Mit dem Totschlagargument „Wettbewerbsfähigkeit“ lässt sich alles begründen

Sie lehnen einen gesetzlichen Mindestlohn ab, weil er Jobs koste. Sie sind gegen Vermögensteuern oder höhere Einkommensteuern, da sie die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands minderten. Ein Problem mit der Einkommensverteilung in Deutschland gebe es nicht und auch keinen finanziellen Spielraum zur Umverteilung. Und so weiter. Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Haushaltsdisziplin – es ist das altbekannte, muffige Mantra des Neoliberalismus, der einem aus dem Gutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen in die Nase steigt. Wenn ich diese Leute sehe, muss ich immer an Schamanen denken. Natürlich halten sie die Wirtschaftswissenschaften tatsächlich für harte Wissenschaften. Tatsächlich handelt es sich um eine Art von Theologie, die festzulegen versucht, was wir einem Götzen, nämlich den Märkten, opfern müssen.

Doch diesmal gibt’s mehr Kritik an diesen sonderbaren Weisen als sonst. „Betonwerk alten Denkens“ wird ihr Gutachten im Gewerkschaftslager genannt. Aus dem Institut Arbeit und Qualifikation hört man, die generelle Ablehnung des Mindestlohnes gebe nicht den aktuellen Stand der Forschung wieder. Auch Bert Rürup, selbst einst „Wirtschaftsweiser“, findet das neue Gutachten „nicht unproblematisch“. Und siehe da, einer von ihnen – derjenige, der schon immer die vernünftigsten Positionen unter diesen Leuten vertreten hat, nämlich Peter Bofinger – schert aus der Reihe und hat nichts gegen einen „angemessen ausgestalteten“ Mindestlohn und wirbt für eine Politik zur Korrektur der Einkommensungleichheit, da sie ein „Beitrag zu stabilem Wachstum“ sei. Wir haben also derzeit einen Streit der Weisen.

Die FR-Leser haben dazu eine klare Meinung. Reinhold Hinzmann aus Niederselters:

„Alle Jahre wieder dürfen wir uns am geballten Sachverstand des „Gutachtens zur gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftsentwicklung“ erbauen. Nur: Wird das Gutachten auf die gleiche Methode erstellt, mit der einige Politiker promoviert haben? Copy and Paste? Jedes Jahr wird der gleiche Unfug publiziert. Der Eindruck drängt sich auf.
Die Löhne sind zu hoch, die Steuern erdrücken die Wirtschaft, der Mindestlohn zerstört Arbeitsplätze, Menschen, die am Arbeitsmarkt nur kleine Chancen haben, verlieren diese. Ungleichheit gibt es nicht und so weiter und so weiter. Ich habe den Eindruck, es werden nicht die tatsächlichen Verhältnisse dargestellt, sondern die Wunschvorstellungen der deutschen Arbeitgeberverbände und deren politischen Interessenvertretern.
Auch wenn es in der Mehrzahl der europäischen Länder inzwischen den gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn gibt, sogar in der Schweiz dürfen bestimmte Lohnuntergrenzen nicht unterschritten werden, wird immer wieder behauptet, der Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze. Auf Belege für diese Behauptung verzichten die „Wirtschaftsweisen“ großzügig.
Und der Klassiker des „überzogenen Kündigungsschutzes darf auch nicht fehlen. Dabei hat ein Arbeitnehmer doch in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung überhaupt keinen Kündigungsschutz, er kann ohne Angaben von Gründen mit sehr kurzen Fristen gekündigt werden. Und Leiharbeiter, deren Zahl immer mehr zunimmt, haben ebenfalls keine Chance, ihre Kündigung gerichtlich überprüfen zu lassen. Ist es nicht tatsächlich so, dass seriöse Unternehmen, die ihre Beschäftigten anständig behandeln und bezahlen, immer öfter Opfer mafiöser Leiharbeitsfirmen werden, die die Menschen wie Sklaven behandeln? Und wie passt es zusammen, wenn auf der einen Seite unsere Infrastruktur immer mehr kaputt geht, siehe Straßen, Schulen usw. aber die Steuern seien zu hoch? Wer bitte soll denn die öffentlichen Ausgaben finanzieren? Die Lohnabhängigen alleine, damit die Profite noch schneller steigen?
Trotz Wirtschaftskrise sind die Einkünfte aus Unternehmertätigkeit um über zwölf Prozent gestiegen. Auf der anderen Seite ist der Lohnanteil am Bruttoinlands-produkt gesunken. Aber mit dem Totschlagargument „Wettbewerbsfähigkeit“ lässt sich alles begründen, auch wenn es nicht stimmt. Ist die Wirtschaft in den Zeiten Helmut Kohls kaputt gegangen, weil die Steuern 53 Prozent betrugen? Ich finde, es wird höchste Zeit, dass auch unsere Superreichen sich endlich wieder an den gesellschaftlichen Kosten beteiligen. In unsererVerfassung heißt es: „Eigentum verpflichtet.“ Aber manchmal habe ich den Eindruck, Menschen, die von Hartz IV leben müssen, seien asozial und die superreichen Steuerhinterzieher die tollen Typen.
Und mal fantasiert: Die große Koalition senkt die Unternehmens-Steuern auf ein Prozent. Was würde passieren? Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände würde erklären: „Ein Schritt in die richtige Richtung, der natürlich noch lange nicht ausreichend ist. Ich denke, es muss Schluss sein, dass der Steuerzahler diesen neoliberalen Unsinn finanziert. Sollen doch die zahlen, die von dieser Ideologie profitieren.“

Günter Wagner aus Buchholz:

