Steinmeier hat kein öffentliches Bedauern gezeigt

Deutschland bekommt in einigen Monaten einen neuen Bundespräsidenten. Wie die Dinge stehen, wird er wohl Frank-Walter Steinmeier heißen und von der SPD kommen. Letzteres ist in der Vergangenheit noch nicht so häufig der Fall gewesen. Steinmeier ist bei den Deutschen beliebt, wohl nicht zuletzt deswegen, weil er als Außenminister eine gute Figur macht. Er gilt als besonnen und integer. Aber er hat auch Fehlentscheidungen getroffen, in seiner Zeit als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder. Der Fall hat einen Namen: Murat Kurnaz. Daran erinnert FR-Leserin Dagmar Schön aus München, deren nun folgender Leserinbrief am 25. November 2016 auch in gekürzter Fassung im Print-Leserforum der FR veröffentlicht wurde.

Steinmeier hat kein öffentliches Bedauern gezeigt

Von Dagmar Schön


Zur Zeit jagt ein politisches Schockerlebnis das andere. Die Tatsache, dass in Amerika ein Mann, der von Psychiatern als „Lehrbuch-Narzisst“ bezeichnet wird und sich ganz ungeniert wochenlang als überzeugter Frauenbeschämer im Wahlkampf präsentierte, zum Präsidenten gewählt wurde, ist noch nicht verdaut, da rollt bereits die nächste Schockwelle an: Herr Steinmeier, derzeitiger Außenminister, für den es weitaus wichtigere Dinge gibt als Menschen- und Grundrechte, wird Bundespräsident. Diese (Vor-) Entscheidung wird bundesweit gelobt und gefeiert.

Es gibt die These, dass es eine Verbindung gibt zwischen häufigen Individualerkrankungen und kollektiven Verfasstheitheiten. Der Steinmeier-Jubel könnte ein Indiz für diesen Sachverhalt sein, denn er ist nur durch eine kollektive Amnesie zu erklären, die wiederum mit den sprunghaft zunehmenden Demenzerkrankungen korreliert. Vergessen, auch wenn gar nichts bereinigt ist, ist ja ungeheuer praktisch. Vor allem für Täter. Bei Herrn Steinmeier gibt es einiges zu vergessen für ihn und für andere, wobei ich jetzt gar nicht seine Tätigkeit als Miterfinder der „Agenda 2010“ oder als Koordinator der deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg meine. Da war er mehr oder weniger nur ein kleines Rädchen im Getriebe, da gab es viele Entscheider.

Maßgeblich verantwortlich und persönlich schuldig hat er sich, zusammen mit dem glücklicherweise nicht mehr nach Ämtern strebenden Otto Schily, gegenüber zwei Folteropfern der Amerikaner gemacht: Murat Kurnaz und Kahled el-Masri.

Viereinhalb Jahre Folterhaft von Murat Kurnaz in Guantanmo und die unsäglich Behandlung des unschuldigen Entführungs- und Folteropfers El Masri, disqualifizieren Herrn Steinmeier für jedes politische Amt mit einer Verantwortung, die über die für ihn selbst hinausreicht.

Murat Kurnaz wurde 2002, als Zwanzigjähriger, viereinhalb Jahre unschuldig in dem rechtsfreien Foltergefängnis der Amerikaner, in Guantanamo-Bay, ohne Anklage oder gar Verurteilung, festgehalten und gefoltert. Das, bereits im Herbst 2002 gemachte Angebot von US-Stellen, Kurnaz nach Deutschland ausreisen zu lassen, lehnte die Bundesregierung aufgrund der verantwortlichen Entscheidung des damaligen Geheimdienst- und Kanzleramtschefs Steinmeier ab. Kurnaz kam deshalb erst nach viereinhalb Jahren, im August 2006, frei.
Wenn Steinmeier gerade jetzt die Menschenrechte in der Türkei einfordert, ist das zwar notwendig und löblich, aber jeder weiss, dass deshalb Herr Erdogan nicht einen einzigen Inhaftierten freilassen wird.

