Ein medizinisches Konstrukt?

Offenbar wird, vielfach wohl aus Unwissenheit, mit dem ADHS-Medikamant Methylphenidat (Ritalin, Concerta usw.) Missbrauch getrieben. So etwa im Fall eines 13jährigen Schülers, der daraufhin eine medikamenteninduzierte Psychose entwickelte. Morgens nach Einnahme wurde ihm schwindelig, er konnte seine Beine beim Gehen nicht mehr richtig kontrollieren, begann die Augen zu drehen, reagierte apathisch auf Ansprache und bekam Halluzinationen. Im Krankenhaus wurde das Medikament sofort abgesetzt. Heute lebt er in einer Einrichtung der Jugendhilfe, besucht das Gymnasium und will von Medikamenten nichts mehr wissen.

Die Verbreitung des Medikaments hat in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen. 1993 wurden in Deutschland 34 Kilogramm verbraucht, im vergangenen Jahr erreichte der Verbrauch laut Bundesopiumstelle einen neuen Rekordwert: 1429 Kilogramm. Das macht eine Steigerung um 4203 Prozent in 14 Jahren. In der Altersgruppe der Elf- bis 14-Jährigen liegen ADHS-Mittel heute an der Spitze der Verschreibungen, offenbart die Statistik der Gmünder Ersatzkasse.

Eine Lifestyle-Droge? Schnelle Hilfe – doch nicht für das Kind, sondern für die Eltern, die ihr Kind auf diese Weise ruhigzustellen versuchen, ähnlich wie viele Kinder vor den Fernseher gesetzt werden? Offenbar kann Methylphenidat am Anfang wirklich helfen, doch dann lässt die Wirkung nach. Folge: Es wird höher dosiert, teils auf eigene Faust und mit schwerwiegenden Folgen.

ADHS, das Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom, wird immer häufiger diagnostiziert. Doch nicht jedes unaufmerksame, zappelige, Kind ist hyperaktiv bzw. hat ADHS. Vielleicht ist es nur sehr verspielt, lebendig, lebhaft und reizoffen. Daher ist die Gabe von Methylphenidat offensichtlich nicht immer tatsächlich angezeigt. Über Wirkung und Nebenwirkungen des Mittels gibt es widersprüchliche Studien und Meinungen, über die so kontrovers gestritten wird wie um die grundsätzliche Diagnose ADHS. Die „Konferenz ADHS“ etwa, ein freier Zusammenschluss von Ärzten, Biologen, Pädagogen und Psychologen, hält ADHS nur für ein „medizinisches Konstrukt“.

Christoph Ziehmer aus Essen meint dazu:

„Als Betroffener möchte ich einiges zur Diskussion um dieses schwer zu fassende Thema loswerden. Leider ist die ‚Krankheit‘ ADHS extrem komplex, und die Diskussion darüber leidet oft an Unschärfe. Offensichtlich entzündet sie sich vor allem auch an der häufigen Verschreibung des Medikaments Methylphenidat.

Ich finde es gut, kritisch damit umzugehen. Anscheinend wird es allzu schnell verschrieben. Eltern und Ärzte sollten sich vielleicht doch intensiver damit auseinandersetzen. Multimodale Bewältigungsförderung, wie von Prof. Kabat vel Job angesprochen, ist sicher der richtige Ansatz. Aber nur mit Änderungen im persönlichen Umfeld und Techniken zur Selbststeuerung scheint es mir nicht getan. Schließlich geht es ja darum, mittel- und langfristig einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Bewertet wird dies nach den üblichen Maßstäben unserer Gesellschaft. Wenn Kinder mit echtem ADHS aber grundsätzlich Probleme haben, auf ihre geistigen Ressourcen zuzugreifen, reicht das irgendwann möglicherweise nicht mehr. Unabhängig vom Intellekt haben solche Menschen gerade in unserer immer schnelllebigeren Zeit immer größere Probleme, die geforderten Leistungen zu bringen. Wenn es in der Schule schon schwierig wird, dann erst recht später in Studium und Beruf. Es handelt sich schließlich nicht nur um eine ‚einfache‘ Konzentrationsstörung, sondern es geht um das Thema Wahrnehmung. Man könnte sagen, man nimmt alles und nichts in sich auf, mit schwerwiegenden Folgen.

Es ist vollkommen richtig, dass es noch andere Störungsursachen gibt, die vor allem im familiären Bereich zu suchen sind. Die kommen bei echten ADHS-Kindern erschwerend hinzu. Und wenn manche davon reden, dass diese anderen Ursachen permanent verleugnet würden, bin ich doch sehr erstaunt. Soweit ich weiß, behauptet niemand ernsthaft, allein die Einnahme des Medikaments würde alles gut werden lassen.