„Es überrascht mich überhaupt nicht, dass die Weisen sich zutrauen, eine Wirtschaftsentwicklung von derartiger Komplexität bis zu einzelnen Parametern wie z.B. Mindestlohn herunterzubrechen. Diese Selbstüberschätzung scheint in den wirtschaftswissenschaftlichen Bereichen leider gang und gäbe zu sein. Der Faktor „Motivation von Mitarbeitern“ oder deren „Identifikation mit dem Unternehmen“ spielt in dem Gutachten offenbar keine Rolle, obwohl die Wirtschaft von diesem Faktor (noch) erheblich profitiert. Da greife ich gerne die Äußerung von Herrn Rürup auf: „Nur keiner dieser Ökonomen weiß, was das Allgemeinwohl ist oder was die deutsche Bevölkerung wirklich will“.“

Wilfried Müller aus Hamburg:

„In Sachen Wirtschaft kann man der Mehrzahl der Möchtegerne nur empfehlen, sich mal wieder die Grundsätze der Buchhaltung vorzunehmen und die volkswirtschaftliche Saldenmechanik. Bei Buchhaltung und Bilanzierung gibt es nämlich immer zwei per def. gleiche Seiten; wenn man die Ausgaben in einem Sektor kürzt, dann werden die Einnahmen im andren Sektor kleiner. Wenn alle Geldschulden (wie immer abgegrenzt) getilgt sind, dann gibt es auch keine Geldvermögen mehr, und die Wirtschaft ist kollabiert. Und bei Ausgabenkürzung kriegt der Ausgabenmultiplikator ein negatives Vorzeichen; bei schlechter Konjunkturlage sorgt das zusammen mit den ebenfalls greifenden automatischen Stabilisatoren dafür, dass mit der Streichung staatlicher Ausgaben die Staatsschulden zuverlässig steigen, wie man nicht nur in der EU beobachten kann. Aber man wird wohl bei solchen „Fachleuten“ nicht die Überschrift erwarten können: Staatsschulden steigen wegen Schuldenbremse und Fiskalpakt.
Dass diese Leute nichts vom Primat der Politik halten, auch nichts von demokratischen Verhältnissen, weil sich die Politik dann in die Wirtschaft einmischt, ergibt sich aus dem Aberglauben, dass der Markt schon alles bestens regelt: dabei können Märkte überhaupt nur funktionieren, wenn von der Politik alles Relevante für Gesellschaft und Wirtschaft gesetzlich geregelt ist und ein starker Staat diese Regelungen auch durchsetzt.
Und von der staatlichen Theorie des Geldes, seit über 100 Jahren bekannt, haben diese Weisen aus dem finsteren Mittelalter auch noch nichts wahrgenommen; sonst würden sie sich nämlich mal ernsthaft Gedanken machen über die logisch abgeleitete Feststellung von Modern Monetary Theory: Ein souveräner Staat mit eigener Währung hat nie Schwierigkeiten bei der Finanzierung seiner Ausgaben und Aufgaben, sofern er sich nicht in fremder Währung verschuldet: Als Herausgeber der Währung durch die staatliche Institution Zentralbank ist er nämlich im Prinzip nicht auf Einnahmen durch Steuern, Abgaben, Schuldverschreibungen angewiesen, diese dienen vielmehr politischen Zielen wie der Beeinflussung wirtschaftlicher Abläufe, der Korrektur von Marktergebnissen usw. Solche Ansichten sind für unsere Oberwächter herkömmlichen Aberglaubens unerträglich und unbegreiflich, für andere intelligente Leute sicher stark gewöhnungsbedürftig; aber berechtigt das dazu, jede Diskussion über diesen Ansatz zu verweigern?
PS. Private debt is a debt, but government debt is financial wealth to the private sector (jedenfalls bei außenwirtschaftlichem Gleichgewicht; R. Rway, einer der Pioniere von MMT).“

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3 Kommentare zu “Mit dem Totschlagargument „Wettbewerbsfähigkeit“ lässt sich alles begründen

  1. Der gesetzliche Auftrag zu diesem Gutachten besteht darin, alle Varianten aufzuzählen, auf die eher doofen (mal flapsig gesagt) und die Konsequenzen zu formulieren, wenn diese Variante gewählt werden würde.

    Das Problem ist wie immer, was die Politiker oder andere interessierte Gruppen aus diesem Gutachten dann zitieren, nämlich nur den Teil, der ihnen genehm ist.

  2. Neulich hab ich einen TV-Bericht gesehen über die Abschaffung der Kinderarbeit bei uns am Ende des 19.Jahrhunderts und die Reaktionen der Wirtschaftsvertreter darauf -es darf geraten werden , welche Argumente da so ins Feld geführt wurden…

    Verteilung ist nicht alles , aber es ist offensichtlich , daß sie schon für sich genommen ein positiver Wirtschaftsfaktos ist . und nicht das Böse schlechthin , wie von neoliberaler Seite häufig in den Raum gestellt.

    Intressant , diese Argumentation , daß höhere Löhne Arbeitsplätze kosten würden , da fällt Einem spontan ein „na und?“ , oder ist jeder Drecksjob in den Augen dieser Leute erhaltenswert?

  3. Es war noch nie eine besondere Schwierigkeit, nicht zuletzt den fünf Wirtschaftsweisen vorzuwerfen, dass sie jenseits aller Vernunft beliebigen Dogmen nachhängen. Sehr aufwändig wird es allerdings dann, wenn der Nachweis dafür erbracht werden muss. Weil bislang ein solcher Beleg nach wie vor aussteht, ergibt es somit keinen Sinn, sich zu besagtem Vorhalt zu versteigen.

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