Damals, 2002, als Steinmeier die Freilassung eines Menschen sogar angeboten wurde, sagte Steinmeier in verantwortlicher Position „Nein, danke!“ Die Begründung damals: Kurnaz ist zwar in Deutschland geboren, aber kein Deutscher und außerdem könnte es uns (der Regierungspartei genaugenommen) schaden, wenn wir einen Mann, der von den Medien, zwar ohne jeden Beweis, aber immer wieder, als ‚Bremer Taliban‘ denunziert wurde, einfach wieder aufnehmen. Es gab keinerlei Beweise für eine Gefährlichkeit von Kurnaz.

Herr Leyendecker erinnert wegen neu aufgetauchter Dokumente, in der SZ vom 12.12.2008, noch einmal an das Verhalten Steinmeiers: „Für den Chef des Kanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, ….sei klar, dass eine Rückkehr in die deutsche Heimat ‚nicht zuzulassen‘ sei….. Sogar die CIA war verblüfft. Als die Deutschen 2002 Kurnaz partout nicht haben wollten, sprach der US-Beamte darüber mit einem deutschen Geheimdienstler.“ Bruder im Geiste war für Steinmeier damals der Innenminister Otto Schily. „Noch im Herbst 2005 sollte eine Rückkehr von Kurnaz mit allen Mitteln verhindern werden. Die US-Behörden wurden sogar für ihr ständiges Insistieren auf seine Überstellung nach Deutschland gerügt,“ beschreibt am 20. Januar 2007 Peter Nowak auf heise.de die Haltung von Steinmeier und Schily.

Das Amt des Bundespräsidenten ist mit der Aufgabe „der Verteidiger der sozialen und rechtsstaatlichen Republik“ zu sein von einem Journalisten richtig beschrieben worden. Richtig ist auch, dass dies selten in der bundesdeutschen Geschichte so notwendig ist wie gerade jetzt. Warum jubeln dann alle unisono über den Juristen Steinmeier, der sogar ohne Not das Eintreten für Menschenrechte hintanstellte, als er konkreten Menschen hätte helfen können, nur weil seine Partei eventuell Akzeptanzverluste beim BILD-getunten Massenbewusstsein zu befürchten gehabt hätte?

Auch mit geringstem historischen Bewusstsein weiss man, dass Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, nicht reich, erfolgreich und berühmt werden, sondern großes Glück haben, wenn sie dieses Engagement überleben. Herr Steinmeier setzte sich nicht einmal in der höchst kommoden Position eines Kanzleramtsministers für zwei Folteropfer ein.

Warum sollte er sich eventuelle Unannehmlichkeiten einhandeln, wenn er Bundespräsident ist und von allen hofiert wird?

Woher diese geradezu ekstatische Freude über Steinmeier als Bundespräsident bei fast allen Mainstreamjournalisten herrührt, ist mehr als rätselhaft wenn den konkreten Menschenrechtseinsatz von Herrn Steinmeier betrachtet. Vielleicht ist die kollektive Amnesie, die kollektive Demenz, doch schon weiter fortgeschritten, als man glauben möchte.

Steinmeier hat das Unrecht, das er Herrn Kurnaz angetan hat und das unentschuldbar und auch unentschädigerbar ist, noch kein einziges Mal öffentlich bedauert oder sich gar bei Herrn Kurnaz, der es immer noch schwer hat, dafür entschuldigt. Von einem Einsatz für eine wenigstens materielle Entschädigung ganz zu schweigen. Für all diese Aktionen bräuchte er kein gutes Gedächtnis, sondern nur das Herz am richtigen Platz.
Ein durchaus naheliegender Verdacht: Wurde es ihm zusammen mit der Niere für seine Frau gar entnommen und entsorgt?

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39 Kommentare zu “Steinmeier hat kein öffentliches Bedauern gezeigt

  1. Wenn man dem ZDF-Politbarometer Glauben schenkt, zählt Frank-Walter Steinmeier zu den beliebtesten deutschen Politikern. Mein Freundes- und Bekanntenkreis, mich selbst eingeschlossen, wundert sich darüber. Allerdings sind wir auch noch nie von Demoskopen über unsere Meinung zum derzeitigen Außenminister, SPD-Kanzlerkandidaten von 2009 und Staatsminister im Kabinett Schröder befragt worden. Vielleicht erfüllen wir die Zugangsvoraussetzungen für solche Interviews nicht: Beispielsweise einen Facebook-Account (den keiner von uns unterhält) oder der regelmäßige Besuch von Harmonie-Veranstaltungen, auf denen Helene Fischer, Andrea Berg, Hansi Hinterseer oder Andreas Gabalier der Volksseele Mut machen (auch da können wir nicht mithalten). Folglich müssen wir befürchten, dass Steinmeier, sollte er zum Bundespräsidenten gewählt werden, unser Gesellschafts- und Politikverständnis nicht repräsentiert. Aber das mussten wir auch von anderen Sozialdemokraten erfahren, die sich, kaum in Amt und Würden, als Renegaten erwiesen.