Man sollte die Medikamente keinesfalls verteufeln, aber wenn es ohne geht, ist das sicher umso besser. Es ist daher die Frage, wie damit umgegangen wird. Ich sehe nicht wie Prof. Kabat vel Job, dass durch Medikation die positiven Eigenschaften im Bereich der Kreativität verloren gehen. Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Ich wäre froh, hätte es damals das Medikament gegeben. Ich habe erst mit 40 Jahren begreifen können, wogegen ich Jahrzehnte angekämpft habe.Es ist mir daher scheißegal, ob es für diese ‚Krankheit‘ einen Namen gibt und ob das wissenschaftlich abgesichert ist.

Die ‚Konferenz ADHS‘ geht mir in ihrer Kritik zu weit. In der Konsenserklärung steht, ADHS sei keine Krankheit, sondern ein Kulturprodukt. ADHS ist mit Sicherheit kein Kulturprodukt, sondern je schneller die Gesellschaft ist, umso mehr fallen solche Menschen auf, die es wohl schon immer gab. Zur Medikation steht in der Erklärung: ‚Ihre verhaltensändernde Wirkung ist auf die Wirkungsdauer beschränkt. Schulleistungen lassen sich damit nicht dauerhaft verbessern.‘ Meine Erfahrung: Das Medikament hat dazu beigetragen, mich und die Welt anders zu erleben, meine Fähigkeiten zu finden, beruflich besser zu funktionieren und ein positiveres Eigenverständnis zu finden.

Weiter ist zu lesen: ‚Der Glaube an ADHS als organische Krankheit stigmatisiert Kinder zu Unrecht als krank und hirnfunktionsgestört. Dem Selbstwertgefühl der Kinder wird damit ein schwerer Schaden zugefügt.‘ Die Störung des Selbstwertgefühls kommt eher daher, dass man ständig mit seinen eigenen Defiziten konfrontiert wird, aber bestimmt nicht von irgendeiner Diagnose.

Bevor Eltern und Ärzte entscheiden, dem Kind keine Medikamente zu geben, sollten sie vor allem mal über die Schulzeit hinaus denken. Es geht ja möglicherweise um einen ganzen Lebensweg.“

Walter Neuschitzer aus München:

Es freut mich, zu sehen, dass es immer mehr vernünftige Stimmen gibt, welche dem Missbrauch der Medikamente bei Kindern durch verantwortungslose Betreuungspersonen und schlampige Ärzte entgegentreten. Besonders gut finde ich die Erkenntnis, dass man oft spezielle Begabungen einfach per Drogenschleier unterdrückt, wenn man zwecks Ruhigstellung das Kind mit Ritalin vollpumpt. Ich bin froh, dass es in meiner Kindheit diese Mode und dieses Präparat noch nicht gab. So durchlief ich sehr erfolgreich meinen Bildungsweg und habe jetzt einen anspruchsvollen und gut bezahlten Job.“Günther Gafton aus Augsburg:

„Mittlerweile gibt es bezüglich des großen Schadens, den die ‚Medikamente‘ regelmäßig bei ihren Parienten anrichten, so viele wissenschaftliche Belege, dass die nach wie vor geltende Zulassung dieser ‚Medikamente‘ – höflich gesagt – reichlich befremdlich wirkt. Ob da nicht doch die Interessen von Big Pharma etwas zu sehr im Vordergrund stehen?“

Daher interessieren mich Ihre persönlichen Erfahrungen. Schreiben Sie doch hier mal, was Sie mit Methylphenidat erlebt haben. Wählen Sie dazu gern einen anonymisierenden Nicknamen. Ich werde Sie per Mail nach Ihrer Identität fragen (siehe Blog-Regel Nr. 7), die allerdings unter uns bleibt. Auf diese Weise können Sie hier frei schreiben.

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12 Kommentare zu “Ein medizinisches Konstrukt?

  1. Offensichtlich machen sich einige keine Vorstellung davon, wie sich manche Schüler, bei denen ADHS diagnostiziert wurde, verhalten, wenn sie keine Medikamente nehmen oder diese plötzlich absetzen. Ein Schüler, der seine Medikamente abgesetzt hatte, rastete wegen jeder Kleinigkeit aus. Er bekam richtige Wutausbrüche und warf mit Stühlen um sich, d.h. er verhielt sich unberechenbar und gefährdend für seine Mitschüler. In der Zeit, als er Medikamente nahm, benötigte er zwar auch extrem hohe Aufmerksamkeit und Zuwendung, hatte sich jedoch einigermaßen unter Kontrolle, wirkte insgesamt zufriedener und entspannter. Sicher könnte man schwere Fälle auch ohne Medikamente unterrichten, allerdings bräuchte man dafür einen Privatlehrer, der sich speziell um diese Schüler kümmert. Im normalen Regelunterricht mit 30 Schülern pro Klasse ist das nicht zu leisten.

