Als die ungeliebten Fremden endlich auszogen


Als die ungeliebten Fremden endlich auszogen

von Gerfried Ferchau


Was geschah nach Ankunft der Flüchtlinge aus dem Osten, die nach Kriegsende im Westen eine neue Heimat suchten? Was haben sie erlebt, wie war es mit der Aufnahme? Der Ort hieß im 19 Jahrhundert „Vosshusen“, d.h. „Fuchshausen“, ein Flecken in der Nähe von Hamburg, wo sich früher viele Füchse tummelten, unbebaute und nahezu unbewohnte Heidelandschaft. Und da immer mehr Menschen zuzogen, wurde der Name „Neu Wulmstorf“ (PLZ: 21629) gewählt, in Abgrenzung zum bestehenden alten Dorf Wulmstorf. Eine große Zuzugswelle begründete sich durch die Bombenangriffe auf Hamburg und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Und meine Mutter. verw. Kühn, verheiratete Ferchau (mit meinem Vater Alfred Ferchau), verw. Pohl führte den Flüchtlingstreck aus dem Osten an – vom 22.01.1945, 20 h bis zum 17.03.1945, 12 h. war sie mit Eltern, „mit Pferd und Wagen“ und Geschwistern unter schrecklichen Bedingungen unterwegs, um endlich in Itzenbüttel b. Hamburg anzukommen.

Heidesiedlung MitgliedskarteDer erste Ehemann meiner Mutter, Artur Kühn, blieb verschollen und wurde am 06.05.1952 vom Amtsgericht Tostedt rückwirkend zum 31.12.1945 für tot erklärt. Meine Mutter heiratete am 20.10.1951 den Tischler Alfred Ferchau, meinen Vater, in Itzenbüttel. Sie lebten in Reindorf, Kr. Harburg. Ich wurde am 17.11.1953 in Buchholz i.d.N. geboren. Siedlungsgeschichte Im Vertrag vom 30.10.1953 räumt die Nordwestdeutsche Siedlungsgesellschaft m.b.H. meinen Eltern in Neu-Wulmstorf, Parzelle 60a, eine „Anwartschaft auf Übertragung einer Kleinsiedlung“ ein. Im Jahr 1955 trat mein Vater der Heidesiedlung Neu-Wulmstorf bei. (Mitgliedskarte Heidesiedlung Neu-Wulmstorf vom 02.10.1955.)

Die Flüchtlinge begannen schnell mit den ersten Arbeiten, obwohl das Land noch nicht vollständig vermessen war. Spöttisch sprach man von „Maulwurfshausen“: Die Menschen schachteten aus, zogen ihren Keller hoch, bewohnten ihn und bauten dann nach oben weiter aus. Dieser Zustand Anfang der 50er Jahre wurde am 24.12.1983 sehr eindrucksvoll im „Buxtehuder Tageblatt“ am Beispiel der Familie Ripke beschrieben, die in der gleichen Straße wie meine Eltern lebten (Pommernweg, 21629 Neu Wulmstorf).

Wie wurden die Flüchtlinge aufgenommen? Die Siedler bekamen Parzellen, die im südlichen Bereich der heutigen Bundesstraße 73 liegen. Die Flüchtlinge waren sozusagen unter sich, das weisen auch die Straßennamen aus: Breslauer Str., Königsbergerstraße, Bromberger Str., Pommernweg usf. Alle Siedler hatten ein gemeinsames Ziel: Ein eigenes Haus bauen und ein eigenes Grundstück bewirtschaften. Selbstversorgung war angesagt und Zwangsbewirtschaftung. Und das bedeutete: Meine Eltern mussten in ihrem Haus ein Ehepaar in der oberen Wohnung aufnehmen – und das passte besonders meiner Mutter überhaupt nicht, zumal der Mann starker Raucher war. Sie war froh, als die ungeliebten Fremden endlich auszogen. Meine Mutter, selbst ein Flüchtling, war kein Freund ihresgleichen. Sie hatte es mit meinem Vater geschafft: Haus und Garten standen bereit für unsere Familie, jetzt wollte sie keine anderen Personen mehr aufnehmen. Sie war ja kein Flüchtling mehr und sie sah auch keine Notwendigkeit, anderen zu helfen.

ferchauSind das nicht eklatante Parallelen zu heute? Vor 60 Jahren mussten 12 (!) Millionen Menschen im zusammengedampften Westdeutschland aufgenommen und integriert werden. Das ging nicht reibungslos, es war ein mühsamer und langwieriger Prozess. Heute bekommen viele Mitbürger in der reichen Bundesrepublik unerklärlicherweise Panikattacken, wenn sie an die Flüchtlinge denken, die jetzt bei uns Schutz suchen?! Vergessen wir zu schnell, weil oder wenn es uns gut geht?

Gerfried Ferchau war der erste,
der hier aus seiner Familiengeschichte berichtete.
Er lebt heute in Wolfsburg und steuerte diesen Bericht
per FR-Blog bei (Original: –> HIER).


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