Wir leben nicht nur in Zeiten des Coronavirus, sondern auch in Zeiten, in denen wir uns fragen müssen und tatsächlich auch immer wieder fragen, wie wir mit den Rechtsextremen umgehen sollen, die den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren scheinen. Dabei haben sie eigentlich nur ein Thema. Mit dem spielen sie sich allerdings recht effizient immer wieder in den Vordergrund unserer Wahrnehmung,
Wsa bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn der Hessische Verwaltungsgerichtshof eine Disziplinarmaßnahme gegen einen Achtklässler zurücknimmt, der sich an „Sieg-heil!“-Rufen beteiligt, eine Mitschülerin zum Suizid aufgefordert hatte und darum in eine Parallelklasse versetzt wurde? Politiker und Gewerkschafter äußerten ihren Unmut über dieses Urteil. Doch vielleicht hat der VGH Augenmaß bewiesen? Vielleicht wollte er lediglich eine Jugendsünde nicht zu hart bestrafen? Gerade weil jetzt alle von klarer Kante gegen Rechts sprechen? Aber kann die Aufforderung zum Suizid noch als Jugendsünde eines Pubertierenden durchgehen? Ist das nicht in jedem Fall ein „Fehlverhalten“, das Konsequenzen haben sollte? Hat der Gerichtshof also zu weich geurteilt?
Ich schäme mich für diese Rechtsprechung
Gerade ist bei der eindrucksvollen Trauerfeier in Hanau von allen Seiten betont worden, dass man auf dem rechten Auge nicht blind sein dürfe, da wird ein ‚mildes‘ Urteil öffentlich. Das ist ein weiterer Beweis dafür, das die Judikative immer noch von rechter Gesinnung geprägt ist. Zahllose Urteile untermauern den Eindruck, dass dort Richter ‚von gestern‘ sitzen (womit sie nicht alleine wären, siehe Polizei, Bundeswehr und DFV- Deutscher Feuerwehr Verband). Offensichtlich hört man bei Gericht nicht die mantamäßig wiederholten Mahnungen, dass etwas getan werden müsse gegen rechten Terror, Hass, Rassismus und NS-Gedankengut. Nach meinem Verständnis muss neben neben der Legislative und Exekutive auch die Judikative ‚liefern‘ und nicht verdrängen. Letzteres tut sie – Juristen, Rechtsanwälte und Richter finden immer Lösungen – mit hahnebüchenen Auslegungen und geschickter Wortwahl, um nur ja nicht doch mal durchzugreifen. Dem jungen Nazi hätte eine Versetzung in die Parallelklasse nicht geschadet. Jetzt aber kann er mit höchstrichterlicher Billigung, ja Anerkennung, seine Unwesen (bis hin zum Suizidaufruf!) weitertreiben. Die gestrigen Redner, des Staates, der Trauergemeinde, werden die Welt nicht verstehen. Ich schäme mich für diese deutsche Rechtsprechung.
Ulrich Voepel, Frankfurt
Wie sollen Schulen Kante gegen Rechts zeigen?
Die Spannweite der FR von heute ist beachtlich. Vorne drei Seiten voller Mahnung vor Rechtsterrorismus, Ausgrenzung und Rassismus und auf der letzten Seite erklärt der VGH in Kassel, dass das ja alles nicht so schlimm ist. Jedenfalls, dass das Verhalten des 13-jährigen Schülers nicht sanktionswürdig ist. Die Maßnahme, die der Schulleiter angeordnet hat, ist eine eher milde Maßnahme, Stufe 4 von 7, aus dem Katalog der Päd. und Ordnungsmaßnahmen des Hessischen Schulgesetzes.
Wie sollen Schulen klare Kante gegen Rechts zeigen, wenn die Super-Pädagogen des VGH jede Maßnahme als „zu hart“ bezeichnen und aufheben?
Dieses Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller engagierten Lehrerinnen und Lehrer und entspricht in seiner Qualität dem Urteil des Berliner Landgerichts in Sachen Beleidigung Renate Künast.
Herbert G. Just, Wiesbaden
Ein Skandalurteil
Dieser Bericht hat mich sehr erschreckt, gerade vor dem Hintergrund der Vorkommnisse in Hanau und Volkmarsen. Das Verhalten des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes ist ein Skandal, genauso wie die Taktik des Verteidigers, das nazistische Verhalten des Schülers als HIP-HOP Figur abzu- tun. Warum wurde das Urteil nicht veröffentlicht, obwohl der Schulleiter nach meinem Rechtsverständnis noch zu milde gehandelt hat, er hätte den Schüler von der Schule weisen müssen. Es ist doch dem betroffenen Mädchen nicht zuzumuten, auch noch auf dem Schul-hof dem Jungen zu begegnen, der sie zum Selbstmord aufgefordert hatte.