    Steinmeier sei ein „Mann der Mitte“, erklärte die Bundeskanzlerin zu seiner Nominierung durch die Große Koalition. Und er genösse die Unterstützung der Wirtschaft und anderer gesellschaftlicher Gruppen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, lobte gar, dass er „für Hartz IV gekämpft“ habe.

    Die LINKE hat diese Steilvorlage gern angenommen. Schließlich wirft sie ihm vor, zu den verantwortlichen Konstrukteuren der Agenda 2010 gehört zu haben. Die Reaktion folgte dann auch postwendend: Die Partei präsentierte den Armutsforscher Christoph Butterwegge als Kandidaten. Er scheint mir den Problemen dieses Landes näher und zugewandter zu sein. Der überwiegende Teil der Steinmeier-Fans wird ihn vermutlich kaum kennen und bei Carmen Nebel ist er (glücklicherweise) auch nie aufgetreten. Demokratie ist leider nicht grundsätzlich ein Garant für Qualität, aber ohne sie wäre es sicherlich noch schlimmer.

    Ein Bundespräsident Steinmeier, der sich die aktive Mitwirkung am größten Sozialabbau in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik vorwerfen lassen muss und der sich davon bis heute nicht distanziert hat, wird früher oder später ein Akzeptanzproblem bekommen. Weil er dort, wo Integration dringend notwendig ist, nicht wird integrieren können. Nämlich bei den Opfern einer Politik, die er mit verantwortet und die längst den so genannten Mittelstand erreicht hat.
    Also Menschen mit solider Schul- und Berufsausbildung, die lange das stabile Rückgrat der deutschen Arbeitnehmerschaft bildeten. Und die man aussortierte, weil sie durch kostengünstigere Zeitarbeiter ersetzt wurden, zu alt waren (50 plus) oder deren Betriebe man in Billiglohnländer verlagerte. Ganz zu schweigen von denen, die von vornherein benachteiligt waren. Beispielsweise die Kinder armer Eltern, in deren Familien Bildung unterbewertet wurde und wo man von der Hand in den Mund lebte. Oder all jene, für die Migration ein Schlagwort aus Sonntagsreden blieb.

    In wenigen Jahren, möglicherweise bereits während der Amtszeit des Bundespräsidenten Steinmeier, werden diese neuen und alten Armen wegen der Rentenpolitik, die der Kanzleramtsminister Steinmeier mit entwarf, endgültig bitterarm und hoffnungslos sein. Oder ihre Hoffnungen auf Nationalisten und Rassisten wie die AfD setzen, weil ihnen diese einen Kampf gegen das Establishment in Aussicht stellen (Donald Trump lässt grüßen).

    Dieses Establishment, also die herrschende politische Klasse, hat sich trotz der bedrohlichen Krisen in dieser Gesellschaft nicht dazu überwinden können, eine Persönlichkeit als Präsidentschaftskandidaten zu nominieren, die für etwas anderes als die Fortsetzung des Pragmatismus steht, also für die unbedingte Hinwendung zum Menschen, zum Schicksal des Einzelnen. Mutmaßlich wird das auch gar nicht gewünscht, würde dem neoliberalen Geist der Zeit zuwiderlaufen.

    Ich kenne Frank-Walter Steinmeier nicht, weiß nicht, wie er privat denkt, vermag seine politischen Ideale nicht einzuschätzen. Wahrgenommen habe ich ihn ausschließlich als einflussreichen Mitgestalter verschiedener Regierungsapparate. Seine in diesen Zusammenhängen zu Tage getretenen Eigenschaften entsprachen den Zielen des Systems. Eine bemerkenswerte eigene Handschrift, von der seine Entscheidungen gekennzeichnet waren, ist mir nicht aufgefallen.

