… und an allem sind die Amis schuld!

Der Wutbürger ist wieder da. FR-Kolumnistin Anetta Kahane hat ihn kürzlich in ihrer Kolumne „Die Allianz der Verschwörungstheoretiker“ vorgestellt und dabei herausgearbeitet, was an ihm ihrer Meinung nach so gefährlich ist: „Ein Mischmasch aus Klassenkampf, Euroskepsis, Nationalismus, Paranoia und Verschwörungsideen über 9/11, Islamhass und Antisemitismus ist dabei, die Straße zu erobern.“ Auch FR-Mitarbeiter Hanning Voigts hat eine solche Demo besucht und sie anschließend analysiert. Auf diesen „Montagsdemos“ artikuliert sich eine Menge Politikverdrossenheit. Verkürzt gesagt: Die real existierende Demokratie sei ein Lügensystem, Russland kein Aggressor, und an allem sind die Amis schuld. Kahanes Kolumne erhielt eine Menge Leserbriefe, von denen 90 Prozent derart vor Hass troffen, dass ich sie nicht veröffentlichen kann. Offenbar hat Anetta Kahane einen wunden Punkt getroffen. Sie gilt bekanntlich als sehr streitbar im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Der Hauptvorwurf ist, dass sie in ihrem Text alle möglichen Motivationen dieser „Wutbürger“, wie ich sie mal als Arbeitstitel nenne, in einem Topf zusammenmische und dass dabei berechtigte Anliegen unter die Räder kämen. Aber liebe Leute, so was kann man auch in einem zitierfähigen Ton sagen!

Denn es ist ja Wahres an Manchem, was da auf den Montagsdemos gesagt wird. Stichwort Demokratie – wenn Deutschland eine echte Demokratie sein soll, warum haben die Deutschen dann nicht über die Wiedervereinigung abstimmen dürfen? Über die Euro-Einführung? Über den Lissabon-Vertrag? Weil die Regierenden fürchteten zu unterliegen? Stattdessen wurden diese großen, wichtigen Entscheidungen mit den Bundestagswahlen zur Abstimmung gestellt. In einigen Ländern wurde gleich zweimal über den Lissabon-Vertrag abgestimmt – man könnte auch sagen: Es wurde so lange abgestimmt, bis ein genehmes Ergebnis herauskam. Von der EU fühlen sich diese Menschen ohnehin nicht vertreten; Geheimverhandlungen wie die zu ACTA oder TTIP sind Wasser auf die Mühlen dieser „Wutbürger“. Die EU ist aus dieser Perspektive bürgerfern bis bürgerfeindlich und ein Vasall der Amerikaner, die ohnehin das Böse schlechthin verkörpern. Nicht nur deswegen, weil Barack Obama den verbrecherischen „war on terror“ des George W. Bush mit drastischen Mitteln weiterführt, sondern auch, weil sie an der Wall Street eine Art geheime Weltregierung haben, die in der Lage ist, via amerikanischer Notenbank, IWF und Weltbank der ganzen Welt ihren Willen aufzuoktroyieren. Und da haben wir es dann nicht mehr weit bis zur Verschwörung des Weltjudentums.

So weit, so einseitig – und so gefährlich. Das Problem ist, dass die meisten dieser Thesen einen wahren Kern haben. Es gibt tatsächlich ein Glaubwürdigkeitsproblem der europäischen Demokratien, nicht nur der deutschen, und dieses Problem hat tatsächlich mit Brüssel zu tun. Aber nehmen wir mal an, es hätte Volksentscheide zu den großen Fragen der Vergangenheit gegeben. Der Wiedervereinigung hätten die Deutschen sicher zugestimmt – mit kritischen Untertönen vermutlich, aber in dem Gefühl, den Sozialismus besiegt zu haben, hätte sich ein gewisser Nationalismus gezeigt. Beim Euro bin ich mir nicht sicher, ob die Deutschen seiner Einführung zugestimmt hätten, denn beim Geld hört die Freundschaft auch in Europa bekanntlich auf; das haben wir in Griechenland erlebt. Die Deutschen liebten ihre D-Mark. Es war dennoch richtig, den Euro einzuführen und damit einen riesigen Binnenmarkt zu schaffen, auf dem unsere Regeln gelten und nicht die von Spekulanten, die sich Währungen kleiner Länder vorknöpfen. Und zum Lissabon-Vertrag hätten die Deutschen vermutlich Nein gesagt, allein wegen der Ressentiments gegen die EU, die damals schon selbstverschuldet ein schlechtes Image hatte. Denn wer sich um Gurkenkrümmung und Quecksilber-Lampen mehr kümmert als um die wirklichen Probleme der Menschen, der hat nicht erfasst, für wen er das alles eigentlich macht. Dabei ist der Lissabon-Vertrag der Weg, die EU künftig demokratischer zu machen. Die Deutschen hätten die falsche Entscheidung getroffen, wenn sie ihn abgelehnt hätten.

Ich persönlich bin kein Freund von Volksentscheiden. Manche halten sie für eine Art Allheilmittel gegen die schwächelnde Akzeptanz der Deutschen für das System, in dem und mit dem sie jahrzehntelang überwiegend recht gut gelebt haben. (Was nicht heißt, dass es nichts zu verbessern gäbe.)  Doch erst kürzlich hat die Schweiz ein abstoßendes Beispiel dafür gegeben, dass die Menschen an solche Entscheide keineswegs immer mit den Mitteln der Ratio herangehen. Viele haben die Abstimmung in der Schweiz, bei der es um die Begrenzung von Einwanderung ging, genutzt, um ihren pauschalen Protest kundzutun – was völlig legitim ist und trotzdem nicht richtig sein muss. Der mündige Bürger, die mündige Bürgerin sollte sich der Verantwortung, die sie/er mit der Abgabe seiner/ihrer Stimme übernimmt, voll bewusst sein. Wie sich aber gezeigt hat, wählen viele Menschen eher aus dem Bauch heraus.

Und das ist auch das Problem mit den Montagsdemos und den „Wutbürgern“. Schritt 1: Sie spüren, dass etwas falsch läuft, und erkennen Fehlentwicklungen. Das ist selbstverständlich nicht nur in Ordnung, sondern es ist geradezu die Pflicht mündiger Wahlmenschen, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Schritt 2: Sie suchen nach Verantwortlichen, denn sie wollen jemandem die Schuld geben. Daran ist nicht in Ordnung, dass die Schuldigen immer die anderen sind. Das führt dazu, dass die Analyse (Schritt 1) nicht mehr ergebnisoffen abläuft, denn: Schritt 3: Es werden Feindbilder angeboten. Die legen sich in der Tat nahe, denn wie sich die EU und die Amerikaner verhalten, ist oft genug ganz einfach hochnäsig bis abstoßend.

Daran stört mich, dass Schritt 2 nicht der richtige Schritt ist. Ich halte es mit John F. Kennedy:

„Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!“

Es bekommt diesem Land zweifellos und steht ihm gut zu Gesicht, dass Menschen ihre Kritik artikulieren. Das tun Blog-Userinnen und -User ja zum Beispiel auch hier, in diesem Blog, und zwar schon seit Jahren. Und ich tue das, indem ich solche Debatten eröffne und Thesen formuliere, die vermutlich auch meinen Stammleserinnen und -lesern nicht immer durchweg gefallen. Aber über Thesen kann man ja diskutieren; dafür sind sie da. Was der Debatte und der Debattenkultur jedoch überhaupt nicht bekommt, ist die Sache mit den Sündenböcken, denn die hat mit der Suche nach Lösungen überhaupt nichts zu tun. Dieser eigentlich leicht durchschaubare psychologische Mechanismus, dass Menschen nach Schuldigen suchen, hat einen jahrhundertelangen Bart; da muss ich nicht erst an die Judenpogrome im Mittelalter erinnern, die als Seuchenbekämpfungsprogramm schlicht und nachvollziehbar nicht funktioniert haben. Und so werden die Montagsdemos, die eigentlich Ausdruck eines Problems sind, selbst zu einem Problem, denn sie sind teilweise selbstgerecht und teilweise geschichtsvergessen. Manche Teilnehmer behaupten, Debatten führen zu wollen, doch tatsächlich geht es ihnen nur um die Durchsetzung der eigenen Meinung, selbst wenn diese nach kurzem argumentativem Hin und Her schon in sich zusammenbricht. Wer das Gemeinwohl im Sinn hat, wie dort vielfach behauptet wird, sollte nicht als Besserwisser auftreten. Die Gegenwart ist zu komplex, um auf derart einfache Erklärungs- und Schuldmuster zurückgeführt zu werden.