  2. Sicherlich gibt es durchaus „echte“ ADHS-Fälle, die eine medikamentöse Behandlung und medikamentöse Einstellung nach eingehender Prüfung und erfolgter Diagnose durch Experten rechtfertigen und erforderlich machen.

    Der Einsatz eines Medikaments kann in diesen Fällen also wichtig und sinnvoll sein, den Betroffenen sowie dem sozialen Umfeld dadurch ein gewisses Maß an „normalem“ Leben und Erleben, an „normalem“ Umgang und „normalem“ Miteinander-Umgehen ermöglichen.
    Es sei hier erwähnt, dass es mit der Einnahme von Medikamenten allein aber sowieso nicht getan ist: Die Behandlung von ADHS ist wesentlich diffiziler und erfordert parallel laufende, zusätzliche Behandlungsschritte.

    Fakt ist allerdings leider auch, dass man heutzutage mitunter viel zu voreilig und damit leichtfertig die (vermeintliche) Diagnose ADHS im Falle von Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen, meist gepaart mit erheblichen fein- und/oder grobmotorischen Defiziten und anderen, daraus reslutierenden Auffälligkeiten, stellt: „Der/die hat doch bestimmt ADHS!“

    Andersherum gesagt: Solche Auffälligkeiten und Störungen sind nicht immer Symptome und Auswirkungen von ADHS!

    Deshalb ist eine sorgfältige und detaillierte Untersuchung und Feststellung durch kompetente und erfahrene Diagnostiker ein wichtiger und wesentlicher Faktor, und das bereits beim bloßen „Verdacht“ auf ADHS.

    Möglicherweise begründen sich nämlich „ADHS-ähnliche“ Störungen und Auffälligkeiten in ganz anderen Bereichen, was demzufolge auch eine völlig andere Behandlung erforderlich machen würde.

    Otti

  3. Es ist schon ein wenig ein Fluch mit der Aufklärung (Forschung): kaum ist eine Krankheit, Erscheinung u.dgl. halbwegs erforscht, zumindest aber bekannt, gibt man ihr einen Namen und steckt sie in eine Schublade: So, nun tun wir was dagegen!
    Wer aber hat das grösste Interesse an den Therapien? Natürlich die Pharma-Industrie. Ich will diesen Wirtschaftszweig nicht verteufeln, er ist absolut notwendig, aber alle Beteiligten (Eltern, Ärzte, Apotheker und auch die Pharma-Industrie) müssen sich bewusst machen, dass Medikamente immer zweite Wahl sind. Zuvor müssen erst einmal alle anderen (Lebens-) Umstände ausgelotet werden.
    Allerdings bin auch ich der Meinung, dass es heutzutage zu viele Ärzte und Eltern gibt, die allzu gern bereit sind, eine bestehende Schublade zu verwenden: da braucht man nicht so sehr selbst nachzudenken.

  4. Kinder, die diese Krankheit WIRKLICH haben, brauchen eventuell Medikamente.
    Ein Kind, das NIE, aber auch wirklich NIE zur Ruhe kommt, muss geholfen bekommen.

    Aber oftmals, leider viel zu oft, wollen Eltern lieber eine Diagnose, die mit Medikamenten behandelt werden kann als die Einsicht, dass ihr Kind eventuell etwas lebhaft, mitunter auch etwas verhaltensauffällig ist und man sich anders als pharmazeutisch mit dem Kind auseinandersetzen muss.

  5. ADHS beginnt bei der Geburt bis in das Teanager Alter und wird oft aus Angst von den Eltern mit einer zu Hohen Dosis Medikamente behandelt.
    Aus Erfahrung mit 24 – 42 jährigen ADHS kann
    ich sagen: „Es treten im späteren Leben Persönlichkeitsspaltende Anzeichen auf. Ähnlich dem Burn Out Syndrom. Kontinuirliche
    Langzeit-Störungen auf das physische Gleichgewicht, Beruf, Familiengründung, Sport und Hobbies. Das Gefühl zur eigenen Person dem ICH geht verloren.

  6. Wir haben ein Kind mit ADHS im näheren Umfeld und erst als wir damit konfrontiert wurden habe ich zurückliegend den Ausdruck „Zappelpfillip“wieder neu deuten können.
    Kinder die in den 60er Jahren dieses Verhalten hatten wurden schnell als Aussenseiter gebranntmarkt.
    Kein Mensch hat sich damit auseinandergesetzt.
    Für die damaligen Lehrer waren diese Kinder nur Störenfriede die in die Ecke mußten oder anderweitig bestraft wurden.
    Der Junge von dem ich eingangs geschrieben habe hatte die gleichen Syntome und ein sehr guter Arzt hat diesen Mangel festgestellt.
    Kein Tag zu früh ,denn dieses Kind hatte schon enorme Probleme mit seinem Umfeld und wird heute erfolgreich mit Medikamenten eingestellt.
    Wie viel sind seit damals auf der Strecke geblieben ?