    Als er 2009 für die SPD als Kanzlerkandidat antrat, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich hinter dieser Fassade ein deutscher Gorbatschow oder ein zweiter Willy Brandt verbergen würde, der nur darauf wartete, nach einem Wahlsieg endlich mit einer umfassenden Erneuerung zu beginnen. Nein, ich befürchtete eine Epoche ohne Lösung der vielen drängenden Probleme, sah eine bleierne Zeit voraus.
    Seit ich die Nachricht von der Kandidatur Steinmeiers für das Amt des Bundespräsidenten vernahm, ist meine Skepsis nicht geringer geworden.

    Trotzdem wird ein von unkritischen Massenmedien hochgejubelter Mainstream in Steinmeier den Idealtyp eines Präsidenten erkennen. Eine Gesellschaft, die auf der Bewusstlosigkeit eines großen Teils ihrer Mitglieder fußt, bedarf der Bestätigung ihres Lebensgefühls, das sich im derzeitigen Event-Streben spiegelt: „Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht…“. Darauf einen Steinhäger!

  2. Nicht allein die Skandale um Kurnaz und Agenda 2010, sondern seine Rede vor der Arbeitgebervereinigung, wie auch bereits in einem Leserbrief in der FR deutlich gemacht wurde, sind nicht unbedingt positive Merkmale des Kandidaten für dieses Amt.

    Diese Rede, die ich mir angehört und nochmals gelesen habe s. unter http://www.nachdenkseiten.de/?p=19482 ist für mich ein haarsträubendes Beispiel dafür, wie Führungspersönlichkeiten der SPD sich noch öffentlich dazu bekennen, die Grundsätze der eigenen Partei aufgegeben zu haben.

    Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Unionsparteien ihn bei der Präsidentenwahl unterstützen.

  3. Business as usual

    Innenpolitisch erinnere ich mich daran, dass er der Architekt der Agenda 2010 war, also einer der Geburtshelfer der grassierenden sozialen Verwerfungen in unserem Land. Ich erinnere mich auch an den Fall Kurnaz, den in Guantanamo unschuldig einsitzenden Mann, dessen Freilassung er – trotz des Angebotes der US-Regierung – ablehnte. Als Außenminister hat er Pluspunkte gesammelt. Wie fast jeder Außenminister vor ihm. Er wird uns nach außen gut vertreten. Er ist beliebt – zweifellos. Aber kann er auch nach innen vermitteln (???) Das Verfahren in dem er gekürt wurde war – aus meiner Sicht – eine Katastrophe. Alle Vorurteile gegenüber der politischen Elite wurden bestätigt. Es gab Kungeleien wie immer, die Nominierung für das Amt wurde zu einer Machtprobe zwischen Gabriel und Merkel. Und jetzt ist er der Kandidat der Großen Koalition. Ernannt fast schon. Die Wahl vermutlich nur Formsache bei dieser Mehrheit. Business as usual des Establishments. Und das in einer Situation in der die AfD gegen dieses Establishment massiv opponiert und in den USA ein Donald Trump auch aus diesem Grund gewählt wurde. Nichts dazugelernt! Und welches Signal soll das jetzt sein? Ist damit die Machtoption Rot-Rot-Grün vom Tisch? Wir werden sehen. Es wurde eine Chance vertan. In Frankreich fanden am vorigen Sonntag (20.10.2016) Vorwahlen zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten der französischen Konservativen statt. Jeder Wahlberechtigte konnte teilnehmen. Wäre doch auch ein Weg, einen Kandidaten zu bestimmen. Vermutlich hätte Herr Steinmeier gewonnen. Aber der Weg dahin wäre ein Signal gewesen: Alle Bürger hätten die Chance gehabt, mitzuwirken. Und nicht nur, nach gefallener Entscheidung, als Zuschauer den Dingen ihren Lauf zu lassen.

  4. @ Dagmar Schön
    Bei aller berechtigten Kritik an Steinmeier: Ihre Bemerkung zu seiner an seine Frau gespendete Niere ist unter der Gürtellinie. Ich habe den Mann damals dafür bewundert, dass er sich eine Zeitlang (ich weiß nicht mehr, für wie lange) von seinen politischen Ämtern zurückgezogen hat, um seiner Frau mit einer Nierenspende das Leben zu retten. Das jetzt so verächtlich abzutun und mit dem angeblichen Verlust seines Herzens zu verbinden, finde ich menschenverachtend.

