Der richtige Weg zu einer wirklich solidarischen Gesellschaft

Etwa eine Viertelmillionen Menschen haben am vergangenen Samstag in Berlin gegen Hass und Ausgrenzung demonstriert. Ein Bündnis aus tausenden von Vereinen, kirchlichen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und Hilfsorganisationen hatte zur „Unteilbar“-Demo aufgerufen und mit 40.000 Teilnehmern gerechnet. Es scheint, als ob die Zivilgesellschaft nun erwacht ist, nachdem Außenminister Heiko Maas sich noch kürzlich darüber beschwert hatte, dass die Deutschen nicht vom Sofa hochkämen, um mal den Mund aufzumachen. Das haben sie nun nachgeholt, auf einer der größten Demonstrationen der bundesdeutschen Geschichte. Mit dabei war auch ein kleiner Block von Linksradikalen wie der MLPD, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Nicht dabei war „Aufstehen“, die linke Sammlungsbewegung, die unter anderem von der Linken-Politikerin und Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, initiiert worden ist, um ein Gegengewicht gegen den Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft darzustellen. Andere PolitikerInnen der Linken hingegen wurden auf der Demo durchaus gesichtet, etwa Parteichefin Katja Kipping, sie eben den „extremen Rechtsrucks“ als Grund angab, zu der Veranstaltung zu kommen. „„Es ist ein unglaublich ermutigendes Signal, was von dieser Demonstration ausgeht“, sagte sie. Die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und um Flüchtlingssolidarität, für Demokratie gehörten unteilbar zusammen. Natürlich muss sich Wagenknecht für dieses Fernbleiben Seitenhiebe gefallen lassen. Sie ist der Demonstration ferngeblieben, weil dort, wie sie sagte, „in der Tendenz“ zu offenen Grenzen aufgerufen werde. Die aber seien „weltfremd“, weshalb Aufstehen das Vorhaben formal nicht unterstütze. Die Botschaft der Demo ist aber eine andere. Die Initiatoren gehen von der Annahme aus, dass soziale Ungleichheit zu gesellschaftlichen Spaltungen führt – zwischen Migranten und Nicht-Migranten, Frauen und Männern, Ostdeutschen und Westdeutschen. Ungleichheit zu bekämpfen bedeutet, Spaltung zu verhindern. Das ist eine veritable linke Position – und der kann und/oder will Wagenknecht sich nicht anschließen? Ist Aufstehen schon am Ende? Zu diesem Thema kommt hier ein langer Gastbeitrag von Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt, den ich im Print-Leserforum nur in einer gekürzten Fassung veröffentlichen konnte.

Der richtige Weg zu einer wirklich solidarischen Gesellschaft

von Klaus Philipp Mertens

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Der linke Radikalismus sei die Kinderkrankheit des Kommunismus, äußerte Lenin 1920 in seiner gleichnamigen Schrift. Damit meinte er nicht nur die Differenzen zwischen Menschewiki und Bolschewiki in der Sowjetunion, sondern auch die Streitigkeiten zwischen der aus dem Spartakus-Bund hervorgegangenen Kommunistischen Partei Deutschlands und SPD bzw. USPD. 98 Jahre danach sind hierzulande erneut Flügelkämpfe bei den Linken zu beobachten. Und auch dieses Mal geht es sowohl um die Grundsätze des Sozialismus als auch um den richtigen Weg zu einer wirklich solidarischen Gesellschaft.

Die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, plädiert vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme für eine begrenzte Zuwanderung, übersieht dabei aber deren Ursachen, nämlich den vagabundierenden menschenverachtenden Kapitalismus. Die Mehrheit des Parteivorstands rät zu anderen Konsequenzen aus der Zuwanderung und rief zur Teilnahme an der Demonstration #UNTEILBAR am 13. Oktober in Berlin auf, die dort und woanders für eine offene Gesellschaft eintritt. Die von Frau Wagenknecht initiierte Sammlungsbewegung AUFSTEHEN scheint in dieser Frage gespalten zu sein. Das könnte negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des parteiübergreifenden Bündnisses haben, sogar ein Scheitern wäre nicht auszuschließen.