Unerträglich daran ist vor allem jenes Anti, das diese Bewegung vor sich herträgt. Sie ist eine Protestbewegung, die sich auch gegen uns von den Medien richtet, die wir ja alle gleichgeschaltet sind. Aber diese Bewegung ist nicht produktiv und nicht konstruktiv, ihre Kritik ist ein „Anti“ im Sinne von „Ich will es eigentlich gar nicht wissen, denn ich weiß schon alles, und ich habe recht“. Das zeigt sich am deutlichsten im Nein zu Europa. Ausgerechnet jetzt – vielleicht zu spät? – schickt Europa sich an, demokratischer zu werden, und ausgerechnet jetzt müssten die Wählerinnen und Wähler es stärken. Das EU-Parlament nimmt seine Rechte und Pflichten infolge des Lissabon-Vertrags wahr und hat den Technokraten der EU-Kommission schon manches Schnippchen geschlagen, aber das ist unseren besorgten „Wutbürgern“ völlig egal; sie nehmen es nicht wahr oder wollen es nicht wahrhaben. Für sie ist die EU einfach ein US-Vasall. Dabei folgt die EU den USA keineswegs in allem. Dass sie es nicht hinbekommt, eine eigene (außen-)politische Linie zu entwickeln, hat nicht in erster Linie mit US-Einfluss, sondern mit den nationalen Interessen der einzelnen Staaten zu tun – und dann auch mit US-Einfluss, denn via EU-Mitglied Großbritannien mischen die USA in Europa mit. Der eigentliche „Vasall“ der USA – wenn dies der richtige Begriff für tiefe Verbundenheit ist – ist nicht die EU, sondern Großbritannien. Sind solche Zusammenhänge für unsere „Wutbürger“ zu komplex?

Unsere Debattenkultur verroht und verkommt. Das hat auch mit dem Netz und seinen Gesetzen zu tun und mit dem Drang und der Versuchung, einfach mal Dampf abzulassen, am besten anonym. Aber das Problem sitzt tiefer. Es gründet darin, dass die Politik zu lange nicht zugehört hat. Seit jenem berühmt-berüchtigten Lambsdorff-Papier, dass 1982 zum Ende der sozialliberalen Koalition geführt und die Phase des Neoliberalismus in Deutschland eingeläutet hat, wurde Politik vorwiegend über die Köpfe der Menschen hinweg gemacht. Seitdem öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich von Jahr zu Jahr weiter, und im gleichen Maß wachsen unsere Probleme. Dabei ist es irgendwie verständlich, dass jene „Wutbürger“ jetzt dasselbe tun, was die Politik in diesen dreißig Jahren getan hat: Sie hören nicht zu. Sie wollen nicht mehr. Jetzt sind sie mal dran. Laut und mit teilweise schrägen Tönen. Es war vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis es so weit kommen musste, aber diese Bewegung kommt zur Unzeit, und sie ist im Unrecht. Gerade bekommt die EU ein Parlament, das diesen Namen verdient, und gerade schickt sich unsere Regierung, die SPD voran, dazu an, frühere neoliberale Positionen zu verlassen. Zum Beispiel indem sie den flächendeckenden Mindestlohn einführt. Doch wen interessiert das noch?

Zurück zur Kolumne von Anetta Kahane. Dazu meint Dietmut Thilenius aus Bad Soden:

„Anetta Kahane beschreibt sehr gut die große Gefahr durch Verschwörungsdemagogen von Rechts und Links mit Judenhass. Bei Verlust sittlicher Werte und zunehmender Kluft von immer mehr Armen und extrem Reichen in unserer Gesellschaft wird gesellschaftliches Gift ausgebreitet. 1926 wurden in Deutschland die Verschwörungsdemagogen von Rechts und Links noch als Spinner einer Minderheit abgetan. Hitlers „Mein Kampf“ mit seinem Vernichtungshass gegenüber Juden wurde nicht ernst genommen. Bei zunehmnder wirtschaftlicher Schieflage erklärte die KPD-Funktionärin Ruth Fischer 1932 vor dem Kommunistischen Studentenverband:“Tretet die Judenkapitalisten nieder….“. Wir wissen: Hitler und der Holocaust folgten. In unserer Geschichte gab es bei jedem sittlichen und wirtschaftlichen Niedergang irrsinnige Schuldzuweisungen gegenüber Juden, einer Minderheit, um ein Hassobjekt zu haben, um zu plündern. Hochgefährlich!“

Bernd Marterer aus Schopfheim:

„Sehr geehrte Frau Kahane, ist für Sie jeder, der sich in der heutigen Zeit getraut zu denken, ein Querfrontler? Ich persönlich stehe voll und ganz hinter dem Euro, weil er Europa die Chance gibt in Frieden zusammenzuwachsen. Leider habe ich in letzter Zeit Zweifel ob das klappt. Ich stelle auch fest, dass unser Leben in Europa amerikanisiert wird – willkommen in der Konsumknechtschaft. Und die amerikanische Propagandafilme aus Hollywood (z. B. Top Gun) inspirierten unseren früheren Verteidigungsminister von und zu Guttenberg sich öffentlich in militärischem Outfit zu zeigen. Haben Sie sich einmal Werbefilme der Bundeswehr angesehen mit denen jungen Leuten zum Kriegshandwerk angelockt werden? In vielen Fällen, die ich in diesem Leserbrief nicht ansprechen will, frage ich mich, ob wir noch ordentlich regiert werden.“

Weitere Leserbriefe folgen.

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13 Kommentare zu “… und an allem sind die Amis schuld!

  1. „“Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!”“

    Diesen Satz hatte Kennedy von seinem Vater und bereits John F. selber hatte ihn aus dem Zusammenhang gerissen.
    Kennedys Vater war ein sozialer Aufsteiger , der noch wußte , daß er seinen Erfolg neben eigener Leistung auch den Umständen und der Unterstützung von außen verdankte und der seine privilegierten Kinder auffordern wollte , etwas vom eigenen Glück wieder an die Allgemeinheit zurückzugeben.

    In Bezug auf die USA kann ich nur beipflichten , die Konsequenz , mit der diese hier kritisiert werden , sollte es öfter geben , noch dazu ohne pauschalen Anti-Amerikanismus.
    Allerdings tragen auch die Europäer zur Einseitigkeit bei , wer derart holzschnittartig berichtet , wie es in Teilen(!!) unserer Medien geschieht , schreibt potentiellen Rechten ein Programm auf die Fahnen , das diese selber nie und nimmer in der Lage wären , zu formulieren , man siehts ja , mehr als Anti fällt denen nicht ein.
    Was wiederum deren größte Schwäche ist , über kurz oder lang wird es Lösungen brauchen , daher sollte man nicht aus lauter Angst vor den Rechten mit einer EU mitgehen , die sich als verlängerter Arm der Lobbies geriert ,das macht die Sache nur schlimmer.

    Die Diffarmierung als anti-europäisch ist denn auch ein beliebter Trick der Neoliberalen , Leute in die rechte Ecke zu schieben , die nicht einverstanden sind mit dem aktuellen Zustand der EU , aber nichts einzuwenden haben gegen die europäische Idee.

  2. Es steht jedem frei, sich zu den realen Gegebenheiten eine mehr oder weniger spannende Erzählung zu überlegen. Zu versuchen, den auf diese Weise entstandenen Fiktionen den Vorrang vor der Realität einzuräumen, bricht sich allerdings bereits an dem historischen Tatbestand, dass ein solches Abstraktum niemals anstelle der vorausgehend für jeden erfahrbar stets vollständigen Welt treten kann. Insofern handelt es sich bei den „Wutbürgern“, wie Bronski sie als Arbeitstitel nennt, lediglich um komplett gescheiterte Existenzen, deren Initiativen zutiefst antisoziale Züge unter der Bevölkerung befördern und somit das dadurch seit jeher gesellschaftlich verfasste Wesen des Einzelnen wider besseres Wissen kurzerhand als noch nie existent diskriminieren.

  3. Meinungsfreiheit und „Qualitätjournalismus“ im Zeichen der Ukraine-Kriese

    Vor einigen Tagen schickte ich eine Beschwerde an den NDR-Rundfunkrat
    bezüglich der einseitigen Berichterstattung auf tagesschau.de und der
    Sperrung von Beiträgen im Forum.