    Im Übrigen verstehe ich die ganze Aufregung nicht. Im Endeffekt ist der Bundespräsident doch nur ein besserer Grüßaugust. Die Politik wird von anderen gemacht, und auf die sollten wir uns konzentrieren.

  5. Eine Bundespräsidentenwahl durch die Bevölkerung kostet wohl um die 50 Millionen Euro. Wollen wir das wirklich ausgegeben für eine doch verhältnismässig unwichtige Position.
    Da Herr Steinmeier ja ein intelligenter Mensch ist, frage ich mich, ob das nicht eine Resourcenverschwendug ist.
    Auf jeden Fall müssen wir uns keine Sorgen machen, dass er uns blamiert.

  6. @ Bigitte Ernst

    Meine volle Zustimmung. Hinzuzufügen wäre eine völlig fehlende Abwägung von politischen Verdiensten und Fehlern. Nicht zuletzt ist moralisierende Sprachduktus mit anmaßender Richter-Pose verräterisch, mit typischen Versatzstücken rechtspopulistischen Neusprechs aufgemotzt, wie „Mainstreamjournalisten“, „das Herz am richtigen Platz“ und „kollektive Amnesie“, „kollektive Demenz“ (gleich zweimal). Dies erlaubt sehr wohl die Einschätzung von Frau Ernst von einem „menschenverachtenden“ Diskurs.

  7. @ Werner Emgelmann
    Bronski hat wieder einmal gute Arbeit geleistet. Denn er hat in der gestrigen Printausgabe der FR fast alle Passagen und Formulierungen des Leserbriefs von Dagar Schön, die Sie und ich bemängelt haben, weggekürzt. Lediglich einmal „kollektive Amnesie“ und das eher kitschige als zynische „Herz am richtigen Platz“ hat er durchgehen lassen.
    Erst jetzt, da ich mir den in der Prinausgabe fehlenden Anfang des Briefes noch einmal durchgelesen habe, fiel mir auch die unsägliche Parallelsetzung von „individueller“ und „kollektiver Demenz“ auf. Demenz ist eine schwere Krankheit, die deshalb heute verstärkt auftritt, weil die Menschen in den Industriegesellschaften länger leben als früher. Die von Demenz Betroffenen und ihre Angeörigen leiden unter schweren Belastungen, und niemand sucht sich diese Krankheit freiwillig aus. Frau Schön dagegen tut so, als habe man es selbst in der Hand, ob man von Demenz befallen wird oder nicht, und als könne man solchen Menschen ihre Vergesslichkeit vorwerfen. Widerlich!

    Bei der Beurteilung von Steinmeiers Verhalten gegenüber Murat Kurnaz sollte man die allgemeine Panik und Kopflosigkeit nach dem Schock des 9/11
    nicht außer Acht lassen. Steinmeier war ja auf die Erkenntnisse der Geheimdienste angewiesen, und wann tatsächlich klar war, dass Kurnaz kein Taliban war, wissen wir nicht. In der Rückschau ist es leicht, in einem solch sensiblen Bereich alles besser zu wissen.

    @ Klaus Philipp Mertens
    Dafür, dass Sie niemals Sendungen wie Musikantenstadel etc. anschauen, kennen Sie die „Künstler“, die dort auftreten, und den Text des Songs von Helene Fischer aber gut :).
    Im Übrigen kann Herr Steinmeier nichts dafür, wenn er von Menschen mit schlechtem Musikgeschmack gemocht wird (wenn das tatsächlich der Fall ist, was Sie ja lediglich unterstellen). Ich wüsste nicht, dass er sich durch irgendwelche Auftritte in solchen Sendungen bei diesem Publikum hätte einschmeicheln wollen.

