Die Gründung des Club Voltaire in Hanau

Frankfurter Rundschau Projekt

Die Gründung des Club Voltaire in Hanau

Von Tom Meusert

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Der 2. Juni 1967 war schon vorbei. Oder war es doch noch kurz davor?
Es war in jedem Fall das Jahr 1967, in dem sich im damaligen Haus des Handwerks Hanauer Bürger verschiedener Altersstufen in einem Raum trafen, um der Stadt Hanau einen „Club Voltaire“ zu bescheren.
Die älteren Semester an diesem Abend waren Mitglieder der Humanistischen Union, einer unabhängigen Bürgerrechtsorganisation, in der sich Linke und Liberale treffen konnten und wollten. Einer von den dann doch nicht ganz so alten Älteren hatte den „Club Voltaire“ in Frankfurt kennen gelernt. Vielleicht auch in Stuttgart. Der Name stand, und steht in Frankfurt auch heute noch, für einen Ort, an dem sich politisch und literarisch interessierte Menschen begegnen können. Dazu gibt und gab es auch immer geistiges Getränk. Früher auch Tabak.

„Warum soll es so etwas nicht auch in Hanau geben?“, mag sich der Kundschafter der Humanistischen Union gedacht haben, sprach es aus und im Nu waren alle begeistert. Das wollten alle auch. „Wir bräuchten dafür allerdings auch noch ein paar junge Leute!“ war der nächste klare Gedanke. Der Direktor der Hohen Landesschule kannte junge Leute. Aus einer Oberstufenklasse des gerade von ihm erfundenen „Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Zweiges“ brachte er zwei Schüler mit. Von der SPD kam ein freundlicher älterer Jungsozialist. Älter im Verhältnis zu mir. Er war Mitte 20 und hatte eine Tätigkeit beim Amt, unter der ich mir damals nur relativ wenig vorstellen konnte. Er saß hinter einem Schreibtisch und man konnte gelegentlich auch tagsüber bei ihm reinschauen.
Zwei Vertreter des Frankfurter Original-Clubs standen an diesem Abend im Haus des Handwerks freundlichst für Fragen zur Verfügung. Worüber gesprochen wurde weiß ich nicht mehr, aber am Ende des Abends war der Club Voltaire in Hanau gegründet. Ich war mit meinen „nicht ganz 16“ auch in dem Raum, weil mein Vater Mitglied in der Humanistischen Union war. Er wollte auch einen „Club Voltaire“. Er hatte mir davon erzählt und er nahm mich mit auf diesen Gründungsabend. So konnte ich den Anfang und das Ende des Club Voltaire miterleben.
Schnell wurde für den Club ein Raum gefunden. In einem Keller. Gemeinsam mit dem Ableger einer Jugendbehörde. Immer Freitag, Samstag, Sonntag ab 19 Uhr. Bis 22 Uhr. Vor dem Verlassen musste noch aufgeräumt werden. Eine echt aufregende Location.

Meusert 1970 2Zum Glück fiel für den Club Voltaire ein neues Domizil vom Himmel. Stadtrat Ott, der auch für die Jugend zuständig war und der auch Kontakte zu den Mitgliedern der Humanistischen Union hatte, machte auf ein leerstehendes Gebäude aufmerksam. Es handelte sich um ein dauerhaftes Nachkriegsprovisorium, das gerade seinen Daseinsgrund verloren hatte. Auf dem Keller einer im Krieg zerstörten Villa war in der Nussallee, –beim Gloria Kino, gegenüber vom Altenheim,– eine Baracke für das Deutsche Rote Kreuz errichtet worden. Stabil. Sogar mit der Andeutung eines richtigen Daches. Ein kleiner Vorgarten gehörte auch dazu. Das „Rote Kreuz“ hatte jetzt einen Neubau. Wir sollten das Haus bekommen. Der Stadtrat gab uns ein Haus ohne Aufsicht.

Wir konnten den Keller verlassen und bezogen den neuen Platz. Von der Brauerei Schlappeseppl erschien eine Kneipeneinrichtung. Tresen, Tische, Stühle, Aschenbecher, Gläser. Einfach alles. Auch Getränke. Von der Firma CWS erschien ein Vertreter und schon hatten wir Handtuchrollenhalter mit Austauschservice auf der Toilette.
Im Erdgeschoss gab es rechts vom Eingang einen großen Raum. Das sollte der Veranstaltungsraum werden. Gegenüber vom Eingang gab es ein breiteres und ein schmaleres Büro. Das schmalere hatte eine Couch. Am schmaleren Büro vorbei kam man nach rechts zum Klo und nach links zur Kellertreppe. Unten gab es die Kneipe und das Getränkelager. Am Getränkelager befand sich ein Schloss, über dessen Sinn häufige und heftige Debatten geführt wurden. Viele dieser Debatten endeten mit einem „Sozialisierungsvotum“ und das Schloss wurde geknackt. Die Schlossverwalter fanden das meist nicht komisch aber egal: es gab freie Getränke. Gelegentlich auch mit dem Schlossverwalter.
Die „Military Police“ umstellte das Areal bald nach unserem Einzug. Sie waren auf der Suche nach Fahnenflüchtigen Soldaten. Wir waren stolz auf den Besuch. In diesem Zusammenhang in Verdacht zu geraten war Ehrensache.
Günter Wallraff kam in einer kalten Nacht zu einer Diskussion. Man nannte das noch nicht Lesung.
Während der Notstandsgesetzgebung war der Club Voltaire ein Hort der Revolte. Von hier aus startete die gescheiterte Blockade der Hanauer Verkehrsbetriebe. Hier traf man sich nach den Schulstreiks. Aus Frankfurt reisten waschechte Studenten vom SDS an. Die Naturfreundejugend erschien und von der SPD kamen die Falken. Die Arbeiterjugend von der frommen DKP kam auch immer wieder mal vorbei. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke waren wir fassungslos und wütend, aber wir waren sicher, dass die Revolution nicht an Bleivergiftung stirbt.
Die coolen Musiker von „Orange Peel“ schauten mal rein und ehe man sich dreimal umgedreht hatte, war die Nachricht vom „Club Voltaire in Hanau“ von der Buschtrommel in die Welt getragen. Auch an den Autobahnauffahrten wurde die Adresse gehandelt. Besuch aus aller Welt kam nach Hanau. Es soll neben dem Alkohol auch weitere Drogen gegeben haben. Zu essen gab es dünne Würstchen aus der Dose mit Toastbrot. Gelegentlich Salzgebäck. Pöschls Schnupftabak wurde geschnupft und von manchem für etwas anderes gehalten.