    Heute erhielt ich eine Antwort vom Redaktionsleiter Andreas
    Hummelmeier, der auf die Notwendigkeit der Moderation von Beiträgen
    und die Netiquette hinwies. Dabei schrieb er mir u. a.: „Die
    Moderatoren haben einen Beurteilungsspielraum, ob sie in einem
    KOmmentar einen Verstoß gegen die Richtlinien erkennen oder nicht.
    Unsere Moderatoren werden sorgfältig ausgewählt und geschult.
    Ablehnungsgründe dokumentieren wir, …“.

    Erfahren darf man die Ablehnungsgründe aber offensichtlich nicht –
    „aus Kapazitätsgründen“. Auch zu den von mir konkret angeführten
    Fällen wollte mir Herr Hummelmeier nichts mitteilen.

    Immerhin gab er in seinem Schreiben einige Hinweise auf
    Ablehnungsgründe. Neben den üblichen Beleidigungen etc. gehören dazu
    – „nicht allgemein bekannte Sachbehauptungen ohne Beleg“
    – „Kommentare mit Links bzw. ganzen Linklisten“
    – „Zuschriften, die im Wesentlichen aus Zitaten (z. B.
    Wikipedia-Einträgen) bestehen.
    – „Maildebatten“ …, „die sich im Kleinklein verlieren“
    – und natürlich „Kapazitätsgrenzen“

    Jetzt wird es echt schwierig für mich. Ich darf als nichts schreiben,
    was der tagesschau.de nicht als „allgemein bekannt“ versteht ohne
    Belege zu liefern. Das könnte ich ja noch verstehen – wenn ich aber
    versuche, den Beleg via Link zu führen, ist das wiederum Grund für
    die Ablehnung. Und zitieren darf ich also auch nicht (schon gar nicht
    Wikipedia).

    Für den Rest gibt es dann immer noch die Ausschlussgründe
    „Kleinklein“ und „Kapazitätsgrenzen“. Und das alles bei eier
    Begrenzung von 1.000 Zeichen! Das soll wohl echte Transparenz und
    Meinungsfreiheit nach Tagesschau-Verständnis sein – finanziert mit
    Gebühren. Irgendwie hatte ich beim Durchlesen des NDR-Staatsvertrages
    da noch einen anderen Eindruck.

    Und es geht natürlich auch weiter so. Gerade wurde mir u. a.
    folgender Beitrag abgelehnt:

    11.05.2014 – 00:36 | Ukraine-Krise: Ein Referendum ohne Wert?
    21:21 von Sabn_spn – Wille der EU-Bürger
    Im Zusammenhang mit dem vorgenannten Beitrag kommt mir gerade so ein
    Gedanke: Warum sollen eigentlich die Bürger der EU eine Frau Ashton,
    die EU-Kommision den Ministerrat oder auch unsere Regierungen alleine
    über Fragen entscheiden lassen, bei die möglicherweise massive
    Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat – bis hin zu
    militärischen Konflikten. Wenn die Bürger in der EU entscheiden
    könnten, würde dem Sanktionsgerede – wie auch dem Regime in Kiew –
    wahrsscheinlich schnell die Luft ausgehen.
    Die Idee eines Referendums hat was!

    Manchmal hoffe ich ja dann noch, dass wenigstens der Moderator oder
    die Redaktion dabei etwas ins Nachdenken kommt – die Hoffnung stirbt
    bekanntermaßen zuletzt.

  4. Die Anmoderation, lieber Bronski, erscheint mir doch etwas verwirrend. Ich vermute mal, dass das mit der verwirrenden Thematik zu tun hat. Aber immer noch besser als eine trügerische „Klarheit“, wie Anetta Kahane sie in der verlinkten Kolumne vorzugeben sucht. Und leider muss ich hier erhebliche Bedenken anmelden. Schon auf den ersten Blick: In einer so kurzen Kolumne 6x die Begriffe „jüdisch, Judentum, Israel“ und 5x „antisemitisch, Antisemitismus“, und ohne dass ein eindeutiger Nachweis erkennbar wäre – da fragt man sich doch, wie die Diskussion über Missbrauch des „Antisemitismus“-Begriffs, etwa bei der Beschneidungsdebatte oder auch in Moshe Zuckermanns recht klarer Analyse „Antisemit!“, so spurlos an einer rührigen Kolumnistin vorübergegangen sein kann. Dubiose Verschwörungstheorien mit Gegen-Verschwörungstheorien kontern zu wollen, erscheint mir kontraproduktiv und gefährlich: Geht man davon aus, dass sich in den beschriebenen Verhaltensweisen ziemliche Verwirrung manifestiert, die sich auf keinen einheitlichen ideologischen Hintergrund zurückführen lässt, dann gibt sie der Suche nach „Sündenböcken“ erst die Richtung vor, die so noch keineswegs erkennbar ist, macht die Demagogie der selbsternannten Gurus erst richtig attraktiv.
    Deutlich besser die Analyse von Hanning Voigts, die ich hier deshalb verlinke: http://www.fr-online.de/meinung/montagsdemos-friedensfreunde-und-ressentiments,1472602,27021542.html

    Dabei wäre, will man das Thema „in den Griff“ bekommen, erst mal den Ursachen nachzugehen und, sofern der Vorwurf des „Antiamerikanismus“ zutrifft, auch zu erforschen, um welche spezifische Form es sich dabei handelt. Denn der hier vorliegende ist sicher nicht identisch mit dem Antiamerikanismus der Studentenbewegung, der durch die Erfahrungen des Vietnamkriegs geprägt war. Ein solcher Zusammenhang ist hier aber nirgends erkennbar.

    Bleibt die Frage nach dem Ansatzpunkt für eine solche Analyse. M.E. bieten sich die in der Anmoderation aufgezeigten Schritte da am ehesten an. Wobei die Schritte 2 und 3, die Frage nach der Suche von Schuldigen und die der Feindbilder, sich erst klären lässt, wenn der 1. Schritt, die Frage nach gefühlten „Fehlentwicklungen“ zumindest ansatzweise befriedigend beantwortet ist. Und um wenigstens einen positiven Punkt in Frau Kahanes Kolumne zu nennen: Dazu braucht man „Aufmerksamkeit, Realitätssinn und Vernunft“. Nur reicht es eben nicht, diese zu beschwören: Sie sind auch in der ihnen adäquaten Weise anzuwenden.

    Ich möchte zu diesem Zweck bei einem in die Lehre gehen, der in dieser Hinsicht als Vorbild dienen kann – auch wenn er schon an die 230 Jahre tot ist: Denis Diderot.
    In seiner philosophischen Schrift „Lettre sur les aveugles“ zieht Diderot gegen die zu seiner Zeit üblichen „Gottesbeweise“ in Anlehnung an die Leibnizsche Vorstellung einer „Theodizee“ zu Felde: Diese gingen nicht von universellen Prinzipien aus, seien nur erfahrbar für Menschen aus der Welt der „Sehenden“. Für einen Blinden aber besitzt dies keinen Bezug zu seiner Realität. Und Diderot lässt den blinden Saunderson erklären: „An einen Gott, den ich nicht anfassen kann, kann ich auch nicht glauben.“
    Eine tiefsinnige und beispielhafte Erläuterung einer Erscheinung, die uns in EU-Hass, Verschwörungstheorien usw. auch heute wieder entgegentritt: Was dem „gewöhnlichen Bürger“ an Beschlüssen und Maßnahmen – auch sinnvoller Art – entgegentritt, ist für ihn nicht sinnlich „greifbar“, löst Hilflosigkeit aus (verstärkt noch durch fehlende Vermittlung). Im täglichen Leben sinnlich erfahrbar dagegen sind Einschränkungen negativer Art: Normierungen, Vorschriften und vieles mehr. So dringt die fremde EU in die Welt dessen ein, der sich an seinen „gesunden Menschenverstand“ meinte halten zu können. Und dazu gehören auch seine Vorurteile. Denn die haben nach psychologischen Analysen Schutzfunktion: Sie wehren das Fremde, Unverstandene ab, das dem im „Ich“ eingeschlossenen Individuum bedrohlich erscheint. Und nun kommt diese fremde, unverstandene EU, nimmt ihm seine schützenden Vorurteile, verpflichtet ihn zu Toleranz – sogar gegenüber Homosexuellen, die er, in der eigenen Sozialisation fleißig eingeübt, geradezu „eklig“ findet! – Verwundert es da, wenn der auf seinen „gesunden Menschenverstand“ vertrauende brave Bürger in dieser „aggressiven“ EU den Hort des Bösen wittert, wenn er angesichts der eigenen Verunsicherung Schutz bei einem starken „Führer“ sucht, einem Putin beispielsweise, in dessen Welt die „Moral“ noch gilt, wo man seine Verachtung gegenüber Homos noch „frei“ äußern darf? Ist das dann ein Beleg dafür, dass der zum „Wutbürger“ gewordene „Normalbürger“, a priori, auch dessen gesamte Weltsicht, dessen Machtansprüche teilt? – Er tut es nicht. Es kann aber dazu kommen – und dann vertritt er dies zu 150 %. Und wer ihn dazu noch zum „Antisemiten“ stempelt, der wird ihn ganz sicher auch zu einem solchen machen.
    Diese Analyse wird durch zahlreiche Anspielungen in Internetforen gestützt, die dem so entstandenen Hass erlauben, sich „frei“ zu äußern. Deutlich aber auch die Hinweise auf eine weitere, noch tiefer gehende Ursache der Verunsicherung: Die Erfahrung der Zerstörung jeglicher Privatheit durch die NSA-Affäre.