  7. Was mich bei diesen „Krankheiten“ immer wundert ist das sie früher scheinbar nie aufgetreten sind.
    Woher kommen die Probleme der Kinder?

    Vielleicht sollte man mal nach den Ursachen forschen statt nur zur Pille zu greifen

  8. Ralph;Früher nannte man diese Kinder Zappelpfillip.
    Es fehlt so wie ich weis ein gewisser Botenstoff der durch Medikamente ergänzt werden muß um diese Grobmotorik in seine Grenzen zu halten.
    Das hat es schon immer gegeben wurde aber nicht so erkannt bzw verkannt.
    Diese Kinder wurden früher sehr oft ausgegrenzt weil sie nicht ruhig zu stellen waren,weder mit Strafe oder sonstige Drohungen.
    Es kann sich aber in der Pupertät zum guten wenden,oder muß lebenslang mit Medikamenten ,die ständig neu eingestellt werden müssen behandelt werden.
    Kein leichtes Leben für die Kinder.
    So habe ich es erfahren,aber sicher gibt es ergänzendes zu schreiben.

  9. Auch unsere Tochter hat ads und ohne Medikamente würden wir im Chaos versinken. Wer selber nicht betroffen ist und nach 11 Jahren mit einem liebenswerten, aber furchtbar anstrengenden Kind nervlich „auf dem Zahnfleisch“ geht, hat gut reden von einer Modekrankheit zu schwadronieren.
    Mit meiner heutigen Kenntnis über die Krankheit kann ich sagen, dass viele Mitglieder in meiner Familie sie (ansatzweise) haben und hatten. Früher waren aber die äußeren Bedingungen für die Betroffenen günstiger (reizarme Umgebung, Routinen, gleichförmiger Schulunterricht, keine Reizüberflutung, späte Selbständigkeit etc.).
    Die (wenn auch rudimentären) Kenntnisse über die anere Art der Wahrnehmung und Reizverarbeitung erleichtert ein wenig den Umgang mit den Kindern.
    Oft könnte ich abe schier verzweifeln angesichts der Sorge um mein Kind und seine Zukunft und der fast unendlichen Geduld un nervenstärke, die man im Umgang mit ihm aufbringen muss.

  10. Zu 9:
    Hat Ihre Tochter ADS oder ADHS?

    Man muss bei diesen Begrifflichkeiten meiner Ansicht nach nämlich unterscheiden, und das sowohl in der Diagnose, in der Symptomatik wie auch in der Behandlung!

    Kinder mit ADS sind nämlich eigentlich nicht hyperaktiv – und für die Hyperaktivität steht das „H“ in ADHS!

    ADS hingegen beinhaltet also schon im Wortlaut nicht die Begrifflichkeit Hyperaktivität, d.h. es handelt sich meines Wissens nach bei der Feststellung von ADS mitunter um eher introvertierte Kinder bzw. um Kinder, die eben eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne auffällige Hyperaktivität haben.

    Da stellt sich mir dann die Frage: Werden Kinder mit ADS etwa auch mit Ritalin behandelt?

    Otti

  11. Kommentar zu 10.
    Es gibt wie richtig bemerkt ADS und ADHS, aber auch sämtliche Mischungen und Übergangsformen dazwischen. Die Symptomatik (mit oft einhergehenden weiteren Störungen) ist so vielfältig und individuell wie die Kinder. Ritalin hilft bei beiden Formen.

  12. Die Grenze ist doch klar: Nur wo sich die Menschen selbst nicht mehr aushalten, sind Medikamente angezeigt,bei subjektiv nicht aushaltbarem Leiden und Selbst- oder Fremdgefährdung. Nur dann. Ansonsten muß ein Hilfesystem bereitstehen, das die Last auf viele Schultern verteilt, um das Problem für die Betroffenen und die Helfer tragbar zu halten.

    Ein Zwischenschritt ist die medikamentöse Intervention, um Zeit und Möglichkeiten zu gewinnen, mit dem Leiden umzugehen. Dieser Zwischenschritt muß methodisch, medizinisch und zeitlich eng begrenzt und bewußt angewendet werden.

    Krankheit ist nur eine andere Form zu leben, die jeweils ein anderes Umfeld verlangt, nur eine akute Lebensbedrohung muß akut unterbunden werden.

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