Ich hätte Sahra Wagenknecht, die einmal die „kommunistische Plattform“ der Linken anführte, ein größeres politisches Bewusstsein zugetraut. Nicht zuletzt auch eine bessere Kenntnis der sozialistischen Theoretiker.

Angesichts diverser Putschversuche monarchistischer und nationalistischer Militärs in der noch jungen Weimarer Republik (Kapp, Lüttwitz) teilte Lenin die Meinung des Zentralkomitees der KPD vom Frühjahr 1920, dass die Voraussetzungen für die Errichtung einer Diktatur des Proletariats objektiv nicht vorgelegen hätten. Denn die „städtische Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit“ sei Sozialdemokraten und Unabhängigen gefolgt. Deswegen wäre den Kommunisten kein anderer Weg übriggeblieben, als einer „sozialistischen Regierung unter Ausschluss der bürgerlich-kapitalistischen Parteien“ eine „loyale Opposition“ zu versprechen. Auf die Vorbereitung zum „gewaltsamen Umsturz“ hätte folglich verzichtet werden müssen.

Dass eine kommunistische Partei einer Regierung der so genannten Sozialverräter (SPD, USPD) das Etikett „sozialistisch“ verweigern müsse, sei in diesem Zusammenhang unerheblich. Sowohl Scheidemann als auch Kautsky und Crispien sowie ihre jeweilige Gefolgschaft seien ohne jeden Zweifel kleinbürgerliche Demokraten. Das entscheidende Kriterium für Bündnisse und Kompromisse aber sei gewesen, dass die Kommunisten die Arbeiterschaft nicht daran hindern konnte, den Mehrheitssozialisten zu folgen. Ja, es musste sogar hingenommen werden, dass die Arbeiter ihre letzten kleinbürgerlich-demokratischen Illusionen in der Auseinandersetzung mit „ihrer“ Regierung überwinden konnten.

Ein solcher Kompromiss bedeutet nach Lenins Auffassung aber keineswegs, die tagtägliche Agitation unter den Massen aufzugeben. Und wörtlich fügte er hinzu: „Mögen solche Schurken wie die Scheidemänner und solche Philister wie die Kautsky und Crispien in der Praxis enthüllen, wie sehr sie selbst zum Narren gehalten werden und wie sehr sie die Arbeiter zum Narren halten.“

Lenin machte sich keine Illusionen vor dem Doppelcharakter der Sozialdemokraten, insbesondere über deren Loyalität gegenüber ihrem objektiven Gegner, dem Kapitalismus. Gleichzeitig verurteilte er die unnötige Konfrontation mit ihnen. Diese und ihre Unterstützer müssten die Chance bekommen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Während dieses Lernprozesses hätte die KPD dafür zu sorgen, dass das revolutionäre Bewusstsein der Massen quantitativ und qualitativ zunähme.

Deswegen sei Sahra Wagenknecht empfohlen, bei ihrer politischen Strategie den Verstand nicht auszuschalten und mindestens so listig zu sein, wie es der Klassenfeind ist. Den Umarmungsversuchen der AfD könnte sie sich rasch entziehen, wenn sie jede ihrer Bundestagsreden mit Zitaten aus Martin Walsers Schlüsselroman über Alexander Gauland begönne. Oder indem sie Alice Weidel dadurch entlarvte, indem sie die Rolle ihres früheren Arbeitgebers, Goldmann Sachs, bei der Finanzkrise von 2008 und der Vernichtung des bescheidenen Vermögens kleiner Leute betonte.