Das Verhalten der Justiz auf oberster Ebene zeigt, wie blind man dort immer noch auf dem rechten Auge ist. Diese lasche Handhabung ist der Nährboden für den Rechtsextremismus.
Wenn es in den Schülerkreisen bekannt ist, dass in einer Whatsapp-Gruppe an der Schule nationalsozialistische Inhalte ausgetauscht wurden und werden, sollte sich die Justiz die Eltern vornehmen und nachforschen, woher die Jugendlich das Material haben und sich gegen-seitig damit hochschaukeln zu Gesinnungstätern, wie die Suizidaufforderung durch den 13-jährigen Schüler beweist. Mit pubertärem Gehabe hat das wirklich nichts zu tun.
Der Schulleiter hat vollkommen Recht, wenn er fragt, wie es die Schulen schaffen sollen, den Schülern eine klare Linie beizubringen gegen jegliche extreme Gesinnung, egal ob rechts- oder linksextrem.
Karl-Wolfgang Kaiser, Frankfurt
Neue Gläser für das rechte Auge
Ich dachte, ich lese nicht richtig, was der hessische Verwaltungsgerichtshof entschieden hat. Vor dem Hintergrund der schlimmen Hanauer Geschehnisse ist das genau ein Beispiel dafür, wie lasch mit rechtsradikalen Vorfällen umgegangen wird.
Auch wenn der Junge erst 13 Jahre alt ist, gehört er sanktioniert. Hier hat das Goethe-Gymnasium in Bensheim vollkommen richtig gehandelt, die Bestätigung durch das Verwaltungsgericht Darmstadt ist rechtens. Eine Versetzung in eine andere Klasse ist ja noch kein Drama, aber ein wichtiges Zeichen, nicht zuletzt deshalb, um den Mobber von seinem Opfer zu separieren.
Von der Schule wird neben der Vermittlung von Bildung auch Erziehung erwartet. In letztem Punkt ist die Erwartung der Eltern sehr hoch, aber wehe, der Prinz oder die Prinzessin fühlt sich schlecht behandelt oder bekommt eine schlechte Note, dann wird gleich mit einem Anwalt aufmarschiert.
Die verantwortlichen Richter des hessischen Verwaltungsgerichtshofs brauchen dringend Nachhilfe und neue Gläser für das rechte Auge. Hier können die Politiker, die am Mittwoch in Hanau so warm und gefühlvoll gesprochen haben, gleich mal anfangen, die Forderungen „wir wollen Taten sehen“ umzusetzen.
Sonja Biesdorf, Frankfurt
Auf dem Schulhof wird dann weitergemobbt
Was denn nun?! Soll jetzt auch noch der Rassismus zwischen der Türkei und den Kurden wegen Hanau entfacht erden? Wegen mangelnder Feinfühligkeit und evtl. auch mangelnder Zivilcourage seitens der hessischen Staatskanzlei? Immerhin scheint das Zusammenleben in Hanau ja zu klappen, wie man den Worten der Sprecherin der Stadt Hanau entnehmen könnte.
Zum Urteil: Das Urteil ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen. Ein 13-Jähriger weiss schon ziemlich genau, was er sagt. Es stellt sich auch die Frage, wer das Verfahren angestrengt hat. Waren es die Eltern, ist er weiterhin unter deren „rechtem“ Einfluss. Was aber gar nicht nachvollziehbar ist, dass sein Sieg der gemobbten Schülerin weiterhin zugemutet wird! Da ist eine Versetzung in die Parallelklasse eine vergleichsweise milde Disziplinmassnahme. Denn auf dem Schulhof kann er ja weiter mobben. Unglaublich.
Ilona Horn, Marburg
Das falsche Zeichen
Da hat nun der VGH genau das falsche Zeichen gesetzt. Und ganz schlimm: Meines Erachtens wurden bei der Interessenabwägung die Persönlichkeitsrechte des Täters über die des Opfers gestellt.