    Auch hier wieder ein Exkurs zur Aufklärung. „Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“, so definiert diese Kant. Um dies zu ermöglichen, begannen Diderot und d’Alembert vor nun 250 Jahren ein Jahrhundertprojekt: die Enzyklopädie. Denn freie Verfügbarkeit über Wissen ist Voraussetzung für den mündigen Bürger. Wissen gelangte – in einem langen historischen Prozess – aus der Verfügungsgewalt der Geistlichkeit in die Hände des freien Bürgers.
    Es bedurfte wohl erst eines NSA-Skandals, um zu erkennen, dass dieser Prozess heute nicht nur gestoppt, dass er gar in sein Gegenteil verkehrt ist: Wissen, das Macht über andere ermöglicht, ist nicht nur weitgehend der Öffentlichkeit entzogen – es ist vielmehr in der Verfügungsgewalt anonymer Voyeure geraten, unkontrollierbar und keiner demokratischen Kontrolle unterworfen. Und es ist nicht nur Wissen, das die Allgemeinheit betrifft, sondern auch Wissen über die intimsten Regungen jedes Bürgers. Der braucht nicht einmal seine eigene Wohnung zu verlassen, um dem Zwang eines täglichen Striptease vor anonymen und mächtigen Voyeuren unterworfen zu sein. Den Bürger abzuhören, macht es überflüssig, ihm noch weiter zuzuhören.
    Solche Erfahrungen tiefer Demütigung steigern nicht nur das Gefühl des Nicht-Verstanden-Seins und der Wut, sie öffnen auch Tür und Tor für jegliche Verschwörungstheorie, selbst der absurdesten Art. Dass all das zudem noch aus einem Land stammt, das „Freiheit“ und „Demokratie“ für sich gepachtet zu haben glaubt, ist Einfallstor für antidemokratische Empfindungen jeglicher Art. Und dass eine Frau Merkel nicht bereit oder in der Lage ist, der Großmachtattitüde und totalen Unsensibilität in gebührender Weise entgegenzutreten, unterminiert das Vertrauen in die eigene Regierung, macht auch unkontrollierte Äußerungen der Wut verständlich. – Ein Antiamerikanismus ganz anderer Art als der traditioneller, und einer, der sehr berechtigt erscheint, solange die aufgezeigten Ursachen ihre Wirksamkeit erhalten.

    Die im Schritt 2 angesprochene Suche nach den „Schuldigen“ liegt so – aus der Perspektive der Betroffenen – auf der Hand, bedarf keiner weiteren Erklärungen und duldet kein Hinterfragen. Die Transformation der Verunsicherung, mit der auf Dauer niemand leben kann, zur doktrinären antidemokratischen Gesinnung ist so vorgezeichnet, Gurus können ihre Verführungskraft entfalten.
    Ob und wie sich der dritte Schritt vollzieht, die Verhärtung und Verschärfung zu festen Feindbildern – darin liegt der zentrale Irrtum einer Frau Kahane – ist damit aber noch nicht vorgezeichnet. Zu diffus ist dazu diese „Allianz“, die – warnenden historischen Beispielen zum Trotz – ideologisch Unvereinbares zu vereinen vorgibt.
    Als wohl größte Gefahr erscheint in Zeiten krisenhafter Entwicklungen die Umlenkung und Pervertierung von naiver Friedenssehnsucht, wie auch die Reportage von Hanning Voigts deutlich macht. Verstärkt dies doch die unerschütterliche Überzeugung, auf der „friedlichen“, also der „guten“ Seite zu stehen. Und die Fiktion moralischer Überlegenheit erspart – scheinbar – auch den anstrengenden und zusätzlich verunsichernden Prozess, das eigene Hirn gelegentlich zur Überprüfung dieser Überzeugungen zu nutzen.
    Aus dem „Wahlspruch“ der Aufklärung, „habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“, ist das Gegenteil geworden, die freiwillige Rückkehr zur Unmündigkeit vollzogen.

    So gesehen, sind diese Verschwörungstheorien, im geraden Gegensatz zum eigenen Selbstbild, der adäquate Ausdruck des in der NSA-Affäre sichtbar gewordenen Prozesses der Entmündigung.
    Welche politische Relevanz sie entwickeln und welche demokratiegefährdende Virulenz sie entfalten, das hängt sicher von der Entwicklung der gegenwärtigen Krisen ab – aber eben auch von der Fähigkeit wirklich „mündiger“ Bürger, ihnen in angemessener Weise entgegenzutreten. Und das heißt vor allem: frei von Hysterie.

  5. @ Werner Engelmann

    Ihnen erscheint die Anmoderation von Bronski verwirrend. Mich verwirrt hingegen, dass Sie die Warnung von Annetta Kahane vor einer „Allianz der Verschwörungstheoretiker“ mit einem Hinweis auf einen „Missbrauch des ‚Antisemitismus‘-Begriffs“ kontern. Sicher ist nicht jede Kritik an Juden oder Israel antisemitisch. Ist aber in Ihren Augen derjenige, der z.B. die Ukraine-Krise als das Werk des „Weltjudentums“ bezeichnet, kein Antisemit? Entgeht Ihnen, dass die alten und neuen Judenfeinde „Wall Street“ und „Weltfinanz“ als Synonyme für die zu offensichtlichen antisemitischen Begriffe einsetzen?

    Was mich genauso wie Kahane erschreckt, ist nicht nur der offene bzw. nur leicht verdeckte Antisemitismus. Für noch bedenklicher halte ich, dass Begriffe und Denkfiguren aus der Mottenkiste des Antisemitismus gedankenlos wieder verwendet werden – als ob man eine berechtigte Kritik auch ohne diese Klischee nicht formulieren könnte. Dies gilt im Übrigen auch für die Debatten um Beschneidung und über Israel.

    Nur einen Nachsatz zu Dennis Diderot, den Sie in diesem Zusammenahng als Vorbild hinstellen: Der Enzyklopädist hat sich, wie nicht wenige der Aufklärungsphilosophen, in seinen Schriften als veritabler Judenfeind verewigt. Auch dieser unaufgearbeitete Bodensatz hat dazu beigetragen, dass der Antisemitismus der Nazis bei vielen „anständig bürgerlichen“ Deutschen auf fruchtbaren Boden gefallen ist.