Von den Gründungsvätern ließ sich niemand mehr blicken. Bis auf einen. Jeden Dienstag kam er in den Keller, trank Bier mit uns, hatte Zigaretten dabei und konnte seinen und andere Deckel bezahlen. Er war Rechtsanwalt und der einzige „echte“ Erwachsene in unserem Reich.
Bei so viel Leben geriet der „Politisch-Literarische“ Aspekt arg unter Druck.
Oben rechts von der Kellertreppe gab es einen extrem kleinen schmalen Raum. Statt der Couch gab es hier nur eine Matratze. Ein angehender Goldschmied hat eine Zeitlang mit seinem wunderbaren Hund im großen Büro gelebt. Meine Angebetete setzte sich in der Nussallee auf den Lenker meines Fahrrades und ließ sich von mir nach Hause fahren.
Die Nächte waren lang und die Kneipen schlossen früh in Hanau. Der Club Voltaire kannte keine Schließungszeit. Ich war um 22Uhr zu Hause und um 23 Uhr wieder zum Fenster raus. Die amerikanischen Soldaten entdeckten in der Nussallee einen coolen Platz für ihre langen Payday- Nächte. Die Nachtclubbesitzer waren nicht amüsiert.
Die Leitung der „Karl-Rehbein-Schule“ hatte Beschwerden besorgter Eltern vorliegen. „Was ist das für ein Ort, an dem unsere Töchter da verkehren?“ wollten die wissen. Von Präservativen im Vorgarten wurde aus dunkler Quelle berichtet und gemunkelt. Von Gebrauchten gar!
Eine Krisensitzung wurde einberufen. Ich war nicht dabei, aber überliefert ist ein Zitat von Herrn Ott. Angesprochen auf das gebrauchte Präservativ, das im Vorgarten des Club Voltaire gefunden worden sein sollte, entgegnete Herr Ott:„ Ei, da missese ma am Mondaach de Mojn die Maawiss langlaafe. Da missese sich Gummistiwwel aaziehe, soviel liehe da rum.“ Ein großer Mann sprach ein wahres Wort gelassen aus.
Zum einjährigen Jubiläum erschien der Bürgermeister persönlich. Das Haus war proppenvoll. Der Bürgermeister brachte einen Kasten Bier mit, der mit Getöse die Kellertreppe runterfiel. Ob der hohe Besuch bis in den Keller gekommen ist, weiß ich nicht mehr.
Auf dem Schreibtisch stapelten sich zu dieser Zeit schon unbezahlte Rechnungen. Der CWS –Vertreter wurde unfreundlich. Der Getränkelieferant wurde kleinlich und gab ohne Bargeld nix mehr raus. Wahrscheinlich funktionierte auch das Telefon nicht mehr. Irgendwann kurz danach war das Gebäude nicht mehr zu betreten.
Zwei Jahre noch hatte der einzige ältere Förderer des „Club Voltaire“, der Rechtsanwalt, vergnügliche juristische Auseinandersetzungen mit CWS. Die Verträge waren allesamt von nicht rechtsfähigen Jugendlichen unterschrieben. Die bei Schlappeseppl auch. Es waren selige Zeiten von Handschlaggeschäften. Es ging meistens gut und manchmal schlecht. Wirklich dramatisch waren die Schulden nicht. Aber für den Club waren sie unbezahlbar.
Es war eine gute Zeit in der Nussallee.
Ein Teil der Jugend zog nach der Schließung wieder in einen Keller. An der Wilhelmsbrücke. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Meusert heuteDer Autor

Tom Meusert, geboren 1951 in Hanau. Abitur 1971 in Hanau. 1971 -1974 1. Staatsexamen für Lehramt Grundschule in Frankfurt. 1974 -1979 Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten. 1979-2019 Familiengründung in der Wetterau, zwei Töchter, einige Jahre als Schreiner, viele Jahre Florist und Friedhofsgärtner.

Bild: privat

 

 

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