hier wollten Feministinnen nur ihre bösen Welteroberungsziele verfolgen, vorbeugen möchte. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Wissenschaftlerinnen, die ähnlich argumentieren wie Anatol Stefanowitsch.

    Vor allem das sogenannte generische Maskulinum wirft aus seiner Sicht einige Fragen auf.
    Zum einen kann der Empfänger oder die Empfängerin einer sprachlichen Botschaft nie wissen, wann er oder sie es mit einem generischen und wann mit einem ganz normalen Maskulinum zu tun hat. Die Verständlichkeit, auf die viele Kritiker der „Gendersprache“ so großen Wert legen, ist also beim generischen Maskulinum nicht immer gegeben.

    Zum anderen erweist sich das generische Maskulinum als schönes theoretisches Konstrukt, das der Sprachwirklichkeit nur begrenzt gerecht wird. Wann soll es denn entstanden sein, d.h. wann soll sich in den Köpfen, im Sprachgefühl der Angehörigen der deutschen Sprachgruppe die Vorstellung verankert haben, dass mit dem Maskulinum benannte Personengruppen automatisch auch Frauen inkludieren? Dass mit „Studenten“, „Soldaten“, „Polizisten“, „Richtern“, „ Ärzten“, „Wählern“ etc. auch Frauen gemeint seien? Etwa vor dem 20. Jahrhundert, als Frauen diesen Gruppen noch gar nicht angehören durften und weder faktisch noch sprachlich inkludiert sein konnten? Man sieht deutlich die logischen Schwächen dieser Theorie.
    Im Blogartikel „Frauen natürlich ausgenommen“ nennt Anatol Stefanowitsch einige Untersuchung, die darauf hindeuten, „dass „generische“ Maskulina mehrheitlich eben nicht generisch interpretiert werden.“
    Und was hilft, so frage ich, die schönste Theorie von der Inklusion von Frauen in dieser Form des grammatischen Maskulinums, wenn die Mitglieder der Sprachgruppe dies gar nicht so eindeutig wahrnehmen?

    Auch die Journalistin Britta Fricke weist in ihrem Interview mit Peter Eisenberg in http://www.deutschlandfunk.de/linguist-kritisiert-geschlechtergerechte-sprache auf eine derartige Untersuchung hin, bei der SPD-Mitglieder gefragt wurden, wen sie sich für das Amt des Bundeskanzlers vorstellen könnten. Die Gruppe, die nur nach einem potenziellen Bundeskanzler gefragt wurde, nannte nur Männer. Die Gruppe, die nach einem potenziellen Bundeskanzler oder einer Kanzlerin befragt wurde, nannte Männer und Frauen. In bestimmten Fällen scheint das mit dem in den Köpfen „automatisch inkludiert Sein“ offenbar nicht zu funktionieren.

    Professor Stefanowitsch zeigt sich nicht als militanter Verfechter einer aufgezwungenen „Genderisierung“ der Sprache. Vielmehr hält er die Bestrebung, Frauen in der Sprache sichtbarer zu machen (und eben nicht nur zu „inkludieren“), für ein „Zeichen von Respekt, Interesse und gutem Benehmen“. Und dem würde ich mich anschließen.

    Doch nun zu dem von Ihnen, Herr Engelmann, verlinkten YouTube-Vortrag des Germanisten Dr. Tomas Kubelik, dem Sie in Ihrer Argumentation weitgehend folgen.
    Anscheinend ist es Ihnen nicht aufgefallen: Der Referent hält seinen Vortrag am 23. Januar 2016 auf einem Symposium des Bündnisses „Ehe und Familie“ – „Demo für alle“, worauf das Plakat hinter dem Rednerpult deutlich hinweist. Koordinatorin dieses Symposiums war Hedwig Freifrau von Beverfoerde, die ultrakonserative Hüterin der traditionellen Familie, die massiv zu Felde zieht gegen die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften. Gemeinsam mit Beatrix von Storch hat sie die „Demo für Alle“ gegen die Akzeptanz von sexueller Vielfalt in der schulischen Sexualerziehung organisiert. Sind das nicht interessante Verbindungen?
    Nun gut, ich halte es für eine durchaus akzeptable Meinung, auch Rechte könnten bisweilen recht haben.

    Herr Dr. Kubelik selbst macht in seinem Vortrag sehr deutlich, wo er politisch zu verorten ist. Zum einen gibt er seiner Meinung Ausdruck, dass es in der heutigen Gesellschaft keine strukturelle Benachteiligung von Frauen gebe, an anderer Stelle mokiert er sich über die Bestrebungen, sich aus Rücksichtnahme auf Minderheiten politisch korrekt auszudrücken und Wörter wie „Neger“ zu vermeiden, weil dies nicht zur Verminderung der tatsächlichen Diskriminierung beitrage. Und ganz zum Schluss macht er sich lustig über die amtliche Anerkennung derjenigen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Bisher war ich davon ausgegangen, dass es nur zwei Geschlechter gebe, laut Facebook gibt es ihrer mindestens 60.“ Und das Auditorium grölt.
    Ich an Ihrer Stelle, Herr Engelmann, hätte eine solche Rede nicht verlinkt.

    Das Buch von Tomas Kubelik mit dem Titel „Wie Gendern unsere Sprache verhunzt“, das er während der Veranstaltung bewirbt, wird übrigens auf der Internet-Plattform Wikimannia, die sich gegen die „Bevorzugung der Frauen und Benachteiligung der Männer in Politik, Rechtsprechung und Gesellschaft“ stark macht, in den höchsten Tönen gelobt.

    Besonders bemerkenswert ist der Titel seiner Dissertation:
    „Steiermarks Literatur zwischen Werteaufbau und Werteverlust“. Ich habe das Werk nicht gelesen und weiß also nicht, was er unter „Werten“ versteht, aber pikanterweise unterläuft ausgerechnet dem Autor, der sich so vehement gegen die Verhunzung der Sprache durch das „Gendern“ einsetzt, ein grober Grammatikfehler. Da die Steiermark ein Bundesland ist, vor dessen Namen ein Artikel steht, verbietet sich hier der direkte Anschluss des Genitivs, folglich müsste es heißen: „Die Literatur der Steiermark zwischen Werteaufbau und Werteverlust“. Aber vielleicht ist das in Österreich anders…

    Kurz noch eine Richtigstellung zum Begriff „Homonym“:
    Sie, Herr Engelmann, behaupten mehrfach, bei der Wortgleichheit von „homme“ mit der Bedeutung „Mensch“ und „homme“ für „Mann“ handele es sich um ein Homonym. Das ist falsch. Ein Homonym liegt dann vor, wenn die Wortgleichheit zufällig ist und inhaltlich keine Verbindung zwischen den beiden Begriffen besteht. Meist entsteht diese Wortgleichheit, wenn die Lautgestalt zweier ursprünglich ungleich lautender Wörter im Verlauf der Geschichte zur Deckung gekommen ist. Ein Beispiel hierfür ist das Wort „Kiefer“. Die Bezeichnung für den Baum stammt vom althochdeutschen „kienforha“ ab, der gleichlautende Körperteil geht auf das mittelhochdeutsche „kiver“ zurück.

    Bei „homme“ dagegen handelt es sich um ein Polysem, ein Wort, das im Laufe der Zeit mehrere inhaltlich miteinander verbundene Bedeutungen entwickelt hat. Es besitzt also eine gemeinsame Wurzel und hat seine Bedeutungen dann aufgefächert.
    Man geht davon aus, dass sich das lateinische Wort „homo“ für Mensch von „humus“ für Erde abgeleitet hat und das (aus anthropozentrischer Sicht) wichtigste irdische Wesen bezeichnet. Davon ausgehend erhielt dann auch der Mann (und bei dieser Interpretation bleibe ich), das wichtigere und sozial höher stehende menschliche Wesen, diese Bezeichnung.
    Dass die Vorstellung von Mann (und bezeichnenderweise eben nicht Frau) gleich Mensch eine über den romanischen Sprachraum hinaus verbreitete Vorstellung war, bezeugt die Etymologie des deutschen Wortes „Mensch“.
    Im Indogermanischen gab es ein Wort mit der Doppelbedeutung Mensch und Mann, aus dem sich über althochdeutsch „menisco“ und gotisch „mannisks“ beide Wörter, „Mensch“ und „Mann“ herausgebildet haben.

    Das bedeutet nicht, dass es frauenfeindliche Sprachen gäbe, sondern dass das Patriarchat sich in den Sprachen patriarchaler Gesellschaften, mal mehr, mal weniger, niedergeschlagen hat. Und warum sollte man hier nicht – solange man die Sprache nicht tatsächlich gewaltsam verunstaltet – kleine bewusste Korrekturen vornehmen, in denen sich eine Abkehr vom Patriarchat abbildet?

  23. Danke für diesen FR-Blog. Leider habe ich mich dazu verführen lassen diesen Unsinn mit Sternchen oder /in beim schreiben von Leserbriefen oder Blogbeiträgen mitzumachen. Dieses Thema lenkt sowieso nur von den echten Problemen der Geschlechterfragen (gleiche Bezahlung, gleiche Aufstiegsmöglichkeiten usw.) ab. Unsere Sprache ist da schon um einiges weiter.
    Ein Beispiel:
    Der Lehrer (Einzahl)
    DIE Lehrer (Mehrzahl)
    DIE LEHRERIN (Einzahl)
    Sechs Wörter, je drei sind einem Geschlecht zuzuordnen.
    Ab jetzt werde ich mich wieder an mein, in der Schule erlerntes, Deutsch halten. Tschüss Sternchen und /in!

  24. @ Brigitte Ernst, all

    Danke für die ausführliche Antwort.
    Komplexe Fragen bedürfen komplexer Antworten, die in einer Zeit der großen Vereinfacher nun mal immer unbeliebt sind. – Sei’s drum!
    Die Antwort auf einige Fragen also im nötigen Zusammenhang:

    (1) „Soweit es in einer Wissenschaft, die sich nicht exakt nennen kann, gesicherte Erkenntnisse tatsächlich gibt.“

    Das basiert weitgehend auf einem überkommenen (Vor-)Urteil, z.T. zutreffend für die ehemalige, ideologieverdächtige „Ältere Abteilung“ der Germanistik. Mit der hat aber gerade die Studentenbewegung (manchmal ziemlich unfair), dann die strukturale Linguistik radikal aufgeräumt.
    Im absoluten Sinn ist nicht einmal Physik „exakt“, z.B. bei der Teilchen- oder Wellentheorie des Lichts. Es kommt immer auf die Fragestellung bzw. den Versuchsaufbau an.
    Im Unterschied zu den Bereichen der Physik, etwa Mechanik oder Optik, ist der Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft aber um ein Vielfaches komplexer. Mit „exakt“ oder „nicht exakt“ hat das also nichts zu tun.
    „Die Sprachwissenschaft“ in dem Sinne gibt es gar nicht. Sondern nur eine Unzahl von Teildisziplinen, von denen jeder „Sprachwissenschaftler“ überhaupt nur einen Überblick über bestenfalls einige Teilbereiche besitzt. Ein seriöser Wissenschaftler wird sich eben so wenig apodiktisch über sein Spezialgebiet hinaus äußern wie etwa ein Zahnmediziner eine Herzoperation vornehmen wird.

    (2) Anatol Stefanowitsch:

    Ich kenne ihn nicht. Die Hinweise auf Wikipedia („Korpuslinguistik“) verweisen eher auf ein ziemlich eng begrenztes Forschungsgebiet. Ob das zu so umfassenden Äußerungen zum deutschen Sprachsystem berechtigt, ist (nach erster Einschätzung) eher zu bezweifeln. Die Aussagen im verlinkten Blog erweisen sich als reichlich eklektisch, haben vielleicht feuilletonistischen, aber weit weniger sprachwissenschaftlichen Wert. Was seine Ausführungen über Phonetik mit dem Genderproblem zu tun haben sollen, ist für mich nicht nachvollziehbar.

    (3) Peter Eisenberg:

    Den kenne ich dagegen sehr gut, habe ja eine Zeit mit ihm zusammen an der FU studiert, in einem größeren Projekt (mit Haberland und Pasierbsky) darüber hinaus mehrere Tutorien in Pragmatik geleitet. Seine Hauptseminare waren von außerordentlich hohem Niveau, sehr akribisch und seriös. Trotz seines großen Überblicks (Grammatiktheorie, Syntax, Semantik) mischte er sich nie in ihm eher fremde Bereiche ein, etwa in psycholinguistische Fragen.
    Peter Eisenberg ist zugleich DER Systemlinguist, der große Teile der auf de Saussure aufbauenden strukturalen Linguistik erst entwickelt hat. (Wikipedia gibt einen recht guten Überblick).

    (4) Dr. Tomas Kubelik:

    Ihre Vermutung („Anscheinend ist es Ihnen nicht aufgefallen“) meinen Sie doch hoffentlich nicht ernst! Ich habe ja auch extra auf den fatalen Sachverhalt hingewiesen, dass man durchaus seriöse Forschungen mehr und mehr nur noch auf solch fragwürdigen Foren findet, dass seriöse Forscher durch Lächerlichkeiten, wie „feministische Linguistik“ sie predigt, geradezu systematisch dahin getrieben werden.
    Was der Herr politisch vertritt oder sonst noch für Mist verzapft, interessiert mich in dem Zusammenhang überhaupt nicht. (Ist ja wohl Ihr Reden, dass man nach dem Inhalt zu beurteilen hat und nicht danach, was andere, die sich dran hängen, daraus machen?)
    Was seine Ausführungen zu Grammatik betrifft, sind diese sauber und nicht zu beanstanden, Lacher seien ihm gegönnt.
    Was mich allein daran stört, ist die Tatsache, dass er ausschließlich auf der Basis der traditionellen Grammatik argumentiert. Zur Beurteilung des Phänomens versuchter Sprachsteuerung insgesamt, etwa des Problems der mit Begriffen verbundenen Bewusstseinsinhalte, ist dies aber nicht ausreichend. Anders bei Psycholinguistik, Semantik und Pragmatik (auch bei generativer Grammatik), wovon er aber wohl wenig Kenntnis hat. Für eine Gesamtbeurteilung fällt er also aus.
    Weitere Ausführungen zu politischem Hickhack erspare ich mir.

    (5) „Generisches Maskulinum“:

    Eine mehr als unglückliche Bezeichnung, die mehr Verwirrung stiftet als klärt und so auch Ideologen auf den Plan ruft.
    Am Beispiel des Unfugs vom „Studierendenwerk“ am besten zu erklären:
    Schon „Student“ bloß als „Maskulinum“ – also mit Geschlechtsmerkmal – zu begreifen, ist Unsinn. Es ist eine vom Partizip Präsens des Verbs „studieren“ abgeleitete Form, die sich ausschließlich auf eine aktuell ausgeführte Tätigkeit bezieht, mit „Maskulinum“ nichts zu tun hat („genus verbi“ ist etwas ganz anderes). Abgeleitet aus dem entsprechenden lateinischen Partizip „studens“ (also einer VERB-Form, für die es keine „Geschlechtsmerkmale gibt!) – entsprechend etwa auch „homo ludens“.
    Der/die „Studierende“ stellt also ein verdoppeltes Partizip dar. Der Unsinn, einer vom Verb abgeleiteten Form ein Geschlechtsmerkmal anzudichten, um angeblich „Geschlechtergleichheit“ zu schaffen, wird damit verdoppelt- wo doch schon „Student“ keine rational erkennbare „Diskriminierung“ enthält. – Was für ein kindischer Unfug!

    Aber schlimmer noch: Dieser Unfug beraubt die deutsche Sprache der Unterscheidungsmöglichkeit zwischen einer aktuellen Tätigkeit („studierend“) und einer Funktion („Student“). Im Kontext völlig klar unterscheidbar von den Personenbezeichnungen „Student“ und „Studentin“.
    Kein Text kann ohne den Kontext interpretiert werden, unsinnig also, neue Begriffe „an sich“ ins Sprachsystem einzuführen (oder gar andere ersetzen zu lassen), ohne den jeweiligen Kontext zu prüfen.
    Demnach gibt es also eindeutig zwei homonyme Begriffe „Student“, aber nur ein Wort für „Studentin“, da letztere nur im Kontext „Personenmerkmal“ gebraucht wird, ersteres zusätzlich auch als Funktionsmerkmal. – Ein völlig schlüssiges und im Sinn der Sprachökonomie auch notwendiges System.

    Zu „Homonym“:
    „Klassisch spricht man von Homonymie in lexikalischer Hinsicht. Mitunter spricht man auch von Homonymie in morphematisch-grammatikalischer Hinsicht.“ (Wikipedia).
    „Lexikalische Homonymie“ („die Bank“,“der Tau – das Tau“). ist sicher häufiger. Dieser Fall wäre „morphematisch-grammatischer Homonomie“ zuzuordnen.
    Für die strukturale Linguistik, die sich allein auf das Funktionieren des Sprachsystems bezieht, spielt Etymologie keine Rolle. Demnach ist Ihre Definition von „Homonym“ mit strukturaler Linguistik unvereinbar.

    Weit schlimmer und aberwitziger noch wäre unverstandenes Herumfummeln am Artikelsystem, wie „Professx“ Lann Hornscheidt es propagiert.
    Schon Marc Twain hat in seinem völligen Unverständnis für die deutsche Sprache solchen Unfug im Sinne der Abschaffung der Kasus im Sinne der Anpassung ans Englische gefordert. Ein totales sprachliches Chaos mit entsprechenden Verständnisproblemen wäre die Folge.
    Nach „feministischer“ Ideologie à la „Professx“ wäre es ja logischerweise schon ein („patriarchal“ bedingter) Skandal, dass Genitiv und Dativ Singular sowie Genitiv Plural der Feminina ausgerechnet mit dem angeblich „männlichen“ „der“ bezeichnet werden. Und Männer müssten Krieg führen gegen den – ihre „Männlichkeit“ verletzenden – Pluralartikel „die“.
    Wie viele weitere idiotische Gründe lassen sich wohl finden, um mangelndes eigenes Selbstbewusstsein dadurch zu kompensieren, dass man empört und zugleich sich selbst bejammernd propagiert, immer nur „mit gemeint“ zu sein?
    Wobei das schon wieder durch den Hinweis ad absurdum geführt werden kann, dass das eindeutig häufigste Wort im Deutschen (Relativ- und Demonstrativpronomina eingeschlossen) das – vermeintlich „feminine“ – Wort „die“ ist. (Solche feminine Dominanz in der deutschen Sprache – die mir ziemlich schnuppe ist – sollte für ausreichend weibliches Selbstbewusstsein eigentlich reichen.)

    Mit Sicherheit hat Dr. Tomas Kubelik in der Hinsicht Recht, dass selbst in „feministischer“ Hinsicht das exakte Gegenteil dessen bewirkt wird als man propagiert: Nicht „Gleichberechtigung“, sondern erschreckende Verarmung der Sprache, Sexualisierung aller Lebensbereiche und völlige Verunsicherung wären die Folge. (Er gibt dazu, neben oben genanntem, weitere Beispiele.) – Ein Trump könnte sich freuen über so viel unerwartete Unterstützung!