  6. @ JaM
    Sie hätten wohl besser getan, erst mal richtig zu lesen, bevor Sie so ungeniert Ihre Stempel benutzen.
    1. Vorwurf:
    „Entgeht Ihnen, dass die alten und neuen Judenfeinde „Wall Street“ und „Weltfinanz“ als Synonyme für die zu offensichtlichen antisemitischen Begriffe einsetzen?“
    Mir entgeht hier gar nichts, wohl aber versuche ich, nicht alles über einen Leisten zu schlagen, um einem Bedürfnis nach möglichst einfachem Weltbild zu entsprechen. Und lesen Sie bitte, was ich wirklich geschrieben habe:
    „Geht man davon aus, dass sich in den beschriebenen Verhaltensweisen ziemliche Verwirrung manifestiert, die sich auf keinen einheitlichen ideologischen Hintergrund zurückführen lässt, dann gibt sie der Suche nach „Sündenböcken“ erst die Richtung vor, die so noch keineswegs erkennbar ist, macht die Demagogie der selbsternannten Gurus erst richtig attraktiv.“
    Der erste Teil bezieht sich darauf, was Anetta Kahane selbst schreibt und Bronski eingangs zitiert: “Ein Mischmasch aus Klassenkampf, Euroskepsis, Nationalismus, Paranoia und Verschwörungsideen über 9/11, Islamhass und Antisemitismus ist dabei, die Straße zu erobern.”
    Allein diese Feststellung (ähnlich wie die Beschreibung von Hanning Voigts) zeigt, dass es unzulässig und auch unredlich ist, diesen kaum definierbaren „Mischmasch“ auf einen Begriff zu bringen, selbst wenn einzelne „Gurus“ darunter sind, die dies in diese Richtung lenken wollten. Unredlich deshalb, weil, wer dies dennoch tut, den Weg des Verstehen-Wollens verlassen hat und zum Abstempeln übergegangen ist.
    2. Vorwurf:
    „Der Enzyklopädist hat sich, wie nicht wenige der Aufklärungsphilosophen, in seinen Schriften als veritabler Judenfeind verewigt. Auch dieser unaufgearbeitete Bodensatz hat dazu beigetragen, dass der Antisemitismus der Nazis bei vielen „anständig bürgerlichen“ Deutschen auf fruchtbaren Boden gefallen ist.“
    Das ist schon starker Tobak!
    Nun habe ich schon einiges von Diderot sowie Sekundärschriften und Interpretationen zu ihm gelesen, mich auch nicht wenig mit „Aufklärung“ beschäftigt, doch noch niemanden gefunden, der auch nur in zartesten Andeutungen sich zu ähnlichen Behauptungen hätte hinreißen lassen. –
    Darf ich daraus schließen, dass demnächst eine epochemachendes Werk von Ihnen erscheinen wird, in dem Sie beweisen, dass der „unaufgearbeitete Bodensatz“ von „Aufklärungsphilosophen“ im Grunde den „Antisemitismus der Nazis“ erst vorbereitet hat und ein ganzes Heer von Interpreten über 2 Jahrhunderte hinweg auf solche Scharlatane hereingefallen ist? Nur so könnte ich mir die Selbstgewissheit erklären, mit der Sie ein so vernichtendes Urteil über eine ganze Epoche abgeben, ohne sich auch nur zu einem einzigen Hinweis zur Begründung genötigt zu fühlen.
    Ich erwarte voller Spannung diese umwerfenden Erkenntnisse.
    Bis dahin gestatten Sie bitte, als noch „Unerleuchteter“ die großen Vereinfacher – egal, welcher ideologischen Provenienz – als die wirklich Gefährlichen anzusehen, die bei ihren allgemeinsten Urteilen außer der alleinigen Wahrheit auch noch die Moral für sich gepachtet zu haben meinen.

  7. @ Werner Engelmann

    Es liegt mir fern, Ihnen einen Stempel aufzudrücken oder alles über einen Leisten zu schlagen, denn ein möglichst einfaches Weltbild gehört nicht zu meinen Bedürfnissen. Gerne werde ich Ihnen meine Position nochmals verdeutlichen, brauche dazu aber etwas mehr Zeit.

    Relativ einfach kann ich hingegen die von Ihnen gewünschten Belege zur Judenfeindschaft von Diderot und anderer Aufklärungsphilosophen liefern. Ein Buch dazu muss ich nicht schreiben, es gibt dazu bereits Literatur:

    GUDRUN HENTGES: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und ‚Wilden‘ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. 298 S., Wochenschau Verlag, Schwalbach/Taunus 1999, ISBN 3-87920-485-3, DM 58,-

    Zitat aus einer Besprechung des Buches (http://www.ursulahomann.de/NichtImmerWarenDeutschePhilosophenJudenWohlGesinnt/kap001.html): „Im Artikel ‚Judaisme‘ (wahrscheinlich hat ihn Diderot verfasst) werden Diskriminierung und Pogrome der Juden nüchtern und sachlich dargestellt, rein deskriptiv, ohne deutliche Parteinahme gegen den Antijudaismus, bemängelt Hentges. In einem anderen Beitrag vertrat Diderot die These, dass die jüdische Nation ignorant, abergläubisch und fanatisch sei.“

    Eine weitere Buchempfehlung:

    MICHA BRUMLIK: Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. 351 S., Luchterhand-Verlag, München 2000, ISBN 3-630-88003-7, DM 48,-

  8. @ Werner Engelmann

    Hier mein zweiter Versuch zu erklären, was mich an Ihrem Beitrag # 3 irritiert: Annette Kahane, die in ihrer Kolumne den Antisemitismus innerhalb der „Allianz der Verschwörungstheoretiker“ benennt, halten Sie „trügerische Klarheit“ vor und mutmaßen, „die Diskussion über Missbrauch des ‚Antisemitismus‘-Begriffs“ sei an ihr spurlos vorübergegangen.

    Wir sind uns wohl einig, dass ein Teil der „Wutbürger“ (wie sie Bronski bezeichnet) erklärte oder verkappte Antisemiten sind. Etwas anderes hat auch Kahane über den „Mischmasch“ nicht behauptet und auch nicht versucht, diesen auf „einen Begriff“ zu bringen, wie Sie meinen. Worin bestzeht also der von Ihnen beanstandete Missbrauch des Begriffs des Antisemitismus?

    Die Kritik Kahanes, so wie ich sie verstehe, richtet sich dagegen, dass sich immer mehr „Wutbürger“ von diesem Antisemitismus nicht abschrecken lassen und mit den Verschwörungstheoretikern eine gemeinsame Front bilden. Das es tatsächlich so ist, können Sie gut an den erschreckenden Leserkommentaren sehen, die die von Ihnen verlinkte Analyse von Hanning Voigts auf FR online begleiten.

    Antisemitismus wird dabei nicht nur achselzuckend hingenommen, sondern es werden immer öfter unreflektiert und gedankenlos Begriffe und Denkfiguren aus der Mottenkiste des Antisemitismus verwendet, wofür Sie in den angesprochenen Leserkommentaren genügend Beispiele finden. Nochmals: Kritik an den USA, Israel, „dem Westen“ oder dem „Finanzkapital“ usw. ist (oft) berechtigt, antisemitische Klischee sind es nicht.

    Ich stimme Ihnen zu, dass bei der Bewertung der Motive der „Wutbürger“ Differenzierung nötig ist. Ich wäre aber dankbar, wenn auch Sie mir zustimmen würden, dass „Koalitionen“ mit Antisemiten nicht akzeptabel sind.

    P.S.: Ich verkenne nicht die Bedeutung der Aufklärungsphilosophie. Ihr ist auch die europäische (bürgerliche) Emanzipation der Juden mit zu verdanken. Kant – um ein Beispiel zu nennen – hatte, trotz seiner antijüdischen Einstellungen, das jüdische Denken in Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts stark beeinflusst. Ein bekennender Neukantianer war Hermann Cohen („Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“).