Bei der Diskussion werden faschistische Äußerungen in den Vordergrund gestellt. Viel schlimmer finde ich die Drangsalierung einer Mitschülerin. Wie groß wäre die „Betroffenheit“, würde das gleichaltige Mobbing-Opfer der Aufforderung, Suizid zu begehen nachkommen! Zum Schutz des Opfers vermisse ich jegliche Aussagen. Eine deutliche räumliche Trennung wäre sinnvoll, da sehe ich eigentlich eine Versetzung des Täters in eine andere Schule als zielführende Opferschutz-Maßnahme an.
Gegen die rechts-extremistische Haltung könnten erzieherische Maßnahmen helfen. Zum Beispiel Gespräche mit Zeitzeugen.
Auf jeden Fall ist für mich klar: Sowohl gegen (Rechts-) Extremismus wie Menschenverachtung sollten klare Zeichen gesetzt werden. Nur so können wir Wiederholungen von Halle, Hanau, aber auch Volkmarsen verhindern!
Jochen Ickert, Frankfurt
Die Aufforderung zum Suizid ist für das Gericht verzeihlich
Den Hitlergruß zu verwenden ist nach dieser Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs ( Az. 7 B 790/19) nur dann (schul-) rechtlich wirklich relevant, wenn bei dem betreffendem Schüler ein „ernsthaftes Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung“ festgestellt werden kann. Ansonsten stellt dessen Verwendung bei einem 13-jährigen pubertierenden Kind, das „lediglich“ provozieren und Tabus verletzen will, keine für den Schulbetrieb relevante Verfehlung dar. Auch eine Mitschülerin zum Suizid aufzufordern, ist für ein solches Kind – der Begriff ist juristisch korrekt – verzeihlich. Nur ein bisschen Ermahnen ist der Schule gestattet; weitere pädagogische Maßnahmen kommen nicht in Betracht. Die sensible Kinderseele könnte sonst beschädigt werden, wobei Letzteres allerdings so nicht in der fraglichen Entscheidung steht, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Für die hessischen Schulen ist dies – in der Sprache, die man aus den USA kennt – eine großartige Vorgabe, die endlich Klarheit darüber schafft, dass man Kindern unbedingt die Freiheit lassen muss, mit Nazi-Gesten jeder Art weitgehend folgenlos umzugehen, auch wenn diese für Erwachsene strafbewehrt sind. Ein bisschen Spaß muss sein ….
„Wehret den Anfängen“ gilt für öffentliche Schulen nach dieser Rechtsprechung des obersten Hessischen Verwaltungsgerichts nicht mehr. Herr Höcke, der an der betreffenden Schule in Bensheim offenbar seine Referendarausbildung absolviert hat, wird sich ins Fäustchen lachen.
Spontan muss ich an Rolf Hochhuths Kritik am Verhalten des ehemaligen Kriegsmarine-Richters und späteren Ministerpräsidenten Hans Filbinger denken. Hochhuth nannte ihn 1978 einen „furchtbaren Juristen“, weil er in formaljuristischer Rechthaberei vier von ihm verhängte Todesurteile gegen fahnenflüchtige Soldaten, die dem „Endkampf“ des Dritten Reichs entgehen wollten, verharmlost hatte. Hochhuth bezeichnete Filbinger in seinem Roman „Eine Liebe in Deutschland“ zudem als „Hitlers Marinerichter, der sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt hat“.
Die Bezeichnung „furchtbare Juristen“ wurde zum geflügelten Wort. Der Jurist und Hochschullehrer Ingo Müller nutzte es als Titel seines 1987 erschienenen Sachbuchs, in dem er die Mitwirkung der nahezu gesamten deutschen Rechtspflege am NS-Unrechtsstaat detailliert beschrieb.
Diese rechtshistorische Darstellung liest sich als Fortsetzung des Buches „Politische Justiz 1918 – 1933“, das der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hannover-Drück 1966 veröffentlichte. Darin hatten die Hannovers große Teile der Weimarer Justiz als Gegner der Demokratie entlarvt, die frühzeitig auf einen politischen Systemwechsel hingearbeitet hatten.
Im Kontext dieser Rechtsgeschichte, die vor allem eine Geschichte der Rechtsbeugung durch willfährige Justiz ist, erweckt das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichthofs den Eindruck, dass sich erneut Richter warmlaufen wollen für totalitäres Denken. Denn für die Entlastung eines verhaltensauffälligen und aggressiven Schülers, für den Nazi-Parolen und die Aufforderung zum Suizid allem Anschein nach selbstverständlich sind, gibt es keine Rechtfertigung. Keine juristische und keine pädagogische. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass gegen die Eltern keine Ermittlungen wegen Verstoßes gegen die Aufsichtspflicht eingeleitet wurden.