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2 Kommentare zu “Der richtige Weg zu einer wirklich solidarischen Gesellschaft

  1. Da in der jüngeren Vergangenheit mir bereits zwei Mal beinahe der Tod eintrat, geht es jedenfalls für mich nur noch um das nackte Überleben. Die Gründe dafür, weswegen ich wiederholt fast verstorben wäre, interessieren dabei bis heute keinen. Die Hoffnung, dass endlich aufgeklärt wird, weshalb mir früh das Ableben drohte, habe ich längst aufgegeben. Veranstaltungen wie die „Unteilbar“-Demo mit rund einer Viertelmillion sind insofern sehr weit von meiner konkreten Lebenswirklichkeit entfernt. Viele der dort erhobenen Forderungen erscheinen bloßes Wortgeklingel zu sein, das sich rasch in Nichts auflöst, sobald die Nagelprobe ansteht. Redet in diesem Zusammenhang Herr Mertens auch noch vom „revolutionären Bewusstsein der Massen“ kann ich eigentlich nur den Kopf schütteln angesichts der Entrücktheit, die sich darin äußert. Allein, dass ich heute noch lebe, ist bereits ein Erfolg, den mir niemand mehr nehmen kann. Höhere Ziele will ich nicht mehr erreichen und stehe einem Ansinnen, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt anstrebt, auch nicht mehr zur Verfügung. Die mir verbliebene Zeit ist mir einfach zu wertvoll, um sie damit zu verplempern.

  2. Ich weiß nicht, wie sinnvoll es ist (wie Herr Mertens es tut), eine Sahra Wagenknecht an Lenin zu erinnern. Seine Äußerung, er habe ihr „ein größeres politisches Bewusstsein zugetraut“ kann ich aber unterstreichen. Dazu bedarf es aber nicht eines ausladenden historischen Exkurses.

    Der entscheidende Vorwurf, der Frau Wagenknecht zu machen ist, ist wohl, dass sie sich objektiv spalterisch verhält – das gerade Gegenteil von dem, was eine „Sammlungsbewegung“ bezweckt. Frau Wagenknecht ist nicht Besitzerin der von ihr mitbegründeten Bewegung, sie verhält sich aber exakt so. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre hanebüchene Begründung für ihre Ablehnung mit irgendjemandem abgesprochen wurde.
    Ich habe zur Zeit der Studentenbewegung genügend links-sektiererisches Verhalten erlebt, und Frau Wagenknecht erinnert mich eben daran. Ein für eine Sammlungsbewegung absolut inakzeptables Verhalten.

    Sicherlich ist Sinn und Zweck einer Sammlungsbewegung inhaltlich und zeitlich beschränkt. Sie ist sinnvoll und wahrscheinlich auch nötig, solange es um einen Abwehrkampf gegen eine extrem rechte oder gar faschistische Gefahr geht.
    Jeder Abwehrkampf hat notwendigerweise Kompromisscharakter. Verbindendes Element ist die Erkenntnis der abzuwehrenden Gefahr. Im Interesse der gemeinsamen Sache sind dabei ideologische Differenzen zurückzustellen.
    Abschreckendes historisches Beispiel ist die ideologisch bestimmte gegenseitige Selbstzerfleischung von KPD und SPD in der Weimarer Republik, Folge der aus Moskau (Sinowjew) vorgegebenen ideologischen „Sozialfaschismus“-These. Die den Aufschwung des Faschismus in dieser Form erst ermöglichte.

    Frau Wagenknecht hat offenbar auch aus solchen historischen Erfahrungen nichts gelernt. Von einer führenden Politikerin der Linken ist aber eben das zu erwarten. Gute theoretische Analysen (die ihr nicht abzusprechen sind) reichen dazu nicht aus.
    Dazu kommt das höchst problematische Verhältnis zu Strategien der AfD in der „Flüchtlingsfrage“, das populistisch bis opportunistisch anmutet und auch unter theoretischen Aspekten kaum zu rechtfertigen ist.

    Fazit:
    Frau Wagenknecht ist aufgrund ihrer ideologischen Einstellung die denkbar ungeeignetste Person für die Leitung einer linken Sammlungsbewegung. Ihr Verhalten zur „Unteilbar“-Demo hat dies nur noch bestätigt.
    Sie sollte nicht nur die Leitung von „Aufbruch“ abgeben, sondern sich möglichst ganz daraus zurückziehen.
    Nur unter dieser Voraussetzung könnte ich eine Zukunft für diese Bewegung erkennen und mich ihr auch anschließen.

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