  9. @JaM,#6,7
    Zunächst danke für Ihre Beiträge und den Link. Das ist eine Ebene, auf der sich immerhin diskutieren
    1. Zunächst zu den Bemerkungen über Diderot als angeblichen „Judenfeind“:
    Dies ist zwar eine akademische Frage, im thematischen Zusammenhang meiner Ausführungen in #3 irrelevant. Da geht es ja nicht um Diderot als Person und auch nicht um seine Philosophie als solcher. Dennoch sei hier darauf eingegangen.
    Zum Artikel in der Enzyklopädie: Unterscheidung zwischen Person und Sache ist Voraussetzung jedes wissenschaftlichen Verfahrens. Die Enzyklopädie stellt die Zusammenfassung des WISSENS seiner Zeit dar. Sachliche, unparteiliche Darstellung ist dafür eine Bedingung. Einen Rückschluss auf das Denken des Autors lässt dies also nur in seltenen Fällen zu, konkret etwa nur dann, wenn der jeweilige Artikel in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Philosophie steht.
    Dazu die Begründung für Ihre Kritik:
    „Im Artikel ‚Judaisme‘ werden Diskriminierung und Pogrome der Juden nüchtern und sachlich dargestellt, rein deskriptiv, ohne deutliche Parteinahme gegen den Antijudaismus, bemängelt Hentges.“
    Eine Bemerkung, mit der die Autorin sich selbst diskreditiert. Die Forderung nach „Parteinahme“ in (einem Lexikonartikel!) erweist ideologische Voreingenommenheit, erinnert in fataler Weise an Prinzipien und doktrinären Wahrheitsanspruch des „wissenschaftlichen Sozialismus“.
    Schlimmer noch, daraus Rückschlüsse auf die Person (!) ziehen. Ein ziemlich haarsträubendes und insbesondere Diderot betreffend unzulässiges Verfahren, das offensichtlich seine spezifische Methode ignoriert.
    Damit haben freilich auch andere Interpreten ihre Schwierigkeiten, etwa wenn sie meinen, aus Positionen von „Jacques le Fataliste“ auf einen Fatalismus von Diderot selbst schließen zu können. Sie ignorieren dabei (so Eric-Emmanuel Schmitt: „Diderot ou la philosophie de la séduction“) gerade das, was sein philosophisches Denken ausmacht: die geradezu spielerische Gegenüberstellung gegensätzlicher Positionen und die Freude an dem, was sich im darauf aufbauenden Dialog daraus entwickelt.
    Ähnliche Bedenken scheinen auch (zumindest anhand der in dem Link gegebenen Besprechung) bei der von Brumlik angewandten Methode der Betrachtung a posteriori angebracht. Zwar ist diese als Untersuchungsmethode zunächst legitim. Die darauf aufbauende Beurteilung der Autoren (!), aus dem Kontext deren eigenen Denken und dem ihrer Zeit herausgerissen, ist es jedoch nicht. Schon gar nicht, wenn die eigene Position („Judentum“) per se als sakrosankt, jeglicher Kritik entzogen angenommen und zum Maßstab der Beurteilung anderer Ansätze und Denkweisen wird. Aus dem um Verstehen ringenden Interpreten wird – überspitzt ausgedrückt – ein Scharfrichter, vor dessen Urteil nur bestehen kann, wer dessen eigenen – offenbar ideologisch bedingten – Prämissen entspricht.
    In dem Maße, in dem zusätzlich, aus einer Betrachtung a posteriori, über 2 Jahrhunderte spätere Holocausterfahrungen (zumindest implizit) in das Bewertungssystem eingebracht werden, ist dadurch der Missbrauch des „Antisemitismus“-Vorwurfs als Kampfbegriff vorgezeichnet (wie Moshe Zuckermann in „Antisemit!“ ihn analysiert): Sachliches Erkenntnisinteresse weicht so dogmatischen Festlegungen und interessegeleiteter Stigmatisierung.

    2. „Wutbürger“ und „Antisemitismus“:
    In diesem Zusammenhang steht auch meine Kritik an Anetta Kahane, der bei ihrem inflationären Gebrauch des „Antisemitismus“-Vorwurfs wie auch dem völlig ungenügenden „Beweis“-Verfahren offenbar nicht bewusst ist, auf welchem Glatteis sie sich bewegt.
    Dazu eine ihrer Äußerungen:
    „Jede dieser Gruppen für sich genommen ist meschugge, und wie alle Verrückten haben sie ihre Fans. Doch zusammen bilden sie die Ideologie eines modernen antisemitischen Pessimismus, der so widersinnig wie gefährlich ist. Und in Israel befinde sich das Herz des Bösen.“
    Bei unvoreingenommener, sachlicher Betrachtung fällt sofort der Gedankensprung (von Israel ist sonst nirgendwo die Rede), vor allem aber die Widersprüchlichkeit auf: Geht sie zunächst von Diversität und Fehlen bestimmter ideologischer Einstellungen („meschugge“) aus, so behauptet sie unmittelbar darauf gerade das Gegenteil, schließt auf eine einheitliche ideologische Ausrichtung. Ein typisches Beispiel unkorrekter Verallgemeinerung, bei der sie zudem in die Falle des hermeneutischen Zirkelschlusses tappt, das bereits vorauszusetzen, was erst noch zu beweisen wäre.
    Im Unterschied dazu völlig korrekt Hanning Voigts:
    Er geht von einer „diffusen Protestbewegung“ aus, die „ihre Kraft aus einer realen Bedrohung“ bezieht. Das einigende Band ist für ihn dabei die „populäre Versuchung, die multiplen Krisen der Gegenwart als Folge des Handelns weniger, bösartiger Mächtiger zu begreifen“. Eine „naive, pseudo-rebellische und unterschwellig ressentimentgeladene Weltsicht“, die als solche noch keine eindeutige ideologische Ausrichtung enthält, die aber – auch hier wieder korrekt – „in Verschwörungsdenken und Antisemitismus kippen KANN“. Was bei Kahane als Faktum behauptet wird, ist für ihn eine „Gefahr“, die man aber „auch nicht überschätzen sollte“.
    So sieht eine sachliche Analyse aus, die sich nicht dem Vorwurf aussetzt, durch Beschwörung mitzuhelfen, das erst herbeizuführen, was sie bekämpft, und die daher auch einen kühlen Kopf bewahren kann.
    3. Eigene Position
    Vorausgeschickt eine Bemerkung: Ihrer Meinung, dass „Koalitionen“ mit Antisemiten nicht akzeptabel sind, stimme ich nicht nur zu. Es geht m.E. auch um eine offensive Auseinandersetzung damit und vor allem um eine Analyse der Ursachen. Dazu gehören aber auch eine eindeutige Definition, was ein „Antisemit“ überhaupt ist, ein eindeutiger Beleg und eine klare Abgrenzung von Unterstellungen und Missbrauch, etwa zur Verhinderung von Kritik an israelischer Besatzungspolitik (oder wie auch in Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte zu erfahren war).
    Ich hoffe aber auch, deutlich gemacht zu haben, dass ich für die, m.E. in vielfacher Hinsicht lächerlichen Verhaltensweisen dieses neuen „Wutbürgertums“ nicht die geringste Sympathie empfinde. Was aber nicht erübrigt, deren Ursachen sachlich zu analysieren und sie insofern auch „nachzuvollziehen“. Eben dies habe ich in meinem Beitrag #3 versucht.
    Aus dieser Analyse wird aber deutlich, dass es um (durchaus begründete) fundamentale Verunsicherungen in einer typischen Krisenstimmung geht, die weit eindeutigere und umfassendere Gefahren zeitigt als die eines diffusen „Antisemitismus“: so die vor allem die auf EU und EU-Institutionen gerichtete Zerstörungswut, die Infragestellung und Unterminierung eines humanitären und weitgehend universellen Wertesystems, aus Jahrhunderte alten Erfahrungen und Auseinandersetzungen erwachsen (unter anderem der Aufklärung), die Hofierung autokratischer, von Ressentiment und Fremdenfeindlichkeit geprägter Systeme. Die Gefahr ist m.E. vor allem in der, ebenso bewusst geschürten wie sich selbst bestätigenden, Emotionalisierung und Empörungshaltung bei der Ukraine-Krise deutlich geworden. Und diese hat auch gezeigt, dass sich Solches verselbständigen und rationaler Kontrolle entziehen kann.
    Der antisemitischen Rhetorik einzelner Rattenfänger kommt in diesem Zusammenhang m.E. eher die Funktion eines Mittels zu, eine solche Dynamik durch Funktionalisierung vorhandener Ressentiments abzusichern und weiter anzufachen. Zweck scheint sie nur insofern zu sein, als sich dadurch in diffuser Weise Feindbilder, auch und gerade neuer Art entwickeln lassen (z.B. Putin als Garant gegen homophile westliche „Entartung“).
    Zur Frage der Abwehr:
    Die entscheidende Bedeutung kommt m.E. der Überwindung der Krisensituation zu, auf die freilich der einzelne Bürger wenig Einfluss hat. Als flankierende Maßnahme ist aber auch die Auseinandersetzung mit solchen „Wutbürgern“ von Bedeutung. Sicher nicht in Form der Stigmatisierung. Wohl aber durch Aufdecken von Widersprüchen, Entlarvung verschleierter Zusammenhänge (evt. auch satirisch) vor allem aber durch Einbinden in einen Dialog, der zur Konkretion zwingt. Denn den scheut, wer in seinen Ressentiments schwelgt, wie der Teufel das Weihwasser. Und dazu dient u.a. auch ein Forum wie dieses hier.
    Nun wird man oft keine Antwort erhalten. Als ehemals aktiver AI-Mitarbeiter weiß ich aber, dass dies nichts besagt: Deren langjährige Erfahrungen zeigen, dass deren Appelle nie beantwortet werden, dass sie aber dennoch Wirkung zeitigen.
    Man sollte die Hoffnung also nicht aufgeben.

  10. Korrektur des unvollständigen 1.Satzes in #8:
    Zunächst danke für Ihre Beiträge und den Link. Das ist eine Ebene, auf der sich immerhin diskutieren lässt.