    (6) Umfragemethode und Sprachkritik (Britta Fricke):

    Ich habe mir einige solcher pseudowissenschaftlichen Umfragen angesehen (auch wenn die verlinkte nicht erreichbar ist).
    Typische Beispiele dafür, wie sehr solcher Art „Sprachwissenschaft“ mit fragwürdigen Methoden schon auf den Hund gekommen ist. Jedes seriöse Meinungsforschungsinstitut würde sich krumm lachen, hat sich doch längst herumgesprochen, dass es die völlig „neutrale“ Fragemethode gar nicht gibt.
    Jeder einigermaßen gebildete Germanist kennt das von Gadamer definierte erkenntnistheoretische Problem des „hermeneutischen Zirkels“, und jeder Physiker weiß, dass es von seinem Versuchsaufbau abhängt, ob als Ergebnis „Wellen“ oder „Teilchen“ als Erklärung für Licht herauskommt.
    Nur bei selbst ernannten „Sprachwissenschaftlern_*/Innen“ (wie soll ich das denn nun schreiben/aussprechen?), die sich anmaßen, die Sprache zu „revolutionieren“, ist das noch nicht angekommen.
    Verwundert es also, dass als Ergebnis exakt das herauskommt, was man vorher als Hypothese bereits hineingesteckt hat, nämlich „männliche Dominanz“? –

    „Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Und nicht umgekehrt, jedenfalls nicht primär!
    Wer Bewusstsein verändern will, muss das SEIN verändern. Wer Respekt vor Frauen stärken will, muss die Grundlagen ihres REALEN SEINS in der Gesellschaft, ihre Rechte, Aufstiegsmöglichkeiten usw. verändern. Das Bewusstsein erfolgt daraus, jedenfalls im Prinzip. Und daraus entsteht auch Selbstbewusstsein:
    Spätestens nach der dritten Bundeskanzlerin wird Frau Fricke (wahrlich keine profilierte Wissenschaftlerin) von den SPD-Mitgliedern (Neutrum Plural und dennoch keine „Sachen“!) eine völlig andere Antwort erhalten.
    Denn so verändert eine veränderte Realität auch die Sprache, die dazu keiner Nachhilfe bedarf.

    Zur Einschränkung:
    Es gibt Rückwirkungen des Bewusstseins auf das Sein, aber nur sehr bedingt. Und es gibt sinnvolle Sprachpflege, die nicht manipulativ ist. Vor allem bei der Integration neuer Worte und moderaten Veränderungsmöglichkeiten.
    Dazu das Beispiel des Zerfalls der Tschechoslowakei, welches das Problem der Benennung der neuen Staaten aufwarf. Im Prinzip gab es zwei Möglichkeiten: mit der Endung -ei (Türkei) oder der Endung -ien (Slovenien).
    Das Problem: Die „Tschechei“ war ideologisch mit teils revanchistischen Forderungen von Vertriebenenverbänden überlagert, die Endung -ei damit problematisch. Vom Neujahrstag an (ich war damals in Skiurlaub) hörte ich im österreichischen Rundfunk: „Tschechien“. Eine Wortbildung, die von niemandem jemals in Frage gezogen wurde: Eine sehr kluge Entscheidung, auch Beispiel für sinnvolle Sprachenpolitik!
    Selbst Unsinn kann die Sprache in gewissem Maß verkraften. Dafür als Beispiel das idiotische, von Anglomanie geprägte Wort „Handy“ – das es nicht einmal im Englischen gibt. Selbst das ist längst integriert, und kein Mensch macht sich mehr Gedanken über die zugrundeliegende Idiotie.

    (7) Etymologie als Hilfsmittel der Ideologie.

    Die einst so stolze Etymologie ist mit der ehemaligen Älteren Abteilung der Germanistik, für die sie konstitutiv war, weitgehend untergegangen. Erklärungen etwa der Bedeutungsverschiebung nach „unten“, so von mhd. „frouve“ (Herrin) zu „Frau“, und von mhd. „wíp“ (Frau) zu „Weib“ haben nur noch für Spezialisten Erkenntniswert. Für den gewöhnlichen Sprecher spielen sie keine Rolle.
    Ich habe dies am Beispiel des Sprichworts „mit Kind und Kegel“ aufgezeigt. Die Behauptung, hier werde ein mittelalterliches Weltbild transportiert, ist unsinnig, weil der gewöhnliche Sprecher die ursprüngliche Bedeutung von „Kegel“ gar nicht mehr kennt. Das Sprichwort ist nur aus Liebe zur Alliteration erhalten geblieben.
    Beispiele sinnvoller Verwendung der Etymologie gibt es noch im Bereich der Sprachkritik, etwa bei Kritik der Werbesprache (in den 80er Jahren), um lächerliche Tendenzen snobistischer Wortbildungen mit abgegriffenen Hyperbeln sichtbar zu machen und für Sprachgefühl zu sensibilisieren: Wem der „Supermarkt“ und auch der „Hypermarkt“ nicht mehr ausreicht, der braucht schon das Wort „galaktisch“. Und er landet dann zielgenau wieder bei „cool“, braucht so mit einem Wort, das alles und nichts aussagt, seinen Denkapparat nicht mehr zu bemühen. Dass Sprachverhunzung und sprachliche wie geistige Verarmung à la Trump sogar noch weiter gehen kann, konnte man damals noch gar nicht einmal wissen.

    Für die gesamte, auf dem Strukturalismus aufgebaute Sprachwissenschaft gilt der Grundsatz: In Analysen von Sprache, sowohl des gegenwärtigen Sprachsystems („langue“) als auch gegenwärtiger Sprechakte („parole“) hat Etymologie nicht das Geringste verloren.
    Wer von den Studenten und Dozenten der 68er, welche das ideologieverdächtige System der „Älteren Abteilung“ beseitigten, hätte sich auch träumen lassen, dass eine ähnliche Ideologie 40 Jahre später, im „feministischen“ Gewand, aber noch viel anmaßender, wieder auftauchen würde: zur „Begründung“ eines pseudorevolutionären Anspruchs, mangels eigener methodischer Fähigkeiten und wissenschaftlicher Klarheit? Der arrogante Unfug, den „Professx“ von sich gibt, spricht Bände.

    Hier also der zweite Hauptfehler der angeblichen „feministischen Linguistik“, die – im Sinne ihrer Ideologie – eine überkommene linguistische Teildisziplin (die Etymologie) wieder zum Leben erweckt. Die so unterschiedliche, miteinander nicht vereinbare sprachwissenschaftliche Methoden ungeniert vermengt: völlig eklektisch, mit fragwürdigen Umfragemethoden (siehe 6) die eigenen methodischen Unfähigkeiten zu verschleiern sucht. Ja, die nicht einmal eine differenzierte Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Ausdrucksformen usw. des patriarchalen Systems erkennen lässt. Und die schon gar nicht in der Lage ist, das eigene Sprachverständnis zu hinterfragen – Voraussetzung jeder seriösen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die, ohne dies auszuweisen, nur noch „patriarchales Denken“ unterstellt, postuliert, normieren will, und so in reaktionäre, die Gesellschaft spaltende Denkformen zurückfällt.
    Von selbst ernannten Missionar*_/Innen der „Sprach-Revolution“, denen es an jeglichem differenzierten Sprachgefühl mangelt, ist sachlich begründete, selbstkritische Haltung eben als letztes zu erwarten.

    8) Seriöse Formen der Untersuchung von Lexik: Semantik und Psycholinguistik:

    Es gibt prinzipiell diese beiden Herangehensweisen.
    Die Semantik versucht, im Aufbau eines unglaublich großen Korpus, Kontexte berücksichtigend (insofern von Syntaktik nicht unabhängig), „Wortfelder“ mit ihren internen Beziehungen aufzubauen und daraus Bedeutungen von Einzelwörtern zu erschließen. Ein ungeheuer aufwändiges Unterfangen.
    Ich erinnere mich, gerade in Zusammenarbeit mit Prof. Eisenberg, an einige kuriose Situationen. So etwa stundenlange Diskussionen über einen trivialen Satz der Art: „Mach doch mal das Fenster auf!“, um die Bedeutung der Füllwörter „doch“ und „mal“ zu erschließen.

    Vielversprechender erscheint mir der psycholinguistische Ansatz.
    Hier hatte die sowjetische Linguistik, begründet durch die Herausforderung von ca. 200 Sprachen in einem riesigen Land, lange Zeit einen großen Vorsprung vor der „westlichen“ Psycholinguistik. Dies vor allem aufgrund von Wygotski („Denken und Sprechen“, 1934 in Moskau erschienen, 1956 erstmals in Berlin/DDR), der seinerseits auf westlichen psychologischen Forschungen, insbesondere Piaget, aufbaute.
    Eine Erkenntnis, die mir, umgeben von (damals: antikommunistischen) Dogmatikern in Schulverwaltungen, die über Wohl und Wehe von Lehramtsanwärtern zu entscheiden hatten, fast meinen Beruf und meine gesamte Laufbahn gekostet hätte.

    Grundlegende Erkenntnis, dass Sprache, ob beim Kind oder beim Erwachsenen, prinzipiell im Handlungszusammenhang, in Auseinandersetzung mit der den Menschen umgebenden Umwelt erworben wird. Was z.B. dazu führt, dass Eskimos 16 Begriffe für „Schnee“ brauchen, wir uns schon mit 3 oder 4 Wörtern begnügen können. Und dass umgekehrt sprachliche Begriffe das Wahrnehmungsvermögen beeinflussen, so dass etwa Farben, für die ein Wort existiert, schärfer wahrgenommen werden als andere.
    Auch hier haben Etymologie und daraus abgeleitete Behauptungen überhaupt nichts zu suchen. Das Kind vollzieht zwar in kürzester Zeit eine etwa 1000jährige Sprachgeschichte nach, aber als reine STRUKTUR, die der Bewältigung der Umwelt dient, die es umgibt, ohne die ursprünglich vielleicht vorhandenen Bedeutungen. Dies führt schon sehr früh zur Herausbildung abstrakter Begrifflichkeit, etwa für Größe, Formen, Farben, die vom jeweiligen Objekt abstrahiert werden. Auf höherer Ebene führt dies zur Entwicklung von Problemlösungsstrategien (A.A. Leon’ev: „Sprache – Sprechen – Sprechtätigkeit“), fundamental für die geistige Entwicklung. Erkenntnisse, in vielfachen konkreten Untersuchungen und Experimenten abgesichert.

    Dem entgegen laufende Behauptungen von angeblich „per se“ durch Sprache als System vermitteltem „patriarchalen Denken“ sind – vor allem in ihrer Pauschalität – reine Einbildung, mithin auf die Sprache aufgeklatschte Ideologie. Gefährlich dazu, weil ein unzureichend differenziertes oder mit unsinnigen Unterscheidungen belastetes Sprachsystem in erheblichem Maße Wahrnehmungsvermögen, Differenzierungsvermögen, Sprach- und Denkvermögen sowie Problemlösungsverhalten erheblich negativ beeinflussen würde.
    An Erscheinungen aktueller Formen der Dekadenz, an einem Donald Trump etwa, geradezu exemplarisch zu „bewundern“. Leider auch als Tendenz aktueller Sprach“pädagogik“ oder an manchen Jugendlichen, insbesondere im rechtsextremen Dunstkreis. Kommentare auf Twitter oder Online-Foren sprechen da oft Bände.

    9) Gesamteinschätzung:
    „Feministische Linguistik“ ist schon vom Ansatz her ein Nonsens.
    Zunächst, da der Wortschatz, bei dem die Geschlechterfrage überhaupt eine Rolle spielt, außerordentlich begrenzt ist, wobei im situativen Kontext in jeglicher Hinsicht Klarheit geschaffen werden kann. D.h., dass es einer zusätzlichen Einführung grammatischer Geschlechterunterscheidungen gar nicht bedarf.
    Sinnvolle Sprachpflege, Bewusstseinsschärfung, etwa beim vielfach diskutierten „Zigeunerschnitzel“, findet ausschließlich im öffentlichen Diskurs, immer im konkreten Kontext, nie auf allgemein sprachlicher oder gar grammatischer Ebene statt.
    Ächtung bestimmter Begrifflichkeit, etwa des „Gutmenschen“, „rassistisch“ anmutender Begriffe oder vieler Ausdrücke im sexuellen Bereich, ist zwar prinzipiell möglich, aber nicht generell empfehlenswert. Das Denken, das der Sprecher damit verbindet, ist so ja nicht verschwunden. Es wird nur nicht mehr erkennbar. Schlüssig zu bekämpfen ist es aber erst, wenn der Sprecher sich in seinem Sprachgebrauch selbst charakterisiert, somit seine fragwürdige Haltung dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich und damit korrigierbar macht.

    Eingriffe „von oben“, von selbsternannten sprachlichen „Eliten“, in das Sprachsystem sind nicht nur höchst problematisch, sondern gefährlich. Sie spalten die Gesellschaft.
    Dies umso mehr, als (wie aufgezeigt) gerade diese „Eliten“ oft auf erschreckende Weise elementares Sprachgefühl vermissen lassen. Die ein autoritäres Selbst- und Weltverständnis offenbaren, das sie gerade zu bekämpfen vorgeben. Die zugleich Unverständnis sowohl für den Charakter als auch die fundamentalen zivilisatorischen Leistungen von „Sprache“ – etwa im Sinne von Wilhelm von Humboldts „Weltbild der Sprache“ – erkennen lassen.
    Die in autoritärer Weise über die fundamentale Erkenntnis hinweg gehen, dass Sprache Teil des Menschen ist, der ihm erst den Zugang zur Welt und zu sich selbst eröffnet. Und welche die Enteignung des Menschen von einem seiner höchsten Güter betreiben – nicht viel anders als die kapitalistische Gesellschaft seine Enteignung vom Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen.
    Empörung gegen solche Art Enteignung und gezielt betriebene „Entfremdung“ ist nicht nur verständlich und berechtigt, sie ist notwendig.
    Fatal freilich, wenn diese gerade von gesellschaftlichen Kräften missbraucht und für sich reklamiert werden kann, welche in eine dumpfe Vergangenheit zurückführen wollen. Auch dies ein Symptom für gesellschaftliche Dekadenz, die sich gerade und zuvörderst an einem erschreckenden sprachlichen Unvermögen erkennen lässt.

    10) Um mit einem persönlichen Bekenntnis zu enden:

    Anlässlich der Überprüfung eingereichter Abiturthemen begann ein als sehr streng gefürchteter Inspektor einmal seine Kritik mit der Anerkennung: „Andere lesen Bierdeckel. Sie wagen es, den ‚Faust‘ zu lesen.“
    Ja, das habe ich. Und ich habe meinen Schülern (ohne Geschlechtsbezeichnung!) den Originaltext zugemutet – ungefiltert durch „kluge“ Kommentare oder „pädagogische“ Erklärungen: im unmittelbaren Zugriff auf den Text, um eine persönliche, jeden einzelnen selbst erfassende Auseinandersetzung mit einem ungeheuer reichen, weltoffenen Kulturschatz zu ermöglichen, der nicht nach Herkunft, Nationalität, Geschlecht, Religion usw. unterscheidet. Eine Auseinandersetzung, welche Werthaltungen vermittelt und den Geist öffnet.
    Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei auch der Respekt vor solchen historischen Leistungen. Auch eine tiefe Scham angesichts greifbarer geistiger Dekadenz, hinter blendenden „Fortschritten“ versteckt, welche den Zugang zu solchem Reichtum ungeheuer erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Auch der Wille, diesen Weg angesichts dessen für sich selbst und für andere nicht völlig verschütten zu lassen.
    Ich kann nur hoffen, dass dieser schmale, oft dornenreiche Weg, der auch und vor allem über differenziertes Sprachvermögen führt, vor dem Schicksal eines Dornröschenschlosses bewahrt bleibt. Dass dieser schmale Weg sich für zukünftige Generationen zu einer breiten Straße ausweiten möge.

    Ich wünsche allen ein gutes, gesundes, und vor allem friedliches Neues Jahr.

  25. @ Gerhard Sturm, 27. Dezember 2018 um 18:48

    Danke für die interessante Wortmeldung.
    Sie stehen mit Ihren Reflexionen erkennbar nicht allein. Selbst die taz (die ich inhaltlich sehr schätze) ist erklärtermaßen dabei, ihre bisher gepflegte Binnen-I-Marotte aufzugeben. Und es ist deutlich erkennbar, dass die Halbwertszeiten der darauf folgenden „revolutionären“ Versuche grundlegender Sprachumgestaltung noch erheblich kürzer sein werden.
    Fragt sich nur, wie viel Porzellan bis dahin noch zerschlagen wird, wie viele Millionen für schwachsinnige „Projekte“ noch verpulvert werden, wie viele sinnvolle Projekte statt dessen auf Eis gelegt werden müssen, wie tief die Spaltung der Gesellschaft noch gehen wird.

    Insbesondere der letzte Aspekt sei Ihrem wichtigen Hinweis auf Ablenkung „von den echten Problemen der Geschlechterfragen“ hinzugefügt.
    Wie begierig gerade in rechtsradikalen Kreisen eine Reaktivierung der Geschlechterkampf-Debatte aufgegriffen wird, zeigt ein einfacher Blick in diverse Online-Foren. Etwa der Eintrag eines Users, der bereits ganz klar seine rechtsradikale Gesinnung dokumentiert hat:
    „Reine Ideologie führt zu nichts. Und mit dem Zigeunerbraten, Mohrenköpfe oder sonstiges zeigt sich doch schon unser gesellschaftliches Problem mit dem wir es zu tun haben.“ (http://www.fr.de/politik/brasilien-bolsonaro-will-eine-zeitenwende-a-1643775#comments, Josef Feiler)
    Verständlich: Welche Gelegenheit für Zeitgenossen, die vorwiegend von Feindbildern leben, vermeintliche „Seriosität“ vorzugaukeln!

    Im Folgenden einige Beispiele für die erschreckende Unbedarftheit von Menschen, welche das Attribut „wissenschaftlich“ für sich in Anspruch nehmen: aus einem Interview mit „Professx“ Lann Hornscheidt. (Die folgenden Zitate sind hieraus entnommen):
    http://www.taz.de/!5042233/
    – So scheut sich „Professx“ nicht, Widersprüche im rechtsradikalen Stil zu kontern, spricht von „Leuten, die die sozialen Veränderungen nicht haben wollen“ (ihren Sprachmurks mit wirklichen „sozialen Veränderungen“ gleichsetzend).
    – Deren Niveau sei das der „Bild-Zeitung“, was sie nicht daran hindert, auf eben diesem „Niveau“ fortzufahren.
    – „Meiner Meinung nach stellt Sprache Wirklichkeit her“ (ein Marx würde sich im Grabe herumdrehen).
    – In eben diese Wirklichkeit wird die eigene Wahrnehmung hineinprojiziert, indem von „sexistischen Machtverhältnissen“ gesprochen wird, ein Begriff, der überhaupt nur in Bezug auf Bewusstsein, menschliche Einstellungen einen Sinn hat. (Ebenso Caroline Bird: „…dass wir in vielerlei Hinsicht ein sexistisches Land sind“, Wikipedia, Sexismus).
    Gesellschaft wird also per se mit menschlichen Attributen versehen, im Sinn der griechischen Mythologie geradezu mythisiert.
    – Sprache wird pseudo-klassenkämpferischen Zielen untergeordnet: „Wenn Angela Merkel morgen die x-Form in ihrer Regierungserklärung verwendet, dann ist sicher etwas falsch gelaufen.“
    – Ziel sei dem entsprechend „Aufbrechen von klassisch zweigeschlechtlichen Formen“ (War da nicht gerade die Behauptung, dass es „mehr als Frauen und Männer gibt“?
    – Ein Sprachsystem sei nicht Instrument der Erfassung und Bewältigung von Wirklichkeit, vielmehr seien Menschen „einem Sprachsystem ausgesetzt“. Es diene vorrangig dazu, „als Frau oder Mann wahrgenommen zu werden“, zu erfahren: „Mich gibt’s!“

    Kurz zusammengefasst:
    Die deutsche Sprache, als umfassendes Welterkennungssystem, die „rund 132 Millionen Sprecher“, („76 Millionen Erst- und 56 Millionen Zweitsprachler“, Wikipedia) umfasst, degeneriert zum therapeutischen Programm für komplexbeladene Menschen.
    Da begebe ich mich in einem solchen Fall doch lieber in die Hand eines professionellen Therapeuten (oder einer Therapeutin)!