    @ All
    Was mich bei der Wahl zum Bundespräsidenten etwas befremdet, ist dieses merkwürdige Konstrukt der „Bundesversammlung“. Da wählen die einzelnen Parteien des Bundestages und der Länderparlamente streng nach Proporz und nach eigenem Gutdünken Menschen aus, die den Bürger und die Bürgerin dort vertreten sollen. Das einfache Wahlvolk hat also noch weniger Einfluss auf die Zusammensetzung dieses Gremiums als bei der Bundestags- bzw. Landtagswahl, denn da kennt er ja wenigstens vorher die aufgestellten Kandidaten und ihre Reihenfolge. Welche Parlamentarier dann aber aus welchem Grund für die Bundesversammlung ausgewählt werden, ist ein undurchsichtiger Prozess. Die Parteien können ja sogar irgendwelche „Promis“ in die Bundesversammlung schicken, was ich für ein sehr zweifelhaftes Vorgehen halte. Ich schätze Senta Berger zwar als Schauspielerin, und Otto Rehagel mag ein guter Fußballtrainer sein, aber was ausgerechnet diese Menschen dazu befähigt, den richtigen Bundespräsideten zu küren, ist mir schleierhaft. Das ist wohl ein (erfolgloser) Versuch, größere Bürgernähe zu zeigen. Ich ärgere mich eher darüber, dass hier igendwelche Großkopfeten bevorzugt werden, anstatt Herrn und Frau Mustermann (oder mich!) in die Bundesversammlung zu entsenden.
    Kleine Anekdote am Rand: Zur Bundespräsidentenwahl 2004 schickte die CSU die schräge Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in die Bundesversammlung (Sie kennen die nicht, Herr Mertens, denn Sie lesen keine Regenbogenpresse). Natürlich gehen die Parteien davon aus, dass die von ihnen entsandten Mitglieder des Gremiums auch die von ihnen aufgestellten Kandidaten wählen. Die Fürstin wählte statt Horst Köhlers aber Gesine Schwan. Seitdem verlässt sich die CSU lieber nur auf ihre Abgeordneten.

  8. Bitte um Verzeihung wegen der vielen Tippfehler. Das liegt daran, dass ich dringend etwas zu Mittag essen muss.
    Guten Appetit!

  9. @ Brigitte Ernst:
    Das sind aus der Erfahrung gewonnene (Er-)Kenntnisse. Oder anders ausgedrückt: Ich höre den Leuten, die mir etwas sagen oder sich in meiner Nähe äußern, ziemlich gut zu. Und stelle dabei fest, dass erschreckend viele, die den Dingen nicht auf den Grund gehen, die Politik eher oberflächlich betrachten und beurteilen oder deren Kulturgeschmack etwas ungeschult ist, Steinmeier mögen. Etwas anderes habe ich nicht geschrieben. Einige Fahrten pro Woche in der Frankfurter U-Bahn und S-Bahn verhelfen zu solchen empirischen Erfahrungen. Bundespräsident Gauck genießt dort ebenfalls ein großes Ansehen.
    Ansonsten: Ich habe nichts gegen die von mir erwähnten Unterhaltungskünstler; ihre Talente und Inhalte scheinen mir jedoch begrenzt zu sein – was assoziativ wieder zu Steinmeier führt…

  10. @ Klaus Philipp Mertens
    Wie sieht das denn z.B. mit dem US-Präsidenten Obama aus? Soviel ich weiß, ist der in breiten Kreisen in Deutschland, auch bei denen, die nicht so gebildet sind wie Sie, sehr beliebt. Muss das automatisch gegen ihn sprechen?
    Und wieso ist es ein Zeichen von Oberflächlichkeit, wenn man Gauck mag? So schrecklich ist er ja nun auch wieder nicht.
    Ich höre da bei Ihnen eine gewisse bildungsbürgerliche Arroganz heraus (von der auch ich nicht immer ganz frei bin). In meinen selbstkritischen sehe ich aber ein, dass man sich davor hüten sollte.

  11. @ Brigitte Ernst

    Danke für den Hinweis. Ich kann es mir leider nicht anschauen, da ich seit heute nicht mehr in mein Abo der Online-Ausgabe hineinkomme.
    Zu Ihren Ausführungen volle Zustimmung.
    Zu der Parallelsetzung von „individueller“ und „kollektiver Demenz“ doch noch eine Vertiefung. Lassen Sie sich noch mal die folgenden Passagen auf der Zunge zergehen:
    (1) „Der Steinmeier-Jubel (…) ist nur durch eine kollektive Amnesie zu erklären, die wiederum mit den sprunghaft zunehmenden Demenzerkrankungen korreliert.“
    (2) „geradezu ekstatische Freude über Steinmeier als Bundespräsident bei fast allen Mainstreamjournalisten“
    (3) „Vielleicht ist die kollektive Amnesie, die kollektive Demenz, doch schon weiter fortgeschritten, als man glauben möchte