  11. @ Werner Engelmann
    Allmählich finden wir eine Diskussionsbasis, auf der ein Austausch von Argumenten und damit ein Zugewinn an Erkenntnissen möglich sind. Versuchen wir also, weiter unsere Positionen zu klären.
    1. Diderots „angebliche“ Judenfeindschaft
    Ich nehme an, dass Sie die beiden Bücher, auf die ich verwiesen habe, in der Kürze der Zeit genauso wenig gelesen haben wie ich. Es erscheint mir daher etwas voreilig, nur anhand einer Rezension (!) ihren Autoren „haarsträubendes“ Verfahren oder gar „dogmatischen Festlegungen und interessegeleiteter Stigmatisierung“ vorzuhalten. Ich kenne Diderot nicht so gut wie Sie, aber seine zitierte These, wonach die jüdische Nation ignorant, abergläubisch und fanatisch sei, erscheint mir durchaus als erster Beleg für eine Judenfeindschaft. Zu Kant (und anderen deutschen Philosophen) lassen sich leicht noch schlimmere Zitate finden.

    Selbstverständlich sind Diderot, Kant et all aus ihrer jeweiligen Zeit zu verstehen. Selbstverständlich ist ihr Antisemitismus nur ein Aspekt ihrer Persönlichkeit und eine moralische Aburteilung der Person oder gar des Werks aus heutiger Sicht wäre töricht. Trotzdem denke ich, dass sich die „persönlichen“ Einstellungen und das philosophische Denken nicht gänzlich trennen lassen, zumal was die Wirkungsgeschichte dieser Philosophen und ihres Antisemitismus betrifft, was keinesfalls nur eine akademische Frage ist.

    Sie werden mir vermutlich zustimmen, dass der Antijudaismus von Martin Luther auch mehr als 5. Jahrhunderte später erheblich zu der hohen Zustimmungsrate für die Nazis im deutschen Protestantismus beigetragen hat. Im kommenden Luther-Jubiläumsjahr wird sich deshalb die evangelische Kirche auch mit diesem Aspekt der Reformation auseinandersetzen. Dabei führt keine kausale Kette von Luther (oder den antijüdischen Aufklärungsphilosophen) zur Schoa; der Völkermord am europäischen Judentum ist das Werk der nationalsozialistischen Verbrecher. Ohne die Akzeptanz, die Nazis mit ihrem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft gefunden haben, wäre aber die Schoa nicht möglich gewesen. Dass es diese Akzeptanz auch im „aufgeklärtem“ Bürgertum gab, ist (neben anderen, zum Teil gewichtigeren Ursachen) auch die Folge des Antijudaismus der Philosophen der Aufklärungszeit. Sich zum Volk der „Dichter und Denker“ zu zählen und ein Antisemit zu sein, war eben kein Widerspruch. Das Reichsicherheitshauptamt, die Schaltzentrale des NS-Terrors und der Schoa, war gut mit akademisch gebildetem Personal besetzt.

    Nach dem Zivilisationsbruch der Schoa war der Antisemitismus diskreditiert, die lange wirkenden historischen Stränge schienen gekappt zu sein. Doch vieles wurde nur verdrängt und nicht „aufgearbeitet“, wie die Entwicklung der letzten Jahre leider zeigt. Dazu – und zum Antisemitismus der „Wutbürger“ – mehr später.

  12. @ JaM,#10

    Danke für Ihre Präzisierungen. Auch wenn ich eine Debatte über Aufklärung durchaus spannend finde, möchte ich doch lieber zur eigentlichen Thematik zurückkommen und einen neuen Ansatz versuchen.
    1. Zur Frage der Aufklärer daher nur das Wichtigste.
    Zunächst zur Klarstellung: Mein Ausdruck „haarsträubendes Verfahren“ bezog sich ausschließlich auf das Zitat von Hentges mit der Forderung nach „Parteinahme“, das so in keiner wissenschaftlichen Untersuchung etwas zu suchen hat.
    Nun zu Ihrer Stellungnahme:
    „Ohne die Akzeptanz, die Nazis mit ihrem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft gefunden haben, wäre aber die Schoa nicht möglich gewesen. Dass es diese Akzeptanz auch im ‚aufgeklärtem‘ Bürgertum gab, ist (neben anderen, zum Teil gewichtigeren Ursachen) auch die Folge des Antijudaismus der Philosophen der Aufklärungszeit.“
    Mit den ersten beiden Aussagen bin ich voll einverstanden (dazu im zweiten Teil), mit der letzten allerdings nicht.
    Diese stellt eine offensichtliche Verkürzung dar. Was auf die Nachwelt, (ausgenommen einige wenige Spezialisten) einwirkt, sind nicht in erster Linie die jeweiligen Quellen selbst, sondern die – oft verzerrenden – Rezeptionen davon.
    Dazu als Beispiel die Goethe- und insbesondere die Faustrezeption: Dass der „Faust“ zum meistgespielten Stück der Nazizeit avancierte, ist sicher nicht einem Goethe anzulasten, sondern den im 19. Jh. folgenden verzerrenden nationalistischen Interpretationen, die Faust zum Typus „des Deutschen“ stilisierten und so dessen Instrumentalisierung im nazistischen Sinn erst ermöglichten. (Interessant in diesem Zusammenhang bei Klaus Manns „Mephisto“ die Selbstentlarvung aus dem Munde des „Ministerpräsidenten“ – Göring repräsentierend -, der nicht Faust, sondern Mephisto als die Inkarnation „des Deutschen“ bezeichnet.)
    Ihrer Einschätzung widersprechen auch andere „Zeitzeugen“, so auch Lessing, dem man mit Sicherheit keine „judenfeindliche“ Einstellungen nachsagen kann. Er kannte Diderot bestens, teilte voll und ganz seinen Impetus, griff gezielt seine Anregungen auf, so im „genre sérieux“ als Gattung zwischen Tragödie und Komödie. Und er setzte diese in seinen bürgerlichen Trauerspielen sowie in „Nathan der Weise“ um, den man nicht nur als Eloge auf Toleranz, sondern auch auf das Judentum lesen kann. Ich habe meine Staatsarbeit darüber geschrieben. Von irgendwelcher Kritik wegen angeblicher „Judenfeindschaft“ Diderots habe ich bei dem sonst durchaus scharfzüngigen Lessing nicht eine Spur gefunden.
    Eine generelle „Bewertung“ der bedeutenden Aufklärungs-Epoche erscheint, wenn überhaupt, dann nicht anhand isolierter Fragestellungen, sondern nur unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf heutiges universales Denken sinnvoll, bis hin zur Menschenrechtserklärung der UN, evt. auch im Vergleich zu Kulturkreisen (wie der islamischen Welt), die von ihr nicht erfasst wurden. Zeitbedingte Irrtümer sind in diesem Zusammenhang, sofern sie nicht in der Rezeption eine neue Tradition begründeten, ziemlich irrelevant. Dies scheint mir auch für die Untersuchungen Brumliks zu gelten.
    Abschließend hierzu möchte ich (ohne eine neue Debatte eröffnen zu wollen) auch darauf verweisen, dass bestimmte klerikale, besonders fundamentalistische Kreise (z.B. in „Kreuz.net“), die Aufklärung (gewissermaßen in einem Revancheakt) als solche zu diskreditieren suchen, um deren eigentlichen Verdienste rückgängig zu machen, nämlich eine universalistische, auf Humanität statt auf (zu allen möglichen Zwecken instrumentalisierbare) Transzendenz gerichtete Orientierung.
    So haben sich Aufklärungskritiker auch die Frage zu stellen, ob bzw. in welchem Maße sie durch Aufbauschen isolierter, irrelevanter Detailfragen nicht solchen fragwürdigen regressiven und generell antihistorischen Tendenzen entgegenkommen.

    2. Zum 1. Teil Ihrer Aussage, Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft.
    Natürlich gab es den, ausgehend vom Mittelalter, nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Und natürlich wäre die Verbindung von Finanzkapital und Judentum im nazistischen Diskurs nicht möglich gewesen ohne die vorangegangenen Diskriminierungen.
    Wie tief die Vorurteile saßen, kann man z.B. daran ermessen, dass nicht einmal ein Friedrich II. es wagte, einen Moses Mendelssohn (Lessings Freund), den er als Philosophen hoch schätzte, wegen seines Judentums in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufzunehmen.
    Als Beweis dafür, dass diese Vorurteile auch vor gut bürgerlichen Intellektuellen nicht Halt machten, bedarf es keines Beispiels Richard Wagner. Und ebenso zeichneten sich nazistische Intellektuelle, etwa ein Mengele, durch besonderen Zynismus aus.