  26. @ Werner Engelmann

    Dass es in jeder Wissenschaft unterschiedliche Positionen gibt, wissen Sie so gut wie ich. Deshalb sehe ich keinen Sinn darin, mich weiter darüber auseinanderzusetzen, welcher Professor auf den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Teilgebieten, die wir hier ja nur streifen können, der kompetentere ist.

    „Ein seriöser Wissenschaftler wird sich ebenso wenig apodiktisch über sein Spezialgebiet hinaus äußern wie etwa ein Zahnmediziner eine Herzoperation vornehmen wird.“

    Abgesehen davon, dass ich mir dennoch wünschen würde, dass der Kardiologe, der mich am Herzen operiert, auch über meinen gesamten Stoffwechsel Bescheid weiß und sogar über mögliche Einflüsse des Eingriffs auf meine Psyche, frage ich mich, wer außer Ihnen, Herr Engelmann, sowie den Germanisten Eisenberg und Kubelik sich hier apodiktisch geäußert hat. Professor Stefanowitsch gibt Empfehlungen für eine mögliche Ausdrucksweise, welche eine größere Sichtbarkeit weiblicher Personen in der sprachlichen Praxis gewährleistet, er ruft zu Höflichkeit und Respekt auf. Ich selbst habe bisher Denkansätze geliefert und gewisse überkommene angebliche Wahrheiten hinterfragt.
    Sie dagegen glauben offenbar, beurteilen zu können, welche Positionen in diesem Diskurs die richtige und was „kindischer Unsinn“ sei, welche Untersuchungen – von denen Sie nur eine begrenzte Anzahl kennen – wissenschaftlich seriös arbeiten und welche Sie in Bausch und Bogen als „auf den Hund gekommen“ abqualifizieren dürfen.

    Bereits mehrmals habe ich betont, dass ich nicht zu denjenigen gehöre, die sich die Durchsetzung einer feministischen Linguistik auf die Fahnen geschrieben haben. Von Kunstwörtern in Stile von Professx halte ich nichts. Das X geht nach meiner Information auf eine Entwicklung im spanischen Sprachraum zurück, bei der statt der Nennung beider Geschlechter (z.B. los muchachas y las muchachas) verkürzt nur „lxs muchachxs“ geschrieben wird. Solche Entwicklungen in einer Sprache sind nicht auf andere Sprachen zu übertragen. Außerdem eignen sich solche Formen nicht für das gesprochene Wort.

    Eine generelle Klassifizierung des Artikels „der“ als männlich und „die“ als weiblich, bei der die unterschiedliche Verwendung dieser Artikel in den verschiedenen grammatischen Fällen außer Acht gelassen wird, ist natürlich ebenfalls inakzeptabel.

    Auch das Vorgehen der Universität Leipzig, wo der Spieß umgedreht und statt des „generischen Maskulinums“ jetzt nur noch das Femininum verwendet wird, halte ich nicht für hilfreich, denn damit hat man den Mangel an Klarheit, den der Gebrauch des Maskulinums für gemischtgeschlechtliche Personengruppen im Plural häufig mit sich bringt, nicht aus der Welt geschafft.
    Meiner Ansicht nach ist es aber durchaus möglich, ohne Kunstwörter oder eine „Verhunzung“ der Sprache mit den natürlich gewachsenen sprachlichen Mitteln eine größere Genderneutralität bzw. Sichtbarkeit weiblicher Personen herzustellen. Und das führt eben gerade nicht zu einer Verarmung der Sprache, sondern erfordert ein verfeinertes Sprachgefühl und einen großen Wortschatz, um etwa Formulierungen zu finden, die das unpräzise verallgemeinernde Maskulinum umgehen. Wer ein solches Ringen um einen angemessenen sprachlichen Ausdruck mit dem restringierten Code eines Donald Trump auf eine Stufe stellt, hat sich entweder nicht intensiv genug mit der Materie befasst oder will die Vertreter der gegnerischen Position mit üblen Vergleichen, vor allem mit dem Vorwurf, rückwärtsgewandte rechte Positionen zu vertreten oder diesen Vorschub zu leisten, beleidigen und mundtot machen.

    Der immer wieder gern herangezogene Vergleich des „generischen Maskulinums“ mit verallgemeinernden Bezeichnungen im grammatischen Femininum wie „die Geisel“ oder „die Waise“ hinkt ganz gewaltig. Bei diesen Wörtern ist es klar, dass die Gesamtgruppe unabhängig vom Geschlecht ihrer Mitglieder gemeint ist, denn es existiert gar keine männliche Form, etwa so etwas wie „Geislerich“. Bei den Wörtern, die für das generische Maskulinum verwendet werden, hat die Sprache jedoch eine weibliche Form hervorgebracht, nämlich mithilfe der Endung „-in“, weil die Sprachgemeinschaft dies zur besseren Unterscheidbarkeit offenbar für notwendig hielt. Warum sollte man sie dann nicht auch nutzen, soweit dies nicht zu übertriebenen Verbiegungen führt? Nur weil man zu faul ist, dem „die Schüler“ noch ein „und Schülerinnen“ anzufügen?

    Zum so vehement bekämpften Begriff „Studierende“:
    Hier muss ich feststellen, dass Sie, Herr Engelmann, sich in Ihrer Argumentation selbst widersprechen.
    Erst erklären Sie höchst akribisch die Entstehung des Wortes „Student“ aus dem Partizip Präsens des lateinischen Verbs und begründen damit den nach Ihrer Meinung angebrachten (bzw. als“ kindischer Unfug“ abzulehnenden) Umgang mit diesem Wort in der modernen Sprache. Weiter unten weisen Sie dann aber im Zusammenhang mit den von mir angeführten Beispielen aus der Etymologie darauf hin, dass diese Disziplin als Hilfsmittel von Ideologie verwendet werde und behaupten: „In Analyse von Sprache, sowohl des gegenwärtigen Sprachsystems („langue“) als auch gegenwärtiger Sprechakte („parole“) hat Etymologie nicht das Geringste verloren.“ Und das, nachdem Sie selbst genau das getan haben, was sie doch so vehement verurteilen: Sie haben nämlich – im Interesse welcher Ideologie auch immer – „so unterschiedliche, miteinander nicht vereinbare sprachwissenschaftliche Methoden“ ungeniert vermengt.

    Wenn ich mit Ihnen (genauer mit Ihren späteren Einlassungen zum Thema Etymologie) davon ausgehe, dass die Herkunft des Wortes „Student“ für uns heutige Sprachnutzer und -nutzerinnen irrelevant sei, so nehme ich diesen Begriff als Nomen im Maskulinum wahr, dessen Plural „Studenten“ lautet. Die Crux mit diesem Plural ist aber, dass er als Sammelbegriff männlicher und weiblicher Personen, aber auch als Mehrzahl der rein maskulinen Form verstanden werden kann. Wenn es tatsächlich um Sprachpräzision ginge, müssten der Genauigkeit halber für die Gruppe also beide Geschlechter genannt werden, und es existiert ja bereits die weibliche Form des Nomens, nämlich „Studentin“. Oder war die Entstehung der weiblichen Form des ursprünglichen lateinischen Verbs (die ja nach Ihrer Vorstellung gar nicht existieren dürfte) auch „kindischer Unfug“?
    Wenn Sie es ablehnen, hier die weibliche Form „Studentin“ zusätzlich zur männlichen Form einzusetzen, geben Sie der Sprachökonomie gegenüber der Präzision den Vorzug. Beim Gebrauch des Partizips „Studierende“ dagegen, das dem Wunsch nach Sprachökonomie entgegenkommt, beklagen Sie den Mangel an Präzision. Obwohl es in der herkömmlichen Sprache, fernab von feministischer Beeinflussung, ebenfalls Partizipien gibt, die nicht unterscheiden zwischen der Funktion und der aktuellen Tätigkeit. Gerade vor einigen Tagen las ich im Zusammenhang mit Demonstrationen in Bosnien die Formulierung „die Regierenden in Banja Luka“. Sind die gerade im Begriff, ihre Regierungstätigkeit auszuüben, oder handelt es sich einfach nur um die Mitglieder der Regierung?

    „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“.
    Das ist eine Behauptung, die ich so einseitig nicht stehen lassen möchte. Und dabei ist es mir total gleichgültig, ob sich deswegen Karl Marx oder der Kaiser von China im Grab herumdreht. Sie selbst schränken dieses Postulat des dialektischen Materialismus ja ein, indem Sie einräumen: „Es gibt Rückwirkungen des Bewusstseins auf das Sein, aber nur bedingt.“

    Im Zusammenhang mit der Doppelbedeutung des lateinischen „homo“ und seiner Folgeformen in den romanischen Sprachen sowie den Vorstellungen, die dazu in der jüdisch-christlichen Kultur seit Jahrtausenden überliefert werden, geht mir seit Tagen der Schöpfungsmythos der Genesis, Mose 2,21-23, nicht aus dem Kopf.
    Ich zitiere aus der Lutherbibel, Ausgabe von 1985:
    „Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch.
    Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.
    Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.“
    Das Wort „Männin“ ist eine Prägung von Luther, der damit versucht, ein Wortspiel aus dem Hebräischen umzusetzen, das ich leider in Ermangelung von Sprachkenntnissen nicht nachvollziehen kann. Die lateinische Bibel übernimmt für den Menschen den Begriff hebräischen „Adam“ (Erdling) und spricht von „vir“ (Mann) und „virgona“, einem Wort, das hier offenbar für Frau steht und später mit negativer Konnotation (Mannweib) weiter existierte.
    Hier wird genau das bestätigt, was ich im Zusammenhang mit der Doppelbedeutung von „homme“ angesprochen habe: das Alte Testament geht vom Mann als dem ursprünglichen Menschen aus, während die Frau erst als sekundäres, quasi „Unterprodukt“ dieses männlichen Menschen angesehen wird.
    Daraus leite ich meine Überzeugung ab, dass dieses Weltbild eine Auswirkung auf die in dieser Kultur entwickelten Sprachen hatte. Und zweitens kann man sich leicht vorstellen, dass diese über Jahrtausende übermittelte frauendiskriminierende Ideologie ein Gutteil dazu beigetragen hat, das Bewusstsein der Gläubigen zu prägen, und die Frauen unter Androhung von Höllenstrafen dazu verdammt hat, sich der angeblich von Gott zugewiesenen dem Mann nachgestellte Rolle zu unterwerfen. Also hat hier das Bewusstsein mit Sicherheit auch das Sein beeinflusst.

    Was den Spracherwerb beim Kind anbetrifft, so mag er so vonstattengehen, wie es nach Ihrer Darstellung die Psycholinguistik behauptet. Was aber nicht bedeutet, dass es Sprechern und Sprecherinnen in einem Alter, in dem sie die Sprechgewohnheiten in ihrer eigenen Kultur reflektieren, nicht auffallen könnte, dass die Art, wie sprachlich mit einem Teil der Sprachgruppe umgegangen wird, diskriminierend und verletzend sein könnte. Wenn alle Sprecherinnen und Sprecher ihre Sprache als akzeptables Verständigungsmittel hingenommen hätten, hätte sich ja seit den 1980er Jahren nicht das entwickelt und verbreitet, was man heute mit „feministischer Linguistik“ bezeichnet.
    Und, ich muss es ganz ehrlich sagen, jemandem, der als Mann weder die realen Lebensbedingungen von Frauen am eigenen Leib erfahren noch den damit verbundenen sprachlichen Umgang erlebt hat, steht es meiner Ansicht nach nicht zu, sich über mangelndes Selbstbewusstsein bei Frauen und angebliches Selbstbejammmern zu erheben. Genau die abschätzige Art und Weise, mit der selbsternannte Sprachretter eine größere Wertschätzung von Frauen in sprachlichen Äußerungen bekämpfen, trägt mit zur heute noch andauernden Zerstörung von weiblichem Selbstbewusstsein und zur Spaltung zwischen den Geschlechtern bei.
    Da wird ein verletzender Ton angeschlagen, die Vertreterinnen und Vertreter der Gegenposition werden der Verachtung und der Lächerlichkeit preisgegeben oder sogar pathologisiert, dem altbewährten hobbypsychologischen Ansatz folgend, dass Frauen, die eigene Positionen vertreten, nicht richtig im Kopf oder hysterisch sein müssen. Bei aller Berechtigung für jeden und jede, sich prononcierten von anderen Meinungen abzugrenzen – einen solchen Stil der Auseinandersetzung lehne ich ab:
    „Die deutsche Sprache als umfassendes Welterkennungssystem […] degeneriert zum therapeutischen Programm für komplexbeladene Menschen. Da begebe ich mich in einem solchen Fall doch lieber in die Hand eines professionellen Therapeuten (oder einer Therapeutin)!“ Werner Engelmann, 28. Dezember, 18:50
    Das gehört in die unterste Schublade der Rhetorik.

    Zur Behandlung des Dramas „Faust“ im Unterricht.
    Ich wüsste nicht, was daran so außergewöhnlich sein sollte, dieses Werk mit 18-19jährigen Schülerinnen und Schülern zu besprechen. In Hessen gehört es seit der Einführung des Zentralabiturs vor 16 Jahren zur Pflichtlektüre, war aber auch vorher schon eines der beliebtesten im Unterricht gelesenen Werken.
    Es mag sinnvoll sein, die Schülerinnen und Schüler zuerst mit einer unkommentierten Fassung des Dramas zu konfrontieren. Um sie jedoch zu einem umfassenderen Textverständnis zu führen, sind zusätzliche Erklärungen zum historischen Hintergrund und zur Sprache unerlässlich. Wie sollten Heranwachsende des 21. Jahrhunderts „aus dem hohlen Bauch heraus“ eine derart komplizierte innere und äußere Handlung verstehen, die in gesellschaftliche Zusammenhänge des Mittelalters eingebettet und in der Sprache von vor 200 Jahren verfasst ist?

    @ all

    Das Fazit, das ich persönlich aus der Diskussion in diesem Thread ziehe:
    Im Gegensatz zu den Leserbriefschreibern und den Kommentatorinnen und Kommentatoren, die sich fast unisono vom „Unfug“ einer beide Geschlechter gleichermaßen wertschätzenden Sprache lossagen, hat mein Reflexionsprozess zu einem anderen Ergebnis geführt. Gerade das Erschrecken über die unsachliche Argumentationsweise und die unverhohlene Verachtung, die nicht nur den Vertreterinnen und Vertretern feministischer Extrempositionen aus Kreisen der wie auch immer motivierten „Sprachbewahrer“ entgegenschlagen, sondern auch die moderaten Befürworter/innen einer achtsameren Sprache treffen, haben mich dazu gebracht, von meinem bisher geübten leicht ironischen Umgang mit der Materie Abstand zu nehmen. Ich werde mich in Zukunft um eine reflektiertere und sensiblere Sprache bemühen, die die Belange beider Geschlechter sowie derer, die sich keinem von beiden zugehörig fühlen, besser berücksichtigt. Einfach weil es die menschliche Rücksichtnahme und Achtung gebietet.

    Ein gutes neues Jahr!

  27. @ Brigitte Ernst

    Ein neues Fass zum Jahresanfang mache ich hier nicht mehr auf (jedenfalls habe ich’s nicht vor). Aber eines will ich denn doch noch sagen:

    Das ist mir zum Thema „Anreden“ jetzt doch ein bisschen zuviel aufgetragen.
    Bei allem Respekt vor zwei oder drei Geschlechtern, mit denen wir sprachlich möglichst souverän umgehen sollten, kann man mit Ihren obigen (mitunter von Ressentiments behafteten) Thesen auch den letzten wohlwollenden Diskutanten erschlagen. Ich glaube Ihren letzten Absatz zu verstehen, das heißt, die große Distanz, die Sie zu den „zu den Leserbriefschreibern und den Kommentatorinnen und kommentatoren“ einnehmen.
    Ihre Schlussfolgerungen verstehe ich weniger.
    Wenn ich mir in einem wirklich! freundlichen Ton die Bemerkung erlauben darf: Es kann sein, aber ich habe bei „meinem bisher geübten leicht ironischen Umgang mit der Materie“ dies selten erkennen können. Sorry!
    Vielleicht war die Aussage oben von Werner Engelmann, dass die deutsche Sprache „degeneriert zum Therapieprogramm für komplexbeladene Personen“, bisschen dick aufgetragen. Aber eine Überzeugung bringt mich in die Nähe dieser Aussage: Man sollte die Sprache auch („organisch“) wachsen lassen und nicht trendgetrieben und umtriebsam meinen dauernd eingreifen zu müssen, nur weil wieder ein neues schlechtes Gewissen die Hand erhebt. Das Beispiel und die Auswirkungen der Rechtschreibereform von vor 15 – oder waren es 20 Jahren? – waren schon katastrophal genug.
    Bonne année!

  28. @ Jürgen Malyssek

    „Das ist mir zum Thema „Anreden“ jetzt doch ein bisschen zuviel aufgetragen.“

    Recht haben Sie. Hier wurde tatsächlich zu dick aufgetrage, und zwar von Herrn Engelmann, der in einer flammenden Philippika, unterfüttert von herabwürigender Rhetorik, wenn nicht den Weltuntergang, so doch den Untergang der deutschen Sprache in glühenden Farben an die Wand malte. Und das wegen einer Pluralform, die man genauso gut durch einen Zusatz (-innen) ergänzen oder durch einen Alternativausdruck ersetzen kann. Für mehr habe ich mich gar nicht ausgesprochen.

    Meine Distanz zu den Leserbriefschreibern und den Kommentatoren und Kommentatorinnen ist gar nicht so groß. In Bezug auf Übertreibungen und Entgleisungen (Professx) teile ich ihre Meinung.

    Und ja, meinen bisher geübten leicht ironischen Umgang mit der „feministischen“ Sprache konnten Sie nicht wahrnehmen, weil sie in diesem Blog zum ersten Mal (seit ich dabei bin) zum Thema gemacht wurde. Aber ich will Sie aufklären:
    An der Schule, an der ich bis 2012 unterrichtete, war es üblich und von der schulleiterin gewollt, dass immer in der Doppelform gesprochen wurde. Das ging mir manchmal auf die Nerven, und wenn sie dann anhob: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler“, konnte ich mir ein vor mich hingemurmeltes „liebe Elterinnen und Eltern“ nicht verkneifen. Und die FR-Kolumne von vor einigen Monaten, in der Katja Thorwarth für eine genderbewusstere Sprache warb, rief bei mir auch eher Abwehr und Spott hervor. Aus den in meinem gestrigen Beitrag erläuterten Gründen habe ich meine Einstellung da geändert.

    „Man sollte die Sprache auch („organisch“) wachsen lassen und nicht trendgetrieben und umtriebsam meinen dauernd eingreifen zu müssen, nur weil wieder ein neues schlechtes Gewissen die Hand erhebt.“
    Heißt das, Sie plädieren für den weiteren Gebrauch des Wortes „Neger“, weil Schwarze noch zu Martin Luther Kings Zeiten so genannt wurden?

    Dass die Auswirkungen der Rechtschrfeibreform katastrophal gewesen seien, habe ich nicht feststellen können. Die Neuregelung zum „ß“ und „ss“, gegen die sich Herrn Engelmanns Freund Eisenberg so heftog weht(e), halte ich für sehr gelungen, da sie logisch hergeleitet werden kann: „ß“ nach lang gesprochenem Vokal (Fuß) und mehreren Vokalen (heiß), „ss“ nach kurz gesprochenem Vokal (Fluss). Von Schülerinnen und Schülern sehr leicht zu verstehen und umzusetzen.
    Von der Groß- und Kleinschreibung hätte ich mir mehr Konsequenz gewünscht, hier gibt es nach wie vor zu viele Ausnahmen bei der Substantivierung. Und die heiß diskutierten Fremdwörter darf man nach der neuesten Regelung weter so schreiben wier früher. Wo ist also das Problem?
    Im Übrigen nehmen sich einige konservative Schriftsteller das Recht, weiter so zu schreiben wie vor 30 Jahren, und niemamd reißt ihnen den Kopf ab. Auch Sie dürfen es so halten, wenn Sie wollen.
    Der grundsätzliche Verzicht auf Rechtschreibreformen führt zu einer Orthografie wie im Englischen, wo die Wörter nach jahrhundertelangen Lautveränderungen heute noch so geschrieben werden, wie sie im Mittelalter gesprochen wurden. Das ist wohl auch keine sinnvolle Lösung.