    Hierzu nun mein neuer Ansatz, ausgehend von Alfred Anderschs Erzählung „Vater eines Mörders“:
    Anderschs antifaschistischer Ansatz – so viel vorweg – ist nicht der einer (relativ abstrakten) gesellschaftlichen Analyse (wie etwa bei Brecht). Er beschreibt vielmehr konkrete Verhaltensweisen während des Faschismus. So im autobiografischen Roman „Kirschen der Freiheit“ auch seine eigene Entwicklung vom kommunistischen Jugendfunktionär, über die Hinwendung zur Kunst aus Enttäuschung über die Sinnlosigkeit dieser Aktionen, bis zu seiner Fahnenflucht von der deutschen Wehrmacht in Süditalien.
    In seinem letzten Werk, „Vater eines Mörders“, greift er auf eigene Jugenderinnerungen zurück. Er beschreibt eine einzige Schulstunde beim Vater Heinrich Himmlers, Oberstudiendirektor für Griechisch und Latein. In seinem Hass auf den Adel sucht dieser einen Anlass, einen adligen Schüler, zu dessen Vater er eigentlich ein gutes Verhältnis pflegt, der Schule zu verweisen. Angesichts seines Zynismus scheint dabei in der Einschätzung des jungen Andersch sogar eine gewisse Sympathie für den „jungen Himmler“ durch, der in tiefer Feindschaft zu seinem Vater lebt.
    Während also der Vater Himmler, äußerlich gesehen, für eine „humanistische Bildung“ stand, wurde der Sohn zu einem der schlimmsten Massenmörder der Geschichte. Und so ruft denn Andersch im Nachwort aus: „Schützt denn Humanismus vor gar nichts mehr? Die Frage kann einen zur Verzweiflung bringen.“
    Auch, wenn es anmaßend erscheinen mag, erklären zu wollen, woran ein Andersch verzweifelte, möchte ich es doch versuchen:
    Ein Oberstudiendirektor Himmler repräsentierte nur noch der Form nach einen Humanismus, der längst inhaltlich ausgehöhlt, in zynische Arroganz umgeschlagen war. Opposition und Widerstand dagegen erscheint daher zunächst sympathisch. In diesem naiven Glauben verharrt auch der junge Andersch. In Wirklichkeit geht aus der Negation des Negativen aber nichts Positives, sondern noch viel Schlimmeres hervor. Der Protest des Heinrich Himmler wendet sich nämlich nicht gegen die Perversionen, sondern gegen die noch verbliebenen menschlichen Reste seines Vaters, und er kombiniert dessen Arroganz und Zynismus mit unvorstellbarer Grausamkeit. Geschichte und Psychologie richten sich eben nicht nach mathematischen Formeln, sind nicht in solcher Allgemeinheit verstehbar. Sie verlangen immer die Konkretion.
    Der hier beschriebene psychologische Mechanismus, der vielleicht besonders deutlich, aber sicher nicht nur bei Himmler zu beobachten ist, erklärt m.E. zumindest teilweise die von Ihnen genannte Beteiligung auch akademisch gebildeter Menschen an der Schoah. Um Andersch aufzugreifen: Akademische Bildung garantiert eben noch keine Menschlichkeit. Fehlende Bildung aber sicherlich auch nicht.

    M.E. lassen sich mit diesem Ansatz auch andere historische Erfahrungen deuten. So etwa der Irrtum der Studentenbewegung der 68er. Die hat bei ihren Protesten wohl nicht geahnt, dass auf die Diktatur eines Schah von Persien ein noch schlimmeres System im Iran folgen würde.
    Grund genug also, solche Erfahrungen zu bedenken und mit populistischen Oppositionsbewegungen kritisch umzugehen. Auch wenn vom heutigen „Wutbürgertum“ durchaus Kritikwürdiges aufgezeigt wird: Die vorurteilsgeladene, hochemotionalisierte Form der Kritik, die Neigung zu Ressentiments und einfachen Feindbildern, die Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft, aus der Kritik auch nur ansatzweise reflektierte alternative Handlungsmodelle zu entwickeln – all dies lässt den Verdacht zu, dass sich auch hier aus der bloßen Negation eine Tendenz zu noch Negativerem als dem Kritisierten vollziehen könnte. Ein Hinweis darauf ist der abgrundtiefe Hass gegen Institutionen und deren Repräsentanten, die eben (auch nach dem Selbstverständnis der „Wutbürger“ keineswegs nur Negatives hervorbringen, sondern ihnen gerade erst ihre Freiheiten ermöglichen. Als Beispiele seien die beiden letzten Urteile des EuGH in Sachen Datenschutz und gegen Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten von Internetservern wie Google genannt.
    Geschichte lässt zwar Lehrbeispiele erkennen, wiederholt sich aber niemals in der gleichen Form.
    Daher – und damit beziehe ich mich auf den Teil 3 meines Beitrags #9 – sollte der Blick weniger auf vergangenheitsbezogene Formen des Antisemitismus gerichtet sein, als vielmehr auf neue Feindbilder. So die EU, die es ja in solcher Form vorher niemals gab. Die ein völlig neues, natürlich fehlerbehaftetes historisches Projekt darstellt, deren angemessene Form sich erst in einem langen, möglichst demokratischen Prozess ihre angemessene Form finden muss. Dazu ist jede Form von Diskussion und Opposition förderlich, ressentimentgeladene Zerstörungswut aber nicht.
    (Entsprechend verweise ich auch auf meinen Beitrag #4 im Thread „Der Westen ist bankrott“.)

  13. @ Werner Engelmann

    Wenn ich richtig zähle, wird dieser Thread in fünf Tagen geschlossen. In der verbleibenden Zeit kann ich nur auf wenige Aspekte Ihrer Entgegnungen eingehen.

    Die Bedeutung der Aufklärung für die Entwicklung der europäischen Gesellschaften habe ich nicht in Abrede gestellt. In diesem Punk beziehen Sie unnötig eine Verteidigungsposition. Der Antisemitismus (oder zumindest Antijudaismus) der Mehrzahl ihrer Träger (Goethe und insbesondere Moses Mendelssohns Freund Lessing gehören zu den wenigen Ausnahmen) bleibt aber eine belegbare Tatsache mit einer ebenso belegbaren, bis heute reichenden Wirkungsgeschichte. Die antijüdischen Zitate von Kant, Voltaire u.a. werden immer noch, z.B. auf Neonazi-Seiten im Internet, verbreitet.

    Doch lassen wir die Geschichte und kommen zurück zur Gegenwart. Sie schreiben: „In diesem Zusammenhang steht auch meine Kritik an Anetta Kahane, der bei ihrem inflationären Gebrauch des ‚Antisemitismus‘-Vorwurfs wie auch dem völlig ungenügenden ‚Beweis‘-Verfahren offenbar nicht bewusst ist, auf welchem Glatteis sie sich bewegt.“ Dem stellen Sie zustimmend die Analyse der „Wutbürger“ von Hanning Voigts gegenüber. Dabei übersehen Sie meiner Meinung nach, dass sich Kahane und Voigts nicht widersprechen, sondern ergänzen. Kahane hat, entsprechend der Form einer Kolumne zugespitzt formuliert, den Aspekt des Antisemitismus als Bindeglied unterschiedlicher wirrer („meschuggener“) Ideologien der Querfront aufgegriffen, den Sie – mit den von Ihnen angemahnten Belegen – auch in dem deutlich ausführlicheren Beitrag von Voigts finden. Den von Ihnen implizit erhobenen Vorwurf, Kahane würde alle „Wutbürger“ des Antisemitismus beschuldigen, finde ich in der Kolumne nicht.

    Als ein Beleg für den überzogenen Antisemitismusvorwurf sehen Sie, dass Kahane Israel erwähnt. Nur: Israel (wahlweise „die Zionisten“) spielt in den Verschwörungstheorien fast immer eine zentrale Rolle. Zu Recht nennt Kahane die Aussage, Israel sei „das Herz des Bösen“ antisemitisch. Wie Sie daraus schließen können, Kahane würde auch jede Kritik an der Besatzungspolitik Israels unter Antisemitismusverdacht stellen, bleibt Ihr Geheimnis.

    Im Übrigen: Die von Ihnen angemahnte Definition des Antisemitismus finden Sie in UN-Dokumenten.

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