  29. @ Brigitte Ernst
    Als Beleg für eine „ideologische“ (im Sinne von frauenunterordnende) Sprache verweisen Sie auf Genesis 2,21-23, in der Übersetzung von Luther. Dazu schreiben Sie: „Das Alte Testament geht vom Mann als dem ursprünglichen Menschen aus, während die Frau erst als sekundäres, quasi ‚Unterprodukt‘ dieses männlichen Menschen angesehen wird.“
    Der biblische Text stützt im hebräischen Original Ihre Schlussfolgerung nicht ganz, denn in Bereschit (Genesis) 1,27 heißt es (in Übersetzung von Moses Mendelssohn): „Da erschuf Gott den Menschen [hebräisch „adam“, Anm. JaM] in seinem Ebenbilde, in dem Ebenbilde Gottes erschuf er ihn, männlich und weiblich [hebräisch „zakar unekawa“, Anmerkung JaM] schuf er sie.“ Dies ist alles andere als eine Gleichsetzung zwischen Mensch und Mann. Auch die von Ihnen zitierten Verse 2,22-23 sind nicht so eindeutig, wie es Luthers Übersetzung suggeriert. So übersetzt z.B. Naftali Hertz Tur-Sinai: „Und der Ewige, Gott, baute die Rippe, die er von dem Menschen [hebräisch „adam“, Anm. JaM] genommen, zu einem Weibe [hebräisch „ischa“, Anm. JaM] und brachte es zu dem Menschen. Da sprach der Mensch: ‚Diesmal ist das Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; die soll Ischa (Weib) heißen, denn vom Isch (Mann) ward die genommen.‘“ Luthers Wortschöpfung „Männin“ hat nämlich keine hebräische Entsprechung; im Vers 2.22 wie im Vers 2,23 wird das gleiche Wort „ischa“ (Frau oder Weib) verwendet. Erst durch die Abtrennung der Frau (ischa) wird der ursprünglich männlichen und weibliche Mensch (adam) zum männlichen Wesen (isch). Und es ist nicht der Ewige, sondern der männlich gewordene Mensch, der die Frau „als sekundäres, quasi ‚Unterprodukt‘“ bezeichnet. Eine Sicht, die sich nicht erst mit Luthers „Männin“ die christliche Kirche zu Eigen gemacht hatte, und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit geprägt hat. Hingegen beruft sich „moderne“ jüdische und christliche Theologie darauf, dass jeder Mensch ein „Ebenbild Gottes“ ist, um die Gleichwertigkeit aller Menschen auch in der realen Gesellschaft zu verteidigen.
    Die Rezeptionsgeschichte dieses Textes ist daher doch ein guter Beleg für Ihre These, dass die Sprache die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit beeinflusst.
    Mich bestärken Ihre Ausführungen darin, eine inklusive, wertschätzende Sprache zu suchen. Ich bin überzeugt, dass dies auch ohne Verrenkungen wie Proffex, „Binnen-I“ oder Gender-Sternchen möglich ist.

  30. @ Brigitte Ernst

    Gut, es lichtet sich. So sollten wir uns soweit einig sein, dass man auch alles übertreiben kann und der Sprache und den Menschen keinen Gefallen tut, sie, bis ins Unaussprechliche, mit Formen, Xen oder Sternschen zuzuschütten, bis der letzte Gutmütige die Lust an ihr verliert.
    War nicht einfach mit der Ironie, aber angekommen.
    Wenn ich von einem Wachsen-lassen der Sprache spreche, dann meine ich das immer noch. Und mit dem Ende des Gebrauchs des Wortes „Neger“ bin ich auch einverstanden. Es war nur diese fast fanatische Art der Empörungswelle, die mich abgestoßen hat, bis hin, dass man Autoren in ihren Text dringt (Beispiel Otfried Preußler, ich glaube bei Räuber Hotzenplotz) und dann diese unsägliche Debatte bei der Mohren-Apotheke und dem Namen Mohr, was lächerlich wurde usw. usw.
    Was die Rechtschreibereform betrifft, geht es mir schon anders als Ihnen. Mag sein, dass es mit Ihrem aktiven Schuldienst zu tun hat, dass Sie da reingewachsen sind.
    Ich weiß aber noch, dass von der Kultusministerkonferenz damals (auch eine Frau Ahnen aus Rheinland-Pfalz) das Argument für die „Reform“ lautete, man wolle den Schülern die Sprache leichter machen, damit sie nicht so viele Rechtschreibefehler mehr fabrizieren. Lachhaft! Vor allem war dann die Situation, dass man so und so viele Wahlmöglichkeiten hatte, es so oder so zu schreiben.
    Ihre Beispiel (etwa ß oder ss) folgen schon einer nachvollziehbaren Logik und daran würde ich mich auch nicht festbeißen. Aber ich habe seitdem bleibende Schwierigkeiten, die auch damit zusammenhängen, dass beim Lesen von fremden Texten vor allem in Zeitungen, es mal so oder so geschrieben steht und man sich ständig überprüfen sieht, stimmt das eigentlich oder nicht?
    Die Trennungen in den Zeitungsspalten sind eine Katastrophe. Sie können einem den letzten Spaß am Lesen und Schreiben nehmen.
    Vieles an der Groß- und Kleinschreibung hat für mich keine innere Logik. Und sicher folge ich gerne Ihrem Vorschlag, konservativ weiter zu schreiben. Aber es bleibt ein ständiges Sowohl-als-auch …
    Also, bis an den Rand der Borniertheit, hat mich im Laufe der Zeit, diese Rechtschreibereform getrieben, von der ich den Eindruck hatte, dass sich diese Ministerialriege wohl ein Denkmal setzen wollte, weil sonst nicemand von ihr Notiz genommen hätte. Das ist etwas bösartig von mir, aber ich bin auch böse geworden.
    Zur Orthografie im Englischen kann ich mich nicht fachlich äußern. Das nehme ich mal so an, wie Sie das sagen.
    Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn ich Zukunft wieder Vernunft in die Formen der Anrede käme und ich bin für jede Anregung, wie die von Frau Görlitzer (ganz oben) mehr als dankbar.

    By the way: Ich finde manche Redensarten und auch „schlanke“ Worte im Englischen wirklich sehr belebend (z.B. „To walk the talk“). Aber wenn wir über die Sprache in Zukunft sprechen (wollen), dann finde ich vor allem die Grenze des Erträglichen bei den Anglizismen längst erreicht. Mit der Digitalisierung (aber nicht nur) und den „modern words“ ist langsam der Zeitpunkt gekommen, ein öffentliches Zeichen zu setzen. Vor allem deshalb, weil die deutsche Sprache nun wirklich so gut ausgestattet ist, das wir genug Entsprechungen zur Verfügung haben, um uns in der eigenen Sprache zu verständigen und zum Ausdruck zu bringen, dass jetzt AUSVERKAUF ist oder dass man in dem oder dem Laden EINKAUFEN kann. Aber das war jetzt zum Schluss nur so ein Ausreißer, mit ß oder ss. Ich weiss es bald nicht mehr.

  31. @ all

    Zur Klarstellung:
    Dies ist keine Entgegnung auf die Ausfälle von Frau Ernst. Dazu ist das Thema (1) in kultureller wie (2) in politischer Hinsicht – worum es hier vor allem geht – viel zu bedeutend.

    Rationaler Dialog in dieser Hinsicht ist nicht möglich, wo die Grundregel systematisch ignoriert wird, dass jede Aussage in ihrem Kontext zu bewerten ist, wo unterschiedlichste Problembereiche (wie Orthografie, grammatische Strukturanalyse, Etymologie u.a.) mit apodiktischen Setzungen vermengt werden („l’homme“ als „Beleg“ für Vorstellung von Frau als „Unterprodukt…dieses männlichen Menschen“); wo weiterhin wild über Befindlichkeiten des Gegenübers spekuliert wird („Freund Eisenberg“), wo demselben das Recht auf „Betroffenheit“ abgesprochen wird („steht es…als Mann nicht zu“), die man zugleich exzessiv zur Schau trägt – um schließlich die boshafte Unterstellung anbringen zu können, „dass Frauen, die eigene Positionen vertreten, nicht richtig im Kopf oder hysterisch sein müssen“.
    Nur ein Beispiel zur Klarstellung:
    Meine ironische Äußerung „Sprache (…) degeneriert zum therapeutischen Programm“ bezieht sich völlig unverkennbar auf die lächerliche Behauptung von „Professx“, Sprache diene vor allem der Befriedigung von Bedürfnissen nach Selbstbestätigung („Mich gibt’s!“ – vgl. Zitate Beitrag 28. Dezember 2018,18:50).
    „Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein“. So Tucholsky über den Satiriker („Was darf Satire?) Ersteres kann ich gelassen ertragen, wo ich nicht persönlich involviert bin. Wenn ich allerdings einerseits ausdrücklich meine Distanz zum kritisierten Sachverhalt behaupte, zugleich aber alles und jedes auf mich beziehe (wenngleich nicht in einer einzigen Zeile von mir die Rede ist), es als Aggression mir gegenüber deute, dann habe ich mit dem zweiten Teil von Tucholskys Aussage ein Problem – und nicht mein Gegenüber. Darauf werde ich hier aber nicht weiter eingehen.

    Zu (1) Kultureller Zusammenhang:

    Es sei jedem der Triumph gegönnt, der einen anderen bei einer billigen Retourkutsche erwischt. Vorausgesetzt freilich, es ist wirklich eine.
    Mein Hinweis auf die lächerliche Wortbildung „Studierendenwerk“, begründet mit der stupiden Verdoppelung des aus dem Lateinischen „studens“ gebildeten Partizip Präsens (als Verlaufsform), ist allerdings alles andere als eine „Retourkutsche“. Zudem auch kein Problem der Etymologie (wie Frau Ernst fälschlicher Weise behauptet) – die sich lediglich mit Bedeutungswandel, nicht mit grammatischem Wandel befasst, also eine Unterdisziplin der historischen Sprachwissenschaft darstellt.
    Nicht vergleichbar mit lächerlichen, aber verkraftbaren Wortbildungen wie „der einzigste“ (doppelter Superlativ), auch nicht mit ideologiehaltigen, potentiell Menschen diskriminierenden Begriffen wie das berüchtigte „Zigeunerschnitzel“ (selbstverständlich zu diskutieren).
    Denn bei „Studierendenwerk“ findet (anders als bei diesen Beispielen) ein massiver Eingriff in die deutsche Grammatik statt, der grundlegende Differenzierungen zerstört: hier die zwischen einer aktuellen Tätigkeit („studierend“) und einer Funktion/Berufstätigkeit („Student“).
    Ich habe in diesem Zusammenhang als Beispiel auf die Voraussetzung solchen Differenzierungsvermögens verwiesen, um anspruchsvollere Lektüre wie „Faust“ überhaupt zu verstehen. Etwa die feine kritische Ironie („Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten“ – „Am besten ist’s, wenn ihr nur einen hört und auf des Meisters Worte schwört“), die historische Tiefe („Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“) oder die Universalität („Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, dann hab‘ ich dich schon unbedingt!“)

    Die Bedeutung solcher grammatisch angelegter Differenzierungen geht freilich noch viel weiter.
    Es ist gerade der flexible Wechsel der Wortarten (hier: Substantivierung von Verbformen), der die besondere Leistung des Deutschen bedingt, es zur „Sprache er Philosophie“ prädestiniert.
    Sigmund Freuds Analyse der menschlichen Psyche ist durch Substantivierung von Pronomina bestimmt: „das Ich“, „das Es“ und „das Über-Ich“.
    Martin Heideggers Philosophie, aufbauend auf der „Differenz zwischen Sein und Seiendem“ („Sein und Zeit“), zwischen „An-sich-Sein“ und „Für-sich-Sein“, wäre ohne die oben genannte Unterscheidung zwischen Funktion/Existenzform und „In-Tätigkeit-begriffen-Sein“ undenkbar.
    Ebenso der Begriff von „Existenz“, von „Verwirklichungsdimensionen des Menschen“ bei Karl Jaspers, „Das Prinzip Hoffnung“, „Multiversum“ als Kontrapunkt zur Theorie der „Kulturkreise“ bei Ernst Bloch.

    Fazit:
    Kulturelle „Aneignung“ ist ein produktiver Prozess des Erwerbs von Kulturgütern. Diese werden nicht einfach mit vorgegebenen Bedeutungen „übernommen“ (wie von der „feministischen Linguistik“ behauptet), sondern dabei umstrukturiert, auch hinsichtlich der Bedeutungen so verändert, dass sie für aktuelle Bedürfnisse zugänglich werden. Dies setzt aber (im Gegensatz zur Behauptung von plumper Übernahme) entsprechend differenzierte Sprach- und Denkkategorien voraus.
    Kulturelle „Aneignung“ ist kein Übungsfeld für Eitelkeiten, welche solche Differenzierungen zerstört, indem es eigene Befindlichkeiten auf diese Kulturgüter „aufklatscht“ (in sie hineininterpretiert):
    „Was du ererbt von deinen Vätern hast, ERWIRB es, um es zu besitzen!“

    Zu (2) Politischer Zusammenhang:

    Gerhard Sturm hat auf einen wichtigen Zusammenhang hingewiesen (27. Dezember 2018, 18:48): Eine auf die Sprache projizierte Geschlechterdiskussion lenkt „von den echten Problemen der Geschlechterfragen“ ab. Sie verhindert gerade substantielle Veränderungen in Hinblick auf Gleichberechtigung, die sie herbeiführen möchte.

    Eszter Kovats hat dies in einem interessanten Beitrag für IPG („Internationale Politik und Gesellschaft“) von der Friedrich-Ebert-Stiftung am Beispiel Ungarns und Polens ausgeführt.
    Nach landläufigem Verständnis würde man davon ausgehen, dass die dortigen „populistischen“ Regime mit eindeutig patriarchalem Einschlag mehrheitlich von Männern gestützt würden. Dies ist falsch.
    „2015 wurde die PiS in Polen von 39,7 Prozent der polnischen Frauen unterstützt – verglichen mit 38,5 Prozent der Männer.“ Noch deutlicher in Ungarn. Dort stimmten 2018 „52 Prozent der Frauen für die Fidesz-KDNP“, aber nur „46 Prozent der Männer“.
    Eszter Kovats erklärt dies so:
    „Der dominante Kulturfeminismus führte dazu, dass strukturelle Probleme schwerer formuliert werden konnten. (…) So wird die ideologische Komplexität rechtsgerichteter Strömungen unterschätzt. Denn eine derartige Politik richtet sich nicht einfach gegen Frauen, sondern verbindet reaktionäre Elemente durchaus damit, manche weiblichen Interessen zu fördern. (…)
    Der gesellschaftlich-feministische Diskurs verschleiert, dass die Probleme der Wählerinnen und Wähler die Geschlechtergrenzen überschreiten. Den Problemen liegen oft umfassendere sozioökonomische Spaltungen zu Grunde.(…) Wie eine aktuelle ungarische Studie zeigt, sind die dringendsten Probleme, von denen die Frauen berichten, die Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt und der schlechte Zustand der Gesundheits- und Ausbildungssysteme.“
    Und Eszter Kovats folgert daraus:
    „Um diese Entwicklungen zu korrigieren, müssen wir mehr tun, als die weiblichen Wähler (populistischer Parteien) herablassend zu Verbündeten des Patriarchats zu erklären. Wir brauchen eine Politik, die (…) die praktischen Interessen der Wählerinnen mit strategischen feministischen Zielen verbindet: eine Politik, die die sozioökonomischen Probleme der Frauen auf eine Weise thematisiert, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht zementiert, sondern verändert.“
    (in: Jenseits von Frauenfeindlichkeit, IPG, 19.12.2018, https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/jenseits-von-frauenfeindlichkeit-3162/)

    Diese Kritik am „dominanten Kulturfeminismus“ trifft wohl auch hierzulande in vollem Umfang zu. Arrogante Vertreter/innen einer angeblichen „feministischen Linguistik“ haben sich – indem sie ihre subjektiven Befindlichkeiten zum vermeintlich allgemein verbindlichen Maßstab erheben – nicht nur selbst von den realen Interessen (scheinbar) weniger gebildeter Männer – und mehr noch – Frauen entfremdet.
    Sie sind dabei, diese Bevölkerungsschichten, sowieso schon unterprivilegiert, oft auch (als „Bildungsferne“) von Möglichkeiten der Emanzipation und Selbstverwirklichung abgeschnitten, noch zusätzlich ihrer eigenen Sprache und Sprachfähigkeit zu enteignen, worauf diese – durchaus zu Recht – mit Empörung reagieren.
    Und sie treiben erkennbar Männer und – offensichtlich mehr noch – Frauen in die Arme der Apologetinnen und Apologeten einer „beglückenden“ Mutter-Ideologie patriarchalen Zuschnitts, vom Stil einer Birgit Kelle oder Hedwig Freifrau von Beverfoerde, oder gar des „völkischen“ Zynismus einer Alice Weidel oder Beatrix von Storch.

  32. Lieber Bronski,
    Wie halten Sie es denn nun mit der Ansprache?
    Da ich mich in erster Linie als Mensch verstehe, ist mir die Ansprache meiner Geschlechtszugehörigkeit ziemlich egal. Nennen wir nicht alle sowohl dem weiblichen als auch dem männlichen „zugeordneten“ Eigenschaften unser eigen? Habe Mal irgendwo gelesen, dass der Mensch erst im Gleichgewicht ist, wenn er diese beiden Anteile in sich vereint hat.

    Aber ging es nicht um das „dritte Geschlecht“?
    Ich habe keine persönlichen Kontakte zu Menschen, die jetzt unter „divers“ eingetragen werden können.
    Ich weiß nicht, wie und als was in der Geschlechterzugehörigkeit sich diese Menschen fühlen. Sie fühlen sich anders, weder so noch so. Gibt es überhaupt eine Tendenz zu einem dieser beiden bisher benannten Geschlechter?
    Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen soll.
    Wir zeigen über unser Äußeres wo wir uns zugehörig fühlen. Ist das bei Menschen des dritten Geschlechtes anders, oder Mal so oder so?
    Sind die Übergänge fließend, ist beides immer gleich präsent? Wird daraus auch der Weg zu einer definierten Zugehörigkeit zu einem Geschlecht? Wenn ich es richtig verstehe, sind es Menschen, die beide Geschlechter in sich vereinen.
    Fühle mich bei diesem Thema hilflos, da ich nichts über deren Befindlichkeit weiß.
    Wie also spreche ich jemanden an, der zum dritten Geschlecht gehört?

  33. @ JaM
    Danke für ihren Beitrag zum hebräischen Urtext der Genesis. Ich schließe daraus, dass sich Luther bei dem Wortpaar Mann und Männin von „isch“ und „ischa“ inspirieren ließ.

    Eine Frage bleibt nach ihrer Klarstellung trotzdem. Wenn es so ist, dass Adam als der ursprüngliche Mensch mit Anteilen beider Geschlechter verstanden wurde und sich beide Geschlechter erst durch seine Aufspaltung gebildet haben sollen, warum trägt dann der aus dieser Aufteilung hervorgegangene Mann den Namen des ursprünglichen Menschen (Adam) weiter und die Frau bekommt einen neuen Namen? Wenn hier keine Vorstellung von einer Hierarchie der Geschlechter mitgespielt hätte, wäre es doch naheliegender gewesen, wenn der Begriff Adam für den Menschen als Gattungswesen fortbestanden hätte und für Mann und Frau andere Namen gefunden worden wären, also etwa Simon und Eva. Dass der Mann weiter Adam heißt, deutet für mich eher darauf hin, dass die Vorstellung von Adam (dem späteren Mann) als dem Ursprung des Menschengeschlechts bereits in der Urfassung der Genesis enthalten ist.
    Dafür, dass das, was Christen das Alte Testament nennen, auf dem Boden einer patriarchalen Weltanschauung entstanden ist, spricht auch die Tatsache, dass sich die zwölf Stämme Israels auf Männer und nicht auf Frauen gründen. In einem Matriarchat wären es Frauen und deren Nachkommen gewesen, über die die Erbfolge gelaufen wäre.

    Für meine Argumentation ist es aber unerheblich, wie die Urfassung der Bibel von modernen Theologen heute interpretiert werden kann, sondern entscheidend ist, wie der Text in der nachfolgenden christlichen Gesellschaft (nur in der kenne ich mich genügend aus) aufgefasst und als unumstößliches Glaubensgut weitergetragen wurde. Und diese Inhalte entsprachen wohl eher der Interpretation, die ich in meinem letzten Kommentar entwickelt habe.

    @ all
    Zum Thema Erbfolge und Sprache sei mir ein kurzer Exkurs erlaubt:
    Es gibt ein Unwort, das trotz gesellschaftlichen Wandels, trotz erweiterter Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben sowie an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen immer noch in unserer Sprache und in den Köpfen Ewiggestriger herumspukt: der von vielen Familien heute noch herbeigesehnte „Stammhalter“.
    Man möge sich vor Augen halten, welche Kränkung es für ein Mädchen bedeutet, wenn ihm bereits mit der Muttermilch das Bewusstsein eingetrichtert wird, dass es ohne eigenes Zutun, allein aufgrund seines Geschlechts, als minderwertig gilt oder gar unerwünscht ist? Wie soll sich da ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln? Zum Glück haben es in der Vergangenheit immer mehr Frauen trotzdem geschafft, sich durchzusetzen, aber viele wurden durch diese frühkindliche vernichtende Selbstwahrnehmung auch erheblich in ihrer Entwicklung behindert.
    Es ist zu hoffen, dass dieses unselige Wort gemeinsam mit der frauenverachtenden Ideologie, die dahintersteckt, so bald wie möglich auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgt wird.
    Das nur am Rande zum ab und zu hier anklingenden Spott über das mangelnde Selbstbewusstsein vieler Frauen – das möglicherweise tatsächlich bei der einen oder anderen zu dem für nicht Betroffene unverständlichen Wunsch führen kann, den eigenen Wert auch sprachlich bestätigt zu bekommen.

  34. @ Werner Engelmann
    Ich zweifle daran, dass Ihre Holzhammerkritik an dem angeblich „dominanten Kulturfeminismus“ einer konstruktiven Debatte über eine nichtausgrenzende Sprache dienlich ist. Ihre Rundumschläge erinnern mich an ähnlich pauschalisierende Kritik an der 68er-Bewegung, auf die Sie selber dünnhäutig reagieren (siehe z.B. Ihre Äußerungen zu Götz Aly).

  35. @ Jürgen Malyssek

    Auch ich bin nicht mit allem, was die Rechtschreibreform gebracht hat, einverstanden. Aber ich gebe es offen zu: auch vorher war ich (Deutschlehrerin!) in der Groß- und Kleinschreibung nie ganz sattelfesr und brauchte beim Korrigieren den Duden neben mir: Das hat sich auch nachher nicht geändert. Logisch und konsequent war die Regelung vorher nicht und ist es seither genauso wenig.
    Dass mehrere Schreibweisen nebeneinander akzeptiert werden, finde ich nicht schlimm. So hat man doch jeweils zwei Optionen, und die Wahrscheinlichkeit, dass man daneben liegt, ist geringer.
    Im Übrigen gab ee bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Rechtschreibreform, ebenso erbittert diskutiert wie die letzte. Damals wurde u.a, das häufig hinter das T gesetzte h abgeschafft, sonst würden wir noch heute „Thür“ schreiben.

    Die zwanghaften Anglizismen gehen mir auch auf die Nerven, aber offenbar finden Kinder und Jugendliche es „cooler“ auf Rollerskates zu fahren als auf Rollschuhen, und als in meiner Schule ein Angebot für „Soccergirls“ gemacht wurde, wae der Zulauf sicher größer, als wenn den Mädchen zugemutet worden wäre, einfach nur Fußball zu spielen.
    Was mich immer am meisten amüsiert, sind weibliche Endungen, die an englische Wörter geklatscht werden, obwohl es sie im Englischen gar nicht gibt. Dann wird die gute alte Liedermacherin zur „Singer-Songwriterin“ (oder doch Songreiterin?).

    Nicht ärgern, nur wundern – und drüber lachen!
    Das sei unser Motto fürs neue Jahr, lieber Herr Malyssek.

  36. @ Jürgen Malyssek

    Zum „politisch korrekten“ Umgang mit literarischen Texten:
    Auch ich halte es für problematisch, literarische Texte, die ja in einem historischen Kontext entstanden sind und außerdem geistisges Eigentum sind, einfach umzuschreiben. Ich kenne das Beispiel von Pippi Langstrumpfs Vater, dem „Negerkönig“, der in „Südseekönig“ umbenannt wurde. Es fällt mir schwer, da eine eindeutuge Position zu beziehen. Vielleicht sollte man lieber den alten Namen stehenlassen und eine Fußnote anfügen, in der erklärt wird, dass dieses Wort früher keine negative Konnotaion besaß und dass selbst der Bürgerrechtler Martin Luther King es verwenbdet hat.

    Dazu eine Episode aus meiner früheren Schule:
    Ein Englischkollege besprach im Öberstufenunterricht eine Kurzgeschichte von Ernest Hemingway, in der eine Figur eine andere mit dem Ausdruck „Nigger“ beschimpft.
    Kurz darauf erschien die Mutter einer Schülerin mit einem afrikanischen Vater bei dem Kollegen und beschwerte sich über die Zumutung für ihre Tochter, einen solchen Text lesen zu müssen.
    Was ist da zu tun? Dass der historische Zusammenhang bei der Besprechung geklärt werden muss, ist klar. Aber wenn die Schülerin sich trotzdem veletzt fühlt? Kann man jemandem vorschreiben, wodurch er oder sie sich verletzt fühlen darf? Ein schwieriges Kapitel.

  37. @ Anna Hartl
    Im persönlichen Umgang mit Minderheiten gibt es eine einfache Regel: Man fragt die Betroffenen, als was sie bezeichnet bzw. wie sie angesprochen werden wollen. Auch für mich stellte sich bisher die Frage nicht, wie man einen „diversen“ Menschen ansprechen soll, weil ich keinem solchen bewusst begegnet bin (Erfahrungen habe ich mit transsexuellen Menschen, die allerdings sehr genau wissen, ob ihr „soziales“ Geschlecht männlich oder weiblich ist).

  38. @ Brigitte Ernst
    Ohne die Diskussion über die hebräische Bibel zu sehr zu vertiefen, stimme ich Ihnen zu, dass die Namensgebung (Adam und Chawa) für die „ersten“ Menschen (die Übrigens erst dann erfolgt, nachdem sie die Frucht des Baumes der Erkenntnis gegessen und sich ihrer Geschlechtlichkeit bewusst wurden) als eine Gleichsetzung von Mensch (ha adam) mit dem Mann Adam gelesen werden könnte (und auch so über Jahrhunderte so verstanden wurde). Allerdings wird Adam, wenn er als Mann charakterisiert wird, als „isch“ bezeichnet, wie auch sonst im biblischen Text jeder andere Mann. Soweit ich weiß, wird das Wort „ha adam“ in der Bibel ansonsten nur verwendet, wenn allgemein der Mensch gemeint ist. Selbstverständlich widerspiegelt die Bibel die patriarchalische Gesellschaft der damaligen Zeit (im Talmud heißt es dazu, dass „Gott mit den Menschen in der Sprache ihrer Zeit“ spricht). Ich finde es aber bemerkenswert, dass darüber hinaus der Text universalistische (oder gar egalitäre) Vorstellungen enthält. Diese ermöglichen dem nach der Zerstörung des 2. (Jerusalemer) Tempels entstandenen rabbinischen Judentum, bereits im frühen Mittelalter Frauen einen deutlich höheren rechtlichen Status zuzuweisen, als er in der durch Christentum bestimmten Gesellschaft möglich war.

  39. @ Brigitte Ernst
    Zu der „Episode“ aus Ihrer früheren Schule: Sind Sie sicher, dass Ihr Kollege bei der Lektüre der Kurzgeschichte von Ernest Hemingway, in der eine Figur eine andere mit dem Ausdruck „Nigger“ beschimpft, dies als eine rassistische Haltung thematisiert hat? Dies halte ich für unabdingbar, unabhängig davon, ob in der Klasse ein Kind eines afrikanischen Vaters ist. Sicherlich kann man auf Werke der Weltliteratur, die rassistische oder antisemitische Einstellungen enthalten (wie z.B. die Romane von Dostojewski), nicht verzichten. Ohne aber auf die Problematik einzugehen, werden rassistische und antisemitische Vorurteile, die ohnehin tief im kulturellen Gedächtnis europäischer Gesellschaften verankert sind, weiterhin reproduziert.

  40. @ JaM

    Die Geschichte liegt schon länger zurück und der Kollege war mehrere Jahre älter als ich, deswegen weiß ich nicht, wie sensibel er mit dem Theme umgegangen ist.

    Ich selbst habe einmal mit einem 12er Kurs, zu dem ein chinesisch-stämmiger Schüler gehörte, Fontanes Effi Briest gelesen. Fontane ist kein Rassist, aber in diesem Roman löst ein Chinese oder eher sein Bild und die mysteriöse unglückliche Liebesgeschichte, die sich darum rankt, bei der Protagonistin Faszination und zugleich Angst aus. Natürlich habe ich in diesem Kurs die Fremdheit und Exotik, die am Ende des 19. Jahrhunderts mit einem Menschen, aus einem so fernen Erdteil verbunden wurde, besonders genau erklärt. Der Schüler hat sehr verständnisvoll und positiv darauf reagiert.

  41. Um noch ein letztes Mal in die Rolle des bösen Buben zu schlüpfen. Dann werde ich meinen Mund halten. Und werde auch niemanden mehr mit unangenehmen Analysen von Widersprüchen belästigen, auch „Holzhammerkritik“ oder „Rundumschläge genannt.
    Wiewohl noch nicht einmal die Ausgangsprämisse überhaupt thematisiert, geschweige denn geklärt wurde, wonach Länder wie die Türkei, deren Sprache von der Struktur her keine „geschlechtliche Diskriminierung“ kennt, geradezu ein Hort des Respekts gegenüber Frauen sein müssten. Von den vielen übrigen genannten, nicht gelösten Widersprüchen gar nicht zu reden.
    Immerhin ist die (wohl eher triviale) Erkenntnis wieder sichtbar, dass tiefsitzende Vorurteile, Konfliktpotentiale nicht durch Umbenennung beseitigt werden, sondern dass man sie nur eindämmen kann, indem man sie thematisiert. Indem man (insbesondere jungen) Menschen das geistige und sprachliche Rüstzeug mit gibt, sich damit auseinandersetzen zu können.

    Welcher Pädagoge, der diese Aufgabe ernst nimmt, hat nicht schon Situationen wie die genannte bei der Behandlung der Hemingway-Geschichte erlebt, sich nicht mit „besorgten“ Eltern anlegen müssen, die nicht wahrnehmen wollen, in welcher von Gewalt geprägten Umwelt ihre Kinder aufwachsen?
    Freilich gibt es bisweilen auch Anerkennung. So etwa nach meinem Besuch mit Schülern bei den „anonymen Alkoholikern“, angesichts der Tatsache, dass bereits 12Jährige mit Drogenproblematik zu tun haben.
    Auseinandersetzungen, die dazu prinzipiell die Bereitschaft des jeweils Betroffenen voraussetzen. Weshalb etwa Auseinandersetzung mit Rassismus oder Antisemitismus ebenso wenig verordnet werden kann wie eine bestimmte Sprache.

    2018, so die Einschätzung von Unicef, war für Kinder eines der schlimmsten Jahre überhaupt. „Für das Leben gebrandmarkt“ ist nur eines der Stichwörter, um zu bezeichnen, was Krieg, Hunger, Elend, Vertreibung, Vergewaltigung, Zwang zu Kindersoldaten mit Millionen von ihnen angestellt haben. (http://www.fr.de/politik/kindersoldaten-fuer-das-leben-gebrandmarkt-a-1645149)
    Skandalöse Tatsachen, die sich prima verdrängen lassen, scheint sich das alles doch weit weg von uns abzuspielen. Indem man sich durch reale, geistige oder sprachliche Mauern abzuschirmen sucht, um Auseinandersetzung damit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Oder indem man sich selbst in seiner „Betroffenheit“ oder „Verletztheit“ durch bestimmte Sprechweisen zum Nabel der Welt erklärt.

    Nun leben wir schon seit über einem halben Jahr mit einer albanischen Familie zusammen, willkürlich zerrissen und nun – nicht ohne die Hilfe vieler – wieder zusammengeführt. Keiner von ihnen wurde nach seinen Gefühlen, Verletzungen gefragt, als ein Teil der Familie, Verbrechern gleich, abgeführt und abtransportiert wurde. Wonach der Älteste (19) um 8 kg abgemagert zurückkam und die Jüngste (11) wieder mit Bettnässen begonnen hatte.

    Man möge mir verzeihen, wenn ich solche Probleme doch etwas ernster nehme als Luxusprobleme derart, mit dem einem oder anderen Wort „nur mit gemeint“ zu sein. Und dafür, diese Relationen etwas zurechtzurücken, notfalls auch bereit bin, in die Rolle des „bösen Buben“ zu schlüpfen.

  42. @ Werner Engelmann

    Ich wollte Ihnen gerne rückmelden, dass ich Ihre Ausführungen immer sehr ernst nehme. Da ich aus einer sozialen Praxis mit Milieuerfahrungen komme, wo manche Menschen pflegen einen großen Bogen zu machen, sind mir Ihre unmittelbaren sozialen Erfahrungen, die Sie neben den nicht gerade minimalen Analysen vermitteln, immer bereichernd.
    Und in der Rolle des „bösen Buben“, kriegen ihre Aussagen auch immer etwas Pfiff. Anecken muss denn auch mal sein.

    Ich kann aus meiner Erfahrung mit den mir vertrauten unterschiedlichen Schichten und vor allem in der Begegnung mit Armut und Ausgrenzung einfach sagen, dass man auch lernt, die berühmte Fünfe auch mal gerade sein zu lassen – ohne die Ernsthaftigkeit preiszugeben.

    Zu „anreden“ habe ich jetzt nichts Weiteres zu sagen. Ich hoffe einfach nur, dass wir alsbald zu vernünftigen Anreden kommen, die nicht weiter in der Sparte „Geschlechterdikriminierung“ durchdekliniert werden müssen.
    Und vor allem, dass es auch auszuhalten geht, wenn mal eine dieser inzwischen unzeitgemäßen Namen aufs Tapet kommt, nicht gleich die nächste (Schul-)Konferenz einberufen werden muss.

    Wie die Sprache durch die digitale Kommunikation und die oberflächlichen Alltagrituale regelrecht verhunst wird, steht auf einem besonderen Blatt und beunruhigt mich zur Zeit stärker.
    Salut, Herr Engelmann.

  43. @ Werner Engelmann, 4. Januar, 23:27

    „Dies ist keine Entgegnung auf die Ausfälle von Frau Ernst.“
    Und dann folgt eine Liste aller meiner Verfehlungen, nicht in der direkten Anrede, sondern verbrämt durch das Passiv, wobei Sie als Sprecher mal in der dritten, dann wieder wir beide in der ersten Person erscheinen. Und das Ganze gekrönt von Tucholskys Aufforderung zur Ehrlichkeit.
    Etwas verklausuliert und leicht verwirrend, aber durchaus amüsant!
    Wer meine letzten Kommentare aufmerksam gelesen hat, sollte verstanden haben, worum es mir ging und was ich kritisiert habe, eine Wiederholung spare ich mir.

    Bleiben noch zwei Punkte, die zu erläutern wären:
    1. die Funktion des Partizips Präsens und ihr Stellenwert für den angeblich rapiden Verfall der deutschen Sprache sowie der Fähigkeit, komplexe Texte zu verstehen,
    2. die steile These, der Feminismus im Allgemeinen und das Streben nach einer gendersensibleren Sprache im Besonderen seien schuld am Erstarken rechter Parteien.

    Zu 1:
    Das Partizips Präsens („studierende“), kann attributiv oder als substantivierte Zwischenform zwischen Verb und Adjektiv gebraucht werden, im letzteren Fall großgeschrieben.
    Die gängigen Lehrbücher, Professor Eisenberg und Sie, Herr Engelmann, betonen, es beschreibe nur eine aktuelle Tätigkeit und keine Funktion oder Existenzform.
    Leider hält sich lebendige Sprache nicht immer an theoretische Regeln, sondern sie entwickelt feinste nuancierte Abweichungen. Das Beispiel von den „Regierenden“, mit denen auch eine Funktion gemeint ist und nicht nur eine aktuelle Tätigkeit, habe ich bereits genannt. Leider sind Sie nicht auf diesen Einwand eingegangen.
    Es gibt noch andere Beispiele.
    Die Stillende, die nicht gerade ihr Kind an der Brust haben muss, sondern auch so genannt wird wegen ihres körperlichen Zustandes, der sie zum Stillen befähigt; oder die an einer Schule Unterrichtenden, die nicht unbedingt aktuell im Klassenzimmer agieren müssen, sondern diese Bezeichnung tragen, weil sie als Lehrkräfte an dieser Schule eine lehrende Funktion ausüben. Man denke auch an Gregor Samsa, den Franz Kafka in seiner Erzählung „Die Verwandlung“ zu Hause in seinem Bett und nicht unterwegs auf Reisen aufwachen lässt und den er dennoch so einführt: „Samsa war Reisender“, womit er dessen Tätigkeit als Handelsvertreter meint. In allen diesen Fällen wird nicht unterschieden zwischen Funktion bzw. Existenzform und einem „In-Tätigkeit-begriffen sein“.
    Wie soll man mit derartigen, Ihrer Ansicht nach massiven Eingriffen in die deutsche Sprache umgehen? Müssen wir davon ausgehen, dass Kafka nicht über das nötige Differenzierungsvermögen verfügte, um eine anspruchsvolle Lektüre wie „Faust“ zu verstehen? Oder dass er gar mit seinem Werk bei Schülerinnen und Schülern ein solches Differenzierungsvermögen zerstörte? Ich kann nur hoffen, Sie haben die Ihnen anvertrauten Jugendlichen vor den verderblichen Einflüssen dieses Frevlers an der deutschen Grammatik bewahrt.

    2. Zu dem von Ihnen verlinkten Artikel:
    Eszter Kovats und Wiktoria Grzebalska analysieren das Wahlverhalten der polnischen und ungarischen Frauen, bei denen auffällt, dass sie bei den Stimmen für die konservative/reaktionäre PiS-Partei mit geringem Abstand gegenüber den Männern vorne liegen (39,7% gegenüber 38,5%). Daraufhin stellen die Autorinnen eine Behauptung in den Raum, die sie weder durch Faktenmaterial belegen noch näher erläutern: „Der dominante Kulturfeminismus führte dazu, dass strukturelle Probleme schwerer formuliert werden konnten.“
    Was sie unter Kulturfeminismus verstehen, wie stark der Einfluss von Feministinnen in diesen Ländern ist, wie weit Genderstudien und gendersensible Sprache dort überhaupt verbreitet sind – wir wissen es nicht und bekommen es von den Autorinnen auch nicht mitgeteilt.
    Dagegen nennen sie nachvollziehbare Gründe für die Entscheidung von Frauen, PiS zu wählen, nämlich eine familienfreundliche Politik. Dass der erwähnte „Kulturfeminismus“ die Frauen scharenweise in die Arme der PiS getrieben hätte, behaupten sie nicht. Ihre Kritik besteht darin, dass die feministische Bewegung die realen Probleme der Frauen zu wenig im Blick gehabt habe.

    Sie, Herr Engelmann, begehen nun einen Fehler, der jemandem, der bei der Analyse komplexer Zusammenhänge so viel Wert auf eine differenzierte Vorgehensweise legt, nicht unterlaufen dürfte.
    „Diese Kritik am dominanten Kulturfeminismus trifft wohl auch hierzulande in vollem Umfang zu.“
    Hiermit übertragen Sie die Situation in Polen und Ungarn eins zu eins auf Deutschland, ohne zu bedenken, dass sowohl das Wahlverhalten von Frauen als auch die kulturellen Hintergründe in den verglichenen Ländern völlig unterschiedlich sind und die AfD insofern nicht mit der PiS und der Fidesz zu vergleichen ist, als sie noch keine Regierung gestellt hat und somit noch keine Gelegenheit hatte, ihren Wählern irgendwelche Wohltaten zu erweisen.

    „Arrogante Vertreter/innen einer angeblich „feministischen Linguistik“ haben sich – indem sie ihre subjektive Befindlichkeit zum vermeintlich allgemein verbindlichen Maßstab erheben – nicht nur selbst von den realen Interessen (scheinbar) weniger gebildeter Männer – und mehr noch Frauen – entfremdet, […] Und sie treiben erkennbar Männer – und mehr noch Frauen – in die Arme der Apologetinnen und Apologeten einer „beglückenden“ Mutter-Ideologie patriarchalen Zuschnitts.“
    Ich fürchte, mit dieser Behauptung haben Sie sich nun aber völlig vergaloppiert. Die Ergebnisse der letzten Bundestags- und Landtagswahl(en) sagen nämlich etwas völlig anderes.
    Erstens haben 2017 bundesweit 16% Männer und 9% Frauen die AfD gewählt, in Ostdeutschland waren es 26% Männer und 17% Frauen, in den alten Bundesländern 13% Männer und 8% Frauen. Wie kommen Sie da auf den Zusatz „mehr noch Frauen“?
    Zweitens bilden Frauen mit 60% die Mehrheit der in letzter Zeit stark zunehmenden Wählerschaft der Grünen, der Partei, die den inkriminierten „Genderwahn“ ja wohl am stärksten von allen Parteien unterstützt und die sich am dezidiertesten auf der Seite von Patchworkfamilien und sexuellen Minderheiten positioniert.
    Zudem wird in keiner der Studien zu den Gründen für den Erfolg der AfD bei der letzten Bundestagswahl, weder in der des arbeitgeberfreundlichen IW noch der gewerkschaftsnahen Heinrich-Böckler-Stiftung oder der Bertelsmann-Stiftung ein übertriebener Feminismus oder angebliche „totalitäre Versuche der Sprachsteuerung“ als relevante Motive, rechts zu wählen, erwähnt. Da geht es vielmehr um eine Abkehr von der CDU, weil diese sich zu weit nach links bewegt habe, um das Gefühl, von den „Altparteien“ mit den eigenen Problemen nicht wahr- und ernstgenommen zu werden, zu wenig Mitspracherecht eingeräumt zu bekommen. Da ist die Angst vor der Globalisierung, vor dem „Flüchtlingsstrom“, vor der Digitalisierung und der Gefahr des sozialen Abstiegs usw. usw.
    Und es geht am Rande vielleicht auch um die als zu schnell erlebten Veränderungen in den sozialen Strukturen, um den Wandel herkömmlicher Familienbilder und Geschlechterbeziehungen. Da spielen bei der Entscheidung für die AfD vor allem bei Frauen der Feminismus und die Diskussion um eine gendergerechte Sprache mit Sicherheit – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle.

    Noch eine kurze Bemerkung zu Ihrem Kommentar vom 6. Januar, 22:40:
    Natürlich gibt es auf der Welt schwerwiegende und dringlichere Probleme als eine gendergerechte Sprache. Das hat auch niemand bestritten. Bronski hat das Thema angeschnitten, und wir haben uns dazu geäußert, auch wenn die Geschicke der Welt vielleicht nicht unbedingt von dieser Frage abhängen. Etwas mehr Wertschätzung im Umgang miteinander kann dennoch nie schaden.

  44. @ Brigitte Ernst, 7. Januar 2019 um 12:38

    Ich werde meiner Vorankündigung untreu. Denn es kann nicht um Prinzipien gehen, wenn sich die Umstände ändern. Und wo sich die Chance einer sachlichen Auseinandersetzung ergibt, darf man sich dieser nicht entziehen.

    Zu den angesprochenen Punkten:

    1. Kafka, Die Verwandlung:

    Danke für diesen Hinweis. Eines meiner Lieblingsthemen. In diesem Zusammenhang auch ein ausgezeichnetes Beispiel, um einen der Hauptfehler „feministischer Linguistik“ aufzuzeigen, nämlich den Irrglauben, kontextlos (über „die Sprache“ schlechthin) überhaupt definitive Aussagen (etwa über vermeintlich „patriarchalische Inhalte“) treffen zu können.
    (Mit dem gleichen Problem mussten sich strukturalistische Semantiker herumschlagen, die in der Regel auch nicht darum herum kamen, ihr Forschungsgebiet zumindest teilweise zur Pragmatik zu erweitern- also konkrete Sprechsituationen einzubeziehen.)
    Der sensible, geradezu geniale Umgang von Kafka mit Sprache hat sich, in Zusammenhang mit der Parabelform, in jedem meiner Kurse von pädagogisch unschätzbarem Wert erwiesen: als praktische Vermittlung des Problems des hermeneutischen Zirkels und zugleich Möglichkeit wissenschaftspropädeutischen Arbeitens (learning by doing.
    Praktisch erfolgte dies in selbständiger, differenzierter Gruppenarbeit. Wobei jede Gruppe eine von 4 unterschiedlichen Thesen zur Interpretation der „Verwandlung“ in die Käfergestalt am Text zu verifizieren hatte:
    (a) „Entfremdung“ im sozialen Sinn (B.v.Wiese), (b) Selbstentfremdung (Emrich), (c) Flucht bzw. psychologische Regression (B.v.Wiese, Sautermeister), (d) Rebellion gegen die Familie (Sokel).
    Wie zu erwarten, konnten an dem kontextlosen Parabel-Text von allen vier Gruppen die jeweils unterschiedlichen Thesen verifiziert werden. Was meist zu spannenden Diskussionen über die überzeitliche Bedeutung der Parabeln Kafkas führte, darüber hinaus auch über die erkenntnistheoretische Bedeutung des „hermeneutischen Zirkels“ und über Methodenbewusstsein als Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens.
    Es versteht sich von selbst, dass die Parabelform auch die Interpretation des Ausdrucks „Reisender“ in ähnlicher Weise bewusst offen hält.
    Mein Erschrecken über apodiktische Aussagen durch „feministische Linguistik“ zu „der Sprache“ schlechthin ist dadurch begründet, dass diese selbst Methodenbewusstsein auf solchem, gymnasialem Niveau vermissen lassen.

    2. „dominanter Kulturfeminismus“

    Ich gebe zu, dass ich die konkreten Bezüge auf Ungarn bzw. Polen bei Eszter Kovats und Wiktoria Grzebalska nicht recherchiert habe. Es muss ja nicht jeder Blogbeitrag gleich zum wissenschaftlichen Kolloquium auswachsen. Etwas Vertrauen bei seriösen Publikationen (und das trifft auf IPG sicher zu) darf schon sein.
    Mag sein, dass dadurch die Anwendung auf deutsche Verhältnisse missverständlich ist. Natürlich geht es nicht um plumpe Übertragung, sondern um Kennzeichnung ähnlicher Tendenzen, wobei in Ungarn oder Polen der Endpunkt einer solchen Entwicklung erkennbar ist, der Gott sei Dank in Deutschland (hoffentlich noch lange) nicht erreicht ist.
    Völlig eindeutig ist dem entsprechend die Aussage „Und sie treiben erkennbar Männer und – offensichtlich mehr noch – Frauen in die Arme der Apologetinnen und Apologeten einer ‚beglückenden‘ Mutter-Ideologie patriarchalen Zuschnitts“.
    Es ist ganz klar, dass, wenn von einer „Mutter-Ideologie“ die Rede ist, in erster Linie („mehr noch“) Frauen angesprochen werden, also nicht ein Ist-Zustand des lamentablen Frauenanteils insbesondere bei rechten Parteien im Parlament gemeint sein kann.
    Im Übrigen kann ich Sie beruhigen:
    Ich setze aus eben diesem Grund – und auf Grund manch frauenspezifischer Erfahrungen – im Prinzip eher auf „Frauen-Power“ und auf geeignete Mittel (auch „Quote“, zumindest gegenwärtig), um diesen skandalösen Zustand zu verändern. Was freilich auch nicht zu verallgemeinern ist und mit Sicherheit beim Zynismus einer Alice Weidel endet. Was aber auch weder „Grüne“ noch „Feministinnen“ einer kritischen Überprüfung ihrer Standpunkte und Aussagen enthebt.

    By the way:
    Bez. der Rechtschreibreform habe ich nie den Standpunkt einer generellen Ablehnung vertreten (was vermutlich in der Allgemeinheit auch für Prof. Eisenberg nicht zutrifft) – ganz im Gegenteil. Was einfach daran liegt, dass mir vor allem als Lehrer von Deutsch als Fremdsprache die Zumutungen der alten Schreibung für Lernende sehr genau bewusst sind.
    Meine Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass auch die Neuregelungen, insbesondere im Bereich der Groß- und Kleinschreibung, noch viel zu kompliziert sind und die Chancen einer wirklich vereinfachenden Reform, etwa durch Aufgabe der Großschreibung, vertan wurden.
    Das mehr als 20jährige Hickhack zeigt aber, auf welch sensiblem Feld man sich bewegt, wenn man Sprachverhalten vorscheiben will. Obwohl hier noch nicht einmal politische Einstellungen oder Implikationen betroffen waren, sondern lediglich gewohnte Verhaltensweisen.

  45. @ Werner Engelmann

    Schön festzustellen, dass wir doch immerhin eine gemeinsame Vorliebe haben: Franz Kafka, bei mir speziell „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“. Diesem Autor habe ich mich ich erst während meiner Lehrtätigkeit angenähert. In meiner eigenen Schulzeit lasen wir nur den „Kübelreiter“, den ich als Schülerin schrecklich fand, wahrscheinlich, weil ich noch zu unreif war oder es unserem Lehrer nicht gelang, uns angemessen an den Autor heranzuführen.
    Ihr Tipp zur Vermittlung im Unterricht kommt für mich leider zu spät.

    Noch ein Kuriosum zum substantivierten Partizip „Studierende“. Vielleicht erinnern sich andere noch aus ihrer eigenen Studienzeit daran, ich stieß erst heute beim Googeln des Begriffs darauf:
    Der Terminus „Studierende(r)“ zur Unterscheidung vom „vollakademischen“ Studenten an einer Universität oder TH wurde nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet für diejenigen, die an den Vorläufern der heutigen Fachhochschulen ausgebildet wurden. Damals gab es noch kein Fachabitur, sondern die Studierenden besuchten die Bildungsstätte nach der Mittleren Reife und einer dreijährigen Berufsausbildung. Ich selbst kannte zwei junge Männer, die in den 60er Jahren die sogenannte Ingenieurschule in Friedberg besuchten. Ihre Lehrkräfte durften sich nicht Professoren nennen, sondern „nur“ Dozenten, und nach dem Abschluss hießen die ehemaligen Studierenden „graduierte Ingenieure“ zur Unterscheidung von den an einer Technischen Hochschule (z.B. Darmstadt) ausgebildeten Diplomingenieuren.
    Bei der Unterscheidung zwischen Student und Studierendem ging es also nicht um den Unterschied zwischen aktueller Tätigkeit und Funktion, sondern um die Wahrung einer wissenschaftlichen Hierarchie, aber auch um eine Unterscheidung des sozialen Status. Der Student war „etwas Besseres“, er genoss ein höheres gesellschaftliches Ansehen als der Studierende, genauso wie der Diplomingenieur sich dem graduierten Ingenieur als gesellschaftlich überlegen betrachten durfte.
    Das Interessante dabei ist, dass damals offenbar kein Linguistikprofessor und kein sonstiger gelehrter Sprachretter Zeter und Mordio schrie wegen des angeblichen Verfalls der deutschen Sprache durch den „falschen“ Gebrauch des Partizips Präsens. Als es um die Wahrung des Status der (meistens) Herren Akademiker ging, war ihnen alles recht. Erst seit es um die Interessen von Frauen geht, fällt ihnen plötzlich die angebliche Fehlerhaftigkeit und Undifferenziertheit dieses Begriffs auf.
    Honi soit qui mal y pense.

  46. @ Brigitte Ernst, Werner Engelmann

    Ich habe Ihren Disput mit Vergnügen gelesen, Er erinnerte mich an meine Germanistikseminare, die ich ziemlich freudlos hinter mich gebracht habe. Immerhin wurde ich dort sensibilisiert, wie man mit sprachlichen Konstruktionen Tatsachen verschleiern und beschönigen kann.
    Sprache ist lebendig durch ihren täglichen Gebrauch und sie spiegelt auch ziemlich deutlich den Wandel, den manche Wörter erleiden mussten. Im sogenannten 3. Reich wurden einige Wörter in einen Kontext gestellt, die in mir unangenehme Gefühle und Abwehr auslösen.
    Und viele Euphemismen im heutigen Sprachgebrauch (in der Werbung, der Politik) sollten wir kritisch bewerten und erkennen, weil sie weniger Schönes vernebeln sollen. Das ist die Sprache, die uns manipulieren will. Ich finde es richtig, dass weibliche Endungen in Berufsbezeichnungen angewendet werden. Das war vor nicht all zu langer Zeit in Berufen, in denen Frauen eher selten oder gar nicht möglich waren, der Fall. Das ist jetzt schon lange anders. Aber wie ist das in anderen sprachlichen Situationen? Heute ertappte ich mich bei dem Satz, „da bin ich ein Optimist“. Hätte ich besser Optimistin gesagt? Für mich ist das Wort geschlechtsneutral, ebenso wie Gast. Und Wörter, die auf -ling enden, sind nicht unbedingt negativ bestimmt. Im Gegenteil: Frühling, Schmetterling. Die Sprachpuristen hocken in ihrer eigenen Blase, manches ihrer Vorschläge geht in die Sprache ein, manches nicht wie Gesichtserker für Nase, dafür aber Rundblick für Panorama, was beides in die Sprache eingegangen ist.

  47. @I. Werner, 8. Januar 2019 um 1:59

    Optimist oder Optimistin?
    Eine interessante Fragestellung, die Sie aufwerfen, und der ich nachgegangen bin.

    Zunächst zur Eingrenzung des Problems:
    (1) Völlig eindeutig können Bedeutungen prinzipiell nur im jeweiligen Kontext erschlossen werden, und das auch nicht immer. Bedeutungswörterbücher sind lediglich Hilfsmittel, von daher auch nicht normativ zu begreifen. Sie abstrahieren ja immer eine – überwiegende – Bedeutung aus einer großen Fülle von einzelnen Sprechakten.
    Bei mehreren möglichen Bedeutungen entscheidet der Sprecher im Zusammenhang mit dem Kontext, welche zu gelten habe.
    (2) Dass bei Personenbezeichnungen, bei denen das Geschlecht eine Rolle spielt, die entsprechende männliche oder weibliche Form, bei Anrede beide zu benutzen sind, ist eine Frage der Höflichkeit und völlig unstrittig.
    (3) Das Problem reduziert sich also von vornherein auf die Fälle, bei denen nicht Personen im Vordergrund stehen, sondern Tätigkeiten, Funktionen usw., das Geschlecht also keine Rolle spielt.
    Alle zu diskutierenden Fälle beziehen sich ausschließlich hierauf.

    In diesen Fällen bedeutet der Artikel KEINE Geschlechtsbezeichnung, wie die (schlechte) deutsche Übersetzung „männlich, weiblich, sächlich“ nahelegt, sondern ein rein grammatisch bedingtes Prinzip der Einordnung. Deutlich erkennbar an „Fräulein“, „Männlein“, die eben nicht „sächlich“, sondern mit dem Neutrum-Bildung „-lein“ als Diminutive gekennzeichnet sind.

    Zu Ihrem Beispiel
    Im Folgenden beziehe ich mich auf Wiktionary (erreichbar über Wikipedia), das (nach Überprüfung einiger Beispiele) klarer definiert als Duden-Online, basierend auf Duden, Bd.10, Bedeutungswörterbuch.

    Optimist: „männliche Person, die von Optimismus erfüllt ist“
    Zum Vergleich:
    Pessimist: „pessimistisch denkender Mensch; Mensch, der eine negative Einstellung zum Leben hat“
    ähnlich: Fatalist, Defätist
    Bei allen diesen Fällen wird auch die weibliche Entsprechung „Optimistin“, „Pessimistin“ usw. aufgeführt.
    Die Antwort auf Ihre Frage lautet also:
    Von Ihnen als Sprecherin aus gesehen ist die Form „Optimistin“ korrekt.

    Dies lässt sich grammatisch auch schlüssig erklären:
    Hier handelt es sich um Substantivbildungen, also Ableitungen aus den entsprechenden Adjektiven, die als Attribute prinzipiell Lebewesen (oder Dingen) zugeordnet sind. Damit sind sie von Anfang an geschlechtlich bestimmbar.

    Ganz anders der Fall bei „Student“ (wieder bei Wiktionary):
    Student: „Person, die an einer Universität oder Fachhochschule studiert“
    Der Begriff „Person“ kennzeichnet schon, dass das Geschlecht unwesentlich ist, es allein auf die Tätigkeit des Studierens ankommt.
    Grammatisch ist dies durch Ableitung vom Verb bestimmt. Das (geschlechtslose) Verb ist also das Grundwort, nicht das abgeleitete Nomen.
    Zum selbständigen, geschlechtlich bestimmten Nomen (als Personenbezeichnung) wird es erst in der Gegenüberstellung von Student/Studentin. Dies findet nur dann Anwendung, wenn die Geschlechtsbezeichnung von Bedeutung ist.

    Ähnlich auch der Fall bei „Schüler“:
    Schüler: „[1] eine Person, die eine Schule besucht [2] jemand, der die Lehren eines bestimmten Lehrers vertritt“.
    Auch hier steht nicht die Geschlechtsbezeichnung im Vordergrund, denn es handelt sich ja um Ableitung aus dem Neutrum „Schule“ als dem Ort der Tätigkeit, nicht um eine originäre Personenbezeichnung.
    Auch hier eine völlig logische und sinnvolle Verwendung, die dem Prinzip der Sprachökonomie entspricht.
    Wie sinnlos und vor allem die Sprache beeinträchtigend es wäre, hier das Geschlechtsprinzip aufzudrücken, zeigt sich schon an einigen Komposita, etwa „Schülerbibliothek“, „Schülerschaft“, „Schülerstreich“, „Schülergeneration“ usw.

    Ähnliches zeigt sich bei dem dummen Wort „Studierendenwerk“, wie sich aus der Bedeutungsanalyse des Singulars ergibt:
    Studierender: „[1] männliche Person, die im Augenblick oder eine Zeit lang etwas intensiv lernt (studiert), [2] Person, die an einer Hochschule eingeschrieben ist“
    Studierende: „[1] weibliche Person, die an einer Hochschule eingeschrieben ist“.

    Es ergibt sich also exakt das gleiche Problem wie bei „Student“. Nämlich, dass der (vermeintlich) „männlichen“ Form eine doppelte Bedeutung zugeschrieben wird, der „weiblichen“ Form dagegen nur eine. Was bei „Student“ als „sexistisch“ empfunden wird, wird hier einfach unter den Tisch gekehrt.
    Der Unterschied besteht aber darin, dass nicht nur die Sprache bez. der Aussprache und des Redeflusses (ähnlich wie bei dem Wortmonster „Auszubildende/r“) regelrecht verhunzt wird. Zusätzlich verarmt die Sprache, hier dadurch, dass zwischen den Bedeutungen (1) und (2), also Verlaufsform bzw. Funktion gar nicht mehr unterschieden werden kann.

  48. @ Brigitte Ernst

    Nun erlaube ich mir mal, die von Ihnen benannten „Herren Akademiker“ (von denen ich zum Glück keine kennen gelernt habe) schlicht als „eitle Fatzkes“ zu bezeichnen. Denen – sofern es sie noch gibt – zu empfehlen wäre, sich doch um Latein als Umgangssprache oder wenigstens die Wieder-Einführung des „Er“ als Anrede zu bemühen.
    Der Doktor in Büchners „Woyzeck“, der mir da spontan einfällt, bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial:
    „Subjekt Woyzeck. Er hat die schönste Aberratio mentalis partialis, die zweite Spezies, sehr schön ausgeprägt. Woyzeck. Er kriegt Zulage!“

    Im Übrigen ein weiteres schönes Beispiel, dass eine Bedeutung sich nur aus dem konkreten Kontext erschließen lässt – wobei nicht jeder historische Kontext erhaltenswert ist. Auf die Idee einer solchen Bedeutungsunterscheidung kommen eben nur „eitle Fatzkes“.

  49. @ Jürgen Malyssek, 7. Januar 2019 um 0:14

    Hallo, Herr Malyssek,
    Ihr Beitrag verdient ganz sicher eine Antwort, insbesondere Ihr Hinweis auf Erfahrung mit „unterschiedlichen Schichten“ und „Begegnung mit Armut und Ausgrenzung“.
    Erlauben Sie mir, diesen sehr wichtigen Hinweis angesichts meiner Erfahrungen mit konkreten Inhalten zu füllen. Verbirgt sich doch dahinter auch ein Problem angemessenen Umgangs mit anderen, fremd erscheinenden Sprech- und Verhaltensweisen.

    Unser Leben wurde durch die großartige Institution des von de Gaulle und Adenauer 1963 ins Leben gerufenen deutsch-französischen Jugendwerks bestimmt. Und zwar, seit ich, im 2. Studiensemester in Tübingen, 1967 völlig spontan beschloss, ein Semester drauf zu geben, um hierbei, durch Organisation eines deutsch-französischen Studentenaustauschs, „mitzumischen“.

    Bei der Vorbereitung meiner Reise nach Clermont-Ferrand mit Ente und deutschem Kennzeichen wurde ich schon beim Tanken mit gerecktem Arm und „Heil Hitler“ begrüßt. Der Austausch, von ausgesprochener Herzlichkeit geprägt, wurde dennoch zum vollen Erfolg (nicht zuletzt in Form der Stiftung zumindest zweier deutsch-französischer Ehepaare).
    Bei unserer Verlobung 1970 ließ es sich der Großvater meiner Frau (ein Mann einfachster Denkungsart und in seiner Art ein Unikum) nicht nehmen, begeistert und in aller Naivität antideutsche Lieder aus dem 70er-Krieg loszuschmettern. Was seiner Herzlichkeit und seinem Stolz über seinen ersten Urenkel, unserem Sohn, nicht den geringsten Abbruch tat.
    Ähnlich ein Cousin meiner Frau, ein armer, versoffener Kerl, der später mit gerade mal 50 an Alkoholvergiftung starb. Der hatte, aller Vorurteile gegen Deutsche und „Hippies“ zum Trotz, tagelang an meinem VW-Bus herum geschweißt, mit aufgemalter Blumenwiese und blauem Himmel das Kuriosum der Kleinstadt. Auf meinen dezenten Hinweis, dass auch ich Deutscher sei, nur die erstaunte Entgegnung: „Aber du bist doch Werner!“

    Wenn wir heute Gäste haben, die wir noch wenig kennen, ist meist sofort – oft mit Begeisterung – vom letzten Aufenthalt in Deutschland die Rede oder von Verwandten und Bekannten, die in Deutschland leben oder mit Deutschen verheiratet sind.
    Und bei unserer Feier jüngst anlässlich der Rückkehr der Mitglieder unserer albanischen Familie zeigte ich dem Arbeitgeber des albanischen Vaters (ein schlichter, aber einfallsreicher Mensch: er repariert mit Flüchtlingen Waschmaschinen u.a. Geräte, die am Schrottplatz landen würden, und verkauft sie zu günstigen Preisen) das von mir eingerichtete Privattheater. Er, der noch nie im Theater war, staunte, als eröffne sich ihm eine ganz neue Welt.

    Was ich damit sagen will?
    Verfestigte Vorurteile aufzubrechen verlangt viel Geduld und Verständnis. Und auch die Erkenntnis, dass zwischen Sprechen und Handeln gerade bei „Unterschichten“ ein riesiger Unterschied besteht.
    Sicherlich nehmen Menschen, denen es an begrifflichem Instrumentarium fehlt, gesellschaftliche Vorurteile sehr schnell auf. Was aber noch keine Rückschlüsse auf ihr wirkliches Verhalten zulässt. Denn das, was am Sprachverhalten „defizitär“ sein mag, wird durch ein sehr feines Gespür für nonverbales Verhalten des Gegenübers zumindest weitgehend kompensiert.
    Menschen wie Georg Elser, nach meiner Meinung einer der bedeutendsten Widerstandskämpfer (vgl. Film: Elser – Er hätte die Welt verändert) sind dafür ein Beleg.

    Die Sozialisationsforschung und der sprachsoziologische Ansatz haben dies längst begriffen und von Begriffen wie „defizitär“ (Bernstein: „Restricted Code“) Abstand genommen. Und auch das Konzept der „kompensatorischen Erziehung“, das darauf aufbaut, ist keineswegs mehr durch den elitären Hochmut von „Bildungsbürgertum“ geprägt, wie er in den hier thematisierten Konzepten der Sprachregelung erkennbar ist.

    In politischer Hinsicht kommt es wohl darauf an, dass (wie Sie sagen) Menschen, die aus der „sozialen Praxis mit Milieuerfahrungen“ kommen, ihre Erfahrungen, ihr Verständnis dafür einsetzen, ein Abrutschen der betreffenden Schichten in den rechtsradikalen Dunstkreis zu verhindern, statt mit Anmaßung einer sprachlichen Definitionsmacht die gesellschaftliche Spaltung auch noch zu vertiefen.
    Ich vermute mal, dass Sie da in eine ähnliche Richtung denken.

    P.S.:
    Ich vermute, dass die von Ihnen angesprochenen Probleme „digitale Kommunikation“ und „oberflächlicher Alltagsrituale“ in ähnlicher Weise mit zur Schau getragener Arroganz zu tun haben. Das aber ist nun doch ein anderes Thema und bedarf noch der Untersuchung.

  50. @ Werner Engelmann, 8. Januar, 19:03

    „Zusätzlich verarmt die Sprache, hier dadurch, dass zwischen den Bedeutungen (1) und (2), also Verlaufsform bzw. Funktion gar nicht mehr unterschieden werden kann.“

    Es ist ein wenig frustrierend, mit Ihnen zu diskutieren, wenn Sie gar nicht auf die Argumente Ihres Gegenübers eingehen.
    Da nenne ich Ihnen diverse Beispiele (sogar in Franz Kafkas Werk) aus der gewachsenen deutschen Sprache, in denen ebenso wie bei dem Wort „Studierende“ ein substantiviertes Partizip Präsens für eine Funktion verwendet wird, ja Sie selbst verwenden am 7.Januar um 18:36 eine solche grammatische Form für eine Funktion:
    „… dass mir vor allem als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache die Zumutung der alten Schreibung für Lernende sehr bewusst ist.“
    Dennoch beharren Sie unverdrossen auf der Behauptung, das substantivierte Partizip Präsens werde nur für die Verlaufsform eingesetzt und die Verwendung des Wortes „Studierende“ für eine Funktion bedeute eine Verarmung der Sprache, eingeleitet von den dummen Feministinnen und Feministen.
    Ich gebe es auf!

  51. @ I.Werner

    „Die Sprachpuristen hocken in ihrer eigenen Blase…“
    Eine sehr kluge Bemerkung. Die Sprache wird von den Mitgliedern der jeweiligen Sprachgruppe gemacht und nicht von Linguisten (ich verwende das Maskulinum mit Absicht) und Sprachpolizisten. Begriffe, die sich durchsetzen, gehören irgendwann zur Sprache und werden früher oder später vom Duden anerkannt.
    Es sieht so aus, als hätte sich die Bezeichnung „Studierende(r)“ im universitären Umfeld bereits etabliert, auch wenn sich einige hochgelahrte Sprachwissenschaftler auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln.

    Zur Frage nach „Optimist“ oder „Optimistin“: Es wäre ja noch schöner, wenn eine Sprecherin erst Regelwerke wälzen müsste, um entscheiden zu dürfen, mit welchem Wort sie sich selbst bezeichnet. Wenn sie für sich das generische Maskulinum in dieser bestimmten Aussage akzeptiert, nennt sie sich „Optimist“, wenn die Nennung ihres Geschlechts in diesem Moment für sie wichtig ist, dann spricht sie von sich als „Optimistin“. Ein Richtig oder Falsch gibt es da nicht. Ich entscheide selbst, wo ich meinen Aussageschwerpunkt setze, und muss keinen Theoretiker und auch keine Theoretikerin um Erlaubnis fragen.

  52. Für alle, die sich über die Frage der Anrede den Kopf zerbrechen, verlinke ich hier den Kommentar von Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung.

    Was mir hier nicht einleuchtet, ist allein, warum er sich überhaupt noch auf die blöde Toilettendiskussion einlässt, wo es doch bei dem Vorgang mitnichten um geschlechtliche Spezifika geht, sondern lediglich um überlieferte Vorstellungen im Hirn, die merkwürdiger Weise nicht in Frage gestellt werden.

  53. @ Werner Engelmann

    Hallo, Herr Engelmann,

    Es ist wie Sie es sagen: „… Verbirgt sich doch dahinter auch ein Problem angemessenen Umgang mit anderen, fremd erscheinenden Sprech- und Verhaltensweisen.“

    Es gibt in allen Schichten und Kreisen Idioten, Dummschwätzer und Dünnbrettbohrer …
    Wenn ich alles, was im jeweiligen sozialen Umfeld von sich gelassen wird, auf die berühmte Goldwaage legen würde, dann wäre ich überbeschäftigt und es täte auch nichts Gutes bewirken. Ich kann nicht bei jeder „rechtslastigen“ Äusserung im jeweiligen Umfeld auf Person und Charakter schließen.
    Ich teile im Großen und Ganzen Ihre Erfahrungen an den Personen-Beispielen, die sie beschreiben. Über Schmerzgrenzen müssen wir uns jetzt nicht unterhalten.

    Ich muss wissen wer und was ich bin und mich je nach Situation auf die Menschen auch einlassen (können), bevor ich loslege …
    Auch bin ich selber nicht in jeder Situation klar und überzeugend. Habe auch schon dummes Zeug gesagt, im Eifer des Gefechts. Entscheidend ist, dass ich es rechtzeitig merke und weiß, warum ich es so gesagt habe. Zum Beispiel in welcher Stimmungslage.

    Wenn man lernt, sich auf die Menschen einzulassen (das war essentiell in meiner sozialen Arbeit mit den gestrandeten Menschen), dann kann durchaus unterscheiden zwischen dem Gesagten und dem Charakter eines Menschen. Und da spielt erst einmal oben und unten keine Rolle. Es gelingt nicht immer. Es kann auch mal krachen, auch in meinem alten Arbeitsfeld, das von Aufs und Abs, von Freud und Leid geprägt war/ist. Und es hat bisweilen dort gekracht. Meistens war es heilsam für beide Seiten. Und das Erstaunliche war häufig. Die Beziehung war geklärt. Die Luft war rein! An solchen Ergebnissen dürfte sich nicht viel geändert haben.

    Sie, Herr Engelmann, lassen sich auf die Menschen ein, mit denen Sie zusammenleben, denen Sie helfen, mit denen Sie Theater machen, usw. Das bringt es, dass wir beide uns auch auf diese Entfernung im Wesentlichen verstanden haben.
    Wenn ich mich (bei meiner zurückliegenden Arbeit) bei jeder krummen Aussage meines Gegenübers oder der „Szene“ festgebissen hätte, hätte ich nie die sozialen Prozesse mitentwickeln können, die schließlich zu einem recht erfolgreichen Gesamtergebnis geführt haben. Sie werden es beim Theater bestimmt nicht anders kennen.
    Und: Man lernt nie aus. Trial & Error. Wenn nicht so, dann eben so herum …
    (Dennoch ist mit diese moderne Proklamation des „Lebenslanges Lernen“ suspekt, weil sie im Gemisch mit den ökonomischen Interessen der Herrschenden merkwürdige Gestalt [Leistung, Leistung, Leistung!] annimmt).

    „Verfestigte Vorurteile aufzubrechen verlangt viel Geduld und Verständnis. Und auch die Erkenntnis, dass zwischen Sprechen und Handeln gerade bei „Unterschichten“ ein riesiger Unterschied besteht.“ (hic!)
    Klarheit und Festigkeit sind gut – Arroganz ist schlecht.
    Wir haben in der Sozialarbeit (Arbeitsfeld ist eigentlich egal) schon lange den defizitären Ansatz verlassen und „Ressourcenorientierung“ ist groß geschrieben. Da war die heute etwas elabortiert angehauchte Begrifflichkeit „Quartiersmanagement“, die alte Gemeinwesenarbeit, in den Ausgängen der 1960er, den 1970er bis weit in die 1980er Jahre schon vorbildlich drin, weil da Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Feld arbeiteten, die fast alle aus ‚gestandenen Berufen‘ kamen und wussten, wie man etwas in die Hand nehmen muss.
    Heute wird überall „gemanaged“ …
    Die wenigsten von uns hatten damals einen Karriereplan (wahrscheinlich keiner). Man rutschte da rein, wo man letztlich hingehörte.

    Zurück: Es ist genau so, wie Sie es sagen und wie die Dinge ihre politische Dimension bekommen. Es bedarf der „Milieuerfahrungen“ und der Reflexion der eigenen Lebenswelt.
    Annäherung an die Lebenswelt der „Anderen“ bedeutet auch ein Nachdenken über unser So-sein. Für elitären Hochmut ist da kein Platz. Und wir erleben es ja in der Realpolitik: Da ist keine Politperson mehr (oder gibt sich nicht zu erkennen; vielleicht noch der Hubertus Heil) mit sozialer Erfahrung von unten, und schon mal gar nicht aus dem Arbeitsleben der Menschen, die man mit den „Arbeitsmarkt- und Sozialreformen“ meint beglückt zu haben. Ha!

    Keine „mit Anmaßung einer sprachlichen Definitionsmacht die gesellschaftliche Spaltung aus noch zu vertiefen.“
    Ja, so denke ich – ich kann nicht anders.
    Entschuldigung! Ein Hauch von Pathos …

    „Digitale Kommunikation“: Da fällt mir vieles ein – und manchmal nichts mehr. In dieser Welt werden wir noch einiges erleben.

  54. @ Werner Engelmann

    Was meinen Sie mit der „blöden Toilettendikussion“?
    Zwar halte ich es für erheblich problematischer, herauszufinden, wie man die diversen Menschen (ich hätte, wie am 20. Dezember, 2:17. bereits erwähnt, die Bezeichnung intersexuell vorgezogen, „diverse Menschen“ kann nämlich etwas ganz anderes bedeuten) nicht nur anredet, sondern mit welchem Personalpronomen man in der dritten Person von ihnen spricht. Aber ganz so blöd finde ich die Toilettendiskussion nun auch wieder nicht.
    Theoretisch könnte man die Trennung der Toiletten ganz aufheben und nur noch einen eigenen Raum für das Pissoir beibehalten. Andererseits ist die Damentoilette so etwas wie ein Schon- und Schutzraum für Frauen, wo sie sich zurückziehen und im Notfall vor Übergriffen in Sicherheit bringen können. Allerdings funktioniert das ja leider auch nicht immer. Aber auf einen eigenen Raum, wo sich Frauen ohne männliche Beobachtung schminken können, würde ich auch nicht gerne verzichten. Aus männlicher Sicht alles kein Problem, für Frauen schon eher.

  55. Es gibt eine „blöde Toilettendiskussion“?
    Sollte es den intersexuellen Menschen nicht selbst überlassen sein, welche Toilette sie benutzen möchten?

  56. @ Jürgen Malyssek, 10. Januar 2019 um 16:09

    Danke für die ausführliche Antwort!
    Wieso aber „Entschuldigung“ für „Pathos“? – Kann ich nicht erkennen.

    Interessant wäre, näher auszuführen, was Sie unter „Ressourcenorientierung“ bei Sozialarbeit konkret meinen. Ich kann mir das nur in etwa vorstellen.

    Ich versuche mal, mein Verständnis von „sich auf Menschen (und Situationen) Einlassen“ an meinem Erfahrungsbereich, der Theaterarbeit zu konkretisieren.
    Natürlich war das Projekt eines Flüchtlingstheaters auch für mich eine große Herausforderung. Klar war von vornherein, dass es auf eben das Genannte ankommt, dass ein „sprachlastiges“ Herangehen (ein Konzept, das fast ausschließlich von sprachlichen Anspielungen, Missverständnissen u.s.w. lebt – typisch für französisches Boulevardtheater) da zum Scheitern verurteilt ist.
    Meine Konzeption (aus längerer Beschäftigung vor allem mit Diderots Konzeption dynamischer „Bilder“ entwickelt) zielt darauf, ein Gesamterlebnis zu schaffen, in dem alle Wirkungselemente (Sprache, Bewegung, Mimik, Gestik, Bühnenbild, Licht, Musik) zusammenwirken. Sie zielt auf vielfältige, auch emotionale Weisen, sich mit der Umwelt und sich selbst auseinanderzusetzen. Wobei Sprache nur einen Teil der Wirklichkeitserfassung bzw. Wirkung ausmacht.
    Diese Konzeption setzt keine perfekte Sprachbeherrschung der Schauspieler voraus, lässt verschiedene Ausdrucksweisen zu, gibt die Möglichkeit, sich, auf unterschiedliche Weise, mit der eigenen Person einzubringen (z.B. durch Tanz). Vorausgesetzt ist freilich die Bereitschaft, sich in das Gesamtkonzept zu integrieren. Was auch bedeutet, sein eigenes Verständnis (z.B. sprachlicher Art) nicht anderen aufzuoktroyieren.

    Ganz ähnlich auf der Seite der Rezeption:
    So beschrieb der Redakteur der Lokalzeitung unsere Aufführung mit einem Wortspiel: „Une salle comble et comblée“ – übersetzt etwa: „ein voller und mit Emotion erfüllter Raum“. Häufigstes Wort im Gespräch mit Zuschauern: „touché(e)“ – im menschlichen Sinn „berührt“.
    Ich habe aber auch bei Aufführungen von Schülertheater (mit Schauspielern aus verschiedenen Nationen) erfahren müssen, dass bei Leuten, die sich für „intellektuell“ halten, vor allem hängen blieb, dass das eine oder andere Wort aber „nicht richtig ausgesprochen war“. –
    Wessen Wahrnehmungsvermögen ist nun eigentlich „restringiert“?

    Sie verweisen zu Recht darauf, dass solchem Verhalten auch politische Valenz zukommt. Wobei nicht nur auf abgehobenen „Politiker-Sprech“ zu verweisen ist.
    Einfache Menschen haben ein sehr gutes Gespür für ehrliche Überzeugungen, glaubwürdiges Engagement und menschliche Würde. Mit vollem Recht fordern sie auch Respekt ihnen selbst gegenüber ein – auch, wie Sie richtig sagen, beim einen oder anderen nicht ganz „astreinen“ Ausdruck auch mal „fünf gerade sein zu lassen“.
    „Intellektueller“ Hochmut, der anderen Sprachverhalten aufoktroyiert (wie er sich etwa in der dümmlichen Unterstellung von „Rassismus“ für die gute alte Sternsinger-Tradition äußert) wird dem entsprechend (zu Recht) als persönliche Demütigung verstanden.
    Er bereitet nationalistischer Hetze, einem AfD-Sprech von „denen da oben“, von „Establishment“ und „Alt-Parteien“ das Feld. Er ermöglicht nationalistischen Demagogen erst, sich selbst als vermeintliche Anwälte „des Volkes“ aufzuführen, schlichte Gedankengänge mit menschenverachtenden und hetzerischen – auch rassistischen – Inhalten aufzufüllen.

    Politische Entfremdung, rechtsnationalistische Tendenzen, Spaltung der Gesellschaft sind dem entsprechend sehr wohl auch ein sprachliches Problem. Dem entgegenzuwirken setzt also voraus, vermeintlich „einfache“ Denk-, Sprech- und Empfindungsweisen nicht nur zu „verstehen“, zu respektieren. Es gilt, – sehr wohl auch mit entsprechender emotionaler Ansprache – Hirne und Herzen zurückzugewinnen.

    Vielleicht lässt sich das auch unter dem – etwas technokratischen – Begriff „digitaler Kommunikation“ fassen. Ich persönlich würde es eher als die gewaltige Aufgabe beschreiben, das, was durch „Globalisierung“, Machtkonzentration, moralische Enthemmung, an Ängsten, tiefgehendem Gefühl der Ungerechtigkeit und Politikverdrossenheit entstanden ist, mit Verständnis, Mitmenschlichkeit, Respekt so weit wie möglich aufzufangen und zu adäquaten Formen der Kommunikation (im weitesten Sinn, über Sprache hinausgehend) zurückzufinden.
    Es versteht sich, dass solches Verständnis nicht glasklare, auch satirische Formen der Auseinandersetzung mit Demagogie und Hetze ausschließt, dass sich im Gegenteil beides gegenseitig bedingt.

  57. @ Werner Engelmann

    Dank zurück!

    Zunächst: „Ressourcenorientierung“ in der Sozialarbeit.

    R. ist das konsequente Suchen danach, was die Betroffenen können, ein aufmerksames Eingehen auf das, was von diesen Menschen eingebracht wird, ein Aufgreifen dessen, was sich an Alltagssituation aus der Realität ergibt. Eine Art Selbsthilfeprozess. Was ist an eigener Ressource, eigener Fähigkeit da? Und nicht auflisten, was der Mensch alles nicht kann und wie beschädigt er ist usw.
    Ich nenne das gerne auch noch etwas übergreifender: „Lebensweltorientierung“; Respekt vor dem Leben, der Lebensgeschichte des Anderen …

    Sie werden das in der Theaterarbeit und Ihrem Ansatz – was auch diesen ganzheitlichen Blick auf die Lebenswirklichkeit und die Lebensbedingungen erfordert – ähnlich behandeln.
    Aus der sich in den 1980er Jahren weiterentwickelnden Psychiatriearbeit gab es mal einen Aufruf einer Art Selbsthilfegruppe in der Psychiatrischen: „Wir wollen ohne aufgedrängte Hilfe leben!“
    Sie schreiben zu Ihrem Theaterprojekt-Gesamtkonzept: „Was auch bedeutet, sein eigenes Verständnis … nicht anderen aufzuoktoyieren.“
    Das ist es eigentlich.

    Wer sich als „intellektueller“ Bildungsbürger versteht und Schwierigkeiten hat, einfache Sprache des Anderen nicht auszuhalten, der wird auch schwerlich in Kontakt treten können.
    Nichts mit „touché“.
    Es ist so, wie Sie sagen: „Einfache Menschen haben ein sehr gutes Gespür für ehrliche Überzeugungen, glaubwürdiges Engagement und menschliche Würde. Mit vollem Recht fordern sie auch Respekt ihnen selbst gegenüber ein …“
    Und: Beziehung statt Erziehung!

    Dann diese Empörungswelle zu den „Mohren“, den „Negerküssen“ und das Beispiel mit den Sternsingern – ist doch furchtbar, wenn es diese aufdringliche Ächtung erfährt, wenn sowas mal (auch arglos) ausgesprochen wird.

    Ich war letztes Jahr in Berlin in den ehemaligen Sarotti-Werken, die jetzt Hotelbetrieb und Wohnungsquartiere geworden sind. Im Hotel konnte ich die Geschichte der Sarotti-Werke lesen und der Sarotti-Mohr ist jetzt weiß auf Servietten und Betriebskarten.
    Ehrlich gesagt, ich finde das albern. Das ist alles so humorlos. Das kann man doch anders machen. Nur so ein Beispiel des Diktats, dieses Hochmuts Intellektuell-Beflissener.
    Das Weitere dazu (was die politische Ausschlachtung dieser Rassismus-Empörung betrifft) haben Sie ja geschildert. Man läuft auf Dauer damit nur den Rechten in die Arme, anstatt mit einer Portion Souveränität das Eine von dem Andern zu trennen.

    Was Sie zum Schluss unter dem weitreichenden Begriff der „digitalen Kommunikation“ aufgreifen, kann ich ganz gut aufnehmen. Dazu muss ich aber in Kontakt bleiben mit den Menschen, die meinen Gesichtkreis, mein soziales Umfeld ausmachen.
    Wir brauchen Bodenhaftung – und eine Lebensphilosophie!
    Zum guten Schluss: Wie schön, dass wir in Deutschland (auch in Bayern!) so viele richtig gute Satiriker haben!
    Sie sind lebenswichtig. „Alphonse“ (Alfonse?) ist auch ein Guter.

  58. @ Brigitte Ernst

    „Ich entscheide selbst, wo ich meinen Aussageschwerpunkt setze.“ –

    Wie wahr! Fehlt nur noch der Nachweis, wer Ihnen das wann untersagt hätte. Und die Begründung dafür, dass, was Sie für sich in Anspruch nehmen, anderen nicht zuzubilligen wäre. Mir zum Beispiel.

    Sie können z.B. getrost davon ausgehen, wenn ich über Probleme von „Lernenden“ mit der deutschen Rechtschreibung in meinem Kurs spreche, dass ich dann auch weiß, „wo ich meinen Aussageschwerpunkt“ setze. Konkret: Dass ich auch wirklich „Lernende“ im Sinne ihrer aktuellen Bemühungen um die deutsche Sprache meine. Und dass dann nicht irgendeine „grammatische Funktion“ oder ein „Lehrer-Schüler“-Verhältnis in meinem Kopf herumschwirrt. Das habe ich nämlich nicht nötig. Ebenso wenig wie mir von anderen vorschreiben zu lassen, was ich zu meinen und wie ich das auszudrücken habe.

    Betreffend Kafkas „Reisenden“:
    Nun habe ich nicht nur sehr differenziert das Problem prinzipieller Offenheit einer Parabel erörtert, das eine dogmatische Festlegung auf EINE Interpretation verbietet. Ich habe darüber hinaus sogar explizit den Bezug zu Ihrem Problem hergestellt: „Es versteht sich von selbst, dass die Parabelform auch die Interpretation des Ausdrucks „Reisender“ in ähnlicher Weise bewusst offen hält.“ (7. Januar 2019 um 18:36)
    Nur muss man eine Antwort eben auch wahrnehmen wollen, statt sie gezielt zu ignorieren. (Über die Gründe dafür schweige ich mich hier um des Friedens willen lieber aus. Die erneuten Unterstellungen in Ihrem Beitrag 10. Januar 2019, 8:11 sprechen zu Genüge für bzw. gegen sich.)
    Zur Sache:
    Nun bleibt es – bei einer offenen Parabelform sowieso – jedem unbenommen, seine eigene, auch verflachende Interpretation für DIE „richtige“ zu halten oder gar Kafka zu unterstellen, sich bei seiner Wortwahl nicht allzu viele Gedanken zu machen. Dem Verständnis seiner Texte dürfte das freilich wenig dienlich sein.
    Ich meine wohl, dass es einem solchen Genie zuzutrauen ist, die in seinem Sinne adäquate Wortwahl zu treffen. Konkret: Wenn er von einem „Reisenden“ spricht, dass er dann nicht einfach an irgendeine „Funktion“, einen Beruf, einen Vertreter denkt. Sondern dass dabei auch – wie in allen seinen Parabeln – die gesamte existentielle Situation des Menschen überhaupt, als einem ewig „Reisenden“, mitschwingt.

    Ich habe allerdings nicht vor, mich unter den oben genannten Voraussetzungen auf weitere Dispute über Kafka-Exegese einzulassen – so reizvoll das in der Sache wäre. Das gilt auch für weitere Nachweise für Verarmung des Denkens als Folge eines ideologisch geprägten Sprachverständnisses. Das hier am Beispiel Kafkas aufgezeigte reduzierte Verständnis anstelle von Offenheit ist in diesem Zusammenhang Nachweis genug.
    Wobei abschließend angemerkt sei, dass sich an solchen Beispielen zeigt, dass Sprache, indem es Bewusstsein prägt, einschränkt oder erweitert, natürlich AUCH auf Handeln und damit gesellschaftliches Sein zurück wirkt (aber eben nur „zurück“). Dass gerade dies ein wesentliches Argument für pfleglichen Umgang mit Sprache darstellt. Was auch bedeutet, auf voluntaristische Akte der Sprachsteuerung im gesamtgesellschaftlichen Interesse wohlweislich zu verzichten.

    @ Anna Hartl

    Warum „blöde Toilettendiskussion“? – Das ist sehr leicht zu erklären.

    Natürlich hat niemand einem „intersexuellen Menschen“ vorzuschreiben, welche Toilette er/sie zu benutzen hat. Mit dem – wie ich meine, durchaus richtigen – Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgerechnet eine neue Toilettendiskussion derart zu beginnen, dass nun überall drei getrennte Toiletten (mit entsprechend getrennten Waschmöglichkeiten) aufzustellen seien, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Komik.

    Ein jeder kennt wohl von Busreisen her die langen Schlangen vor der Damentoilette, wenn an einer Raststätte nur zwei Toiletten angeboten werden können. Nicht besonders frauenfreundlich, wie mir erscheint – gäbe es doch immerhin die Möglichkeit einer ausgewogeneren Benutzung.
    Zudem ist mir noch niemals ein Protest zu Ohren gekommen, wenn ein kleines Restaurant nur eine Toilette anbieten kann, die von allen zu benutzen ist.
    Wozu dann also die künstliche Aufregung?

    Ich muss auch kein Restaurantbesitzer sein, um nachvollziehen zu können, was für diesen etwa eine Forderung nach mindestens drei Toiletten (mit Waschraum, versteht sich) bedeuten würde, mit dem „Erfolg“, dass hinfort zwei davon nicht oder nur wenig benutzt würden. Dafür aber zumindest ein Speiseraum wegen des zusätzlichen Platzbedarfs aufgegeben werden müsste (von den zu erwartenden Kosten gar nicht sprechen) – wo doch schon zwei gemeinsam zu benutzende Toiletten und meinetwegen zwei gesonderte kleine Waschräume, nicht nur erheblich platzsparender, praktikabler, billiger und frauenfreundlicher wären. Was freilich die Aufgabe eines „Geschlechterkampf“-Diskurses voraussetzen würde.
    Worin nun der „frauenfreundliche“ Sinn der genannten Diskussion bestehen sollte, das müsste man mir also schon erklären.
    Es ist aber wohl zu befürchten, dass auch diesmal Pessimisten wieder Recht behalten. Und dass ein Einstein nicht Unrecht hatte zu behaupten, dass „Vorurteile schwerer zu zertrümmern seien als Atome“.

  59. @ Jürgen Malyssek, 13. Januar 2019 um 1:22

    Danke für Ihre Erläuterung der „Ressourcenorientierung“ in der Sozialarbeit.
    Ich hatte deshalb den Ansatz meiner Theaterarbeit etwas genauer geschildert, weil ich die Vermutung hatte, dass Ihrer ganz ähnlich ist.
    Ich sehe dies nun voll bestätigt. Und nicht nur das: Absolut d’accord!

    Zu ergänzen wäre allenfalls, dass solches Sich-Einlassen eine unglaublich aufreibende Angelegenheit ist. Ich sehe mein Projekt auch „nur“ als Modell an, dessen Wert wesentlich im Nachweis bestand, dass dieser Ansatz funktioniert.
    Wobei natürlich das, was konkret bewegt wurde, nicht zu vergessen ist. Am deutlichsten wohl bei einem Afghanen, der in seiner tiefgehenden Traumatisierung durch das Erlebte vor etwas mehr als einem Jahr so gut wie nicht ansprechbar war. Und der einen, wenn man ihm jetzt begegnet, fast anstrahlt.
    Für eine Wiederholung des Projekts würde meine Kraft aber nicht mehr ausreichen.

    Nur noch ein Wort zu Ihren Ausführungen über „Hochmut Intellektuell-Beflissener“ und „Humorlosigkeit“:
    Das trifft den Nagel wohl auf den Kopf. Und Liebe zu Satire ist dabei so etwas wie Überlebenshilfe – deutlich erkennbar etwa an jüdischen Witzen im KZ.
    „Wir brauchen Bodenhaftung – und eine Lebensphilosophie!“ – Was für ein Wort! Ersteres ein Motto, das man sich permanent vor Augen führen sollte. Letzteres eine kollektive Arbeit von Jahrzehnten.
    Bezüglich der politischen Bedeutung denke ich da an die Funktion der literarischen „Salons“ im 18. Jahrhundert, vor allem in Frankreich. Auch an das vorrevolutionäre bürgerliche Theater (besonders das „bürgerliche Trauerspiel“), einer Form der kollektiven „Selbstvergewisserung“ im Parkett. Ohne die die folgende Revolution nie stattgefunden hätte.
    Das ist es wohl, was heute fehlt.

    Ich sehe aber, wenn auch in bescheidenerem Umfang (man lernt sich ja persönlich nie kennen) in diesem Blog durchaus eine ähnliche Funktion.
    Daher möchte ich hier auch nicht enden, ohne Bronski meinen Dank dafür auszusprechen, solches zu ermöglichen.

    Weitere Überlegungen zur Spaltung der Gesellschaft und zu poltischen Schlussfolgerungen verlege ich in den Thread „Gewalt gegen Menschen ist schlicht kriminell“, zumal dieser Thread ja bald geschlossen wird.
    Im Vorgriff nur so viel:
    Man wird bei der Frage nach den Ursachen der Gewalt wohl nicht weiter kommen, wenn man die Spaltung der Gesellschaft nicht wesentlich auch als eine sprachliche und kulturelle Spaltung begreift.
    Insofern hat die Diskussion in diesem Thread in Bezug auf diese Frage doch eine Menge beigetragen.

  60. @ Werner Engelmann

    Sie haben mich offenbar wieder einmal gründlich missverstanden.
    Worauf ich anspielte, war die Frage von Frau Werner, ob sie sich selbst als Optimisten oder als Optimistin bezeichnen dürfe, d.h. was hier grammatisch korrekt sei. Und auf Ihre ausführliche Untersuchung des grammatischen Regelwerkes, nach dem Sie der Fragerin mitteilten, welche Eigenbezeichnung für sie korrekt sei. Das fand ich, mit Verlaub, lächerlich.
    Das „ich“ in meiner Aussage bezog sich nicht auf mich als Individuum, sondern war im Sinne von „man“ gemeint.
    Und, das haben Sie offenbar übersehen, es ging um eine Selbstaussage, um eine Bezeichnung der eigenen Person, nicht um die Frage, wie man höflicherweise andere anreden oder von ihnen in der dritten Person sprechen sollte (nicht müsste wohlgemerkt).

    „Und die Begründung dafür, dass, was Sie für sich in Anspruch nehmen, anderen nicht zuzubilligen wäre. Mir zum Beispiel.“
    Wo habe ich Ihnen vorgeschrieben, wie Sie über sich selbst zu reden hätten? Sie dürfen sich einen Optimisten nennen, aber auch eine Optimistin, sollten Sie denn eine Annäherung an das weibliche Geschlecht verspüren. Darum ging es doch gar nicht. Es ging um den Wunsch vieler Frauen, in der Sprache deutlicher wahrgenommen zu werden, und die meiner Ansicht nach wenig überzeugenden Argmente, die Sie dagegen ins Feld führten.
    Ich habe auch, zum wievielten Mal muss ich das erklären, keinem Vorschriften gemacht, sondern lediglich versucht, einige Ihrer abwehrenden Argumente gegenüber einer gendergerechteren Sprache zu entkräften.

    Womit wir bei Kafka angekommen wären.
    Was Sie zum Anlass nehmen, sich in einer Analyse der Deutungsmöglichkeiten der Erzählung „Die Verwandlung“ zu ergehen, war von mir viel schlichter gemeint; In der gewachsenen Sprache existiert der Begriff „Reisender“ als Synonym für den Beruf des Vertreters, d.h. hier wird nicht unterschieden zwischen aktueller Tätigkeit und Funktion, ebenso wenig wie bei der Bezeichnung „Studierender“. Was das Wort „Reisender“ als mögliche Metapher bei Kafka sonst noch implizieren könnte, war in diesem Zusammenhang völlig unerheblich..

    „Wozu dann also die künstliche Aufregung?“

    Wer außer Ihnen, Herr Engelmann, hat sich denn in diesem Blog über die Toilettenfrage künstlich aufgeregt?

  61. @ Werner Engelmann

    Noch ein paar Nachworte zu unserem fruchtbaren Austausch:

    Nicht nur im Ansatz („Ressourcenorientierung“) von Theaterarbeit und Sozialarbeit sehe ich einen großen Zusammenhang, sondern auch in den Sparten Theater und Sozialarbeit selber.
    Ich nenne nur einige Stichworte: Rollenspiel, Psychodrama, Archetyp, Identität, Protagonist, Antagonist …

    Dass das Sich-Einlassen eine „aufreibende Angelegenheit“ ist, darüber besteht kein Zweifel. Aber es ist langfristig erfolgreich.
    Trotzdem muss man auch merken, wann es gut genug ist und es gut ist aufzuhören. Für solche zurückliegende dichte Einzel- und Gruppenbegegnungen hätte ich auch nicht mehr ausreichende Kräfte.
    „Liebe zu Satire ist … so etwas wie Überlebenshilfe.“ – Unbedingt!!!

    Und: Bodenhaftung und Lebensphilosophie kommen einem nicht zugeflogen. Es ist diese Selbstüberprüfung und „eine kollektive Arbeit von Jahrzehnten“. Ja!
    Was Sie zum „vorrevolutionären bürgerlichen Theater“ sagen, macht deutlich, wie wichtig die Kunst ist!
    Ich zitiere einen niederländischen Maler (Name fällt mir gerade nicht ein): „Der Mensch ist Abgrund. Die Kunst ist Ausweg.“

    An dieser Stelle auch meinen Dank an Bronski, dass der Platz für unseren Austausch da war, der ja auch etwas über „anreden“ hinausging.

    Zur Spaltung der Gesellschaft ergänze ich zur sprachlichen und kulturellen die soziale.

    Ich habe mich am Kafka-Diskurs nicht beteiligt.
    Aber erwähnen wollte ich noch, dass die Erzählung/Parabel „Der Aufbruch“ bei mir damals eine Initialzündung auslöste. Ein Leben ohne Kafka ist … usw. usw.

    Wer weiß, vielleicht lernt man sich doch mal persönlich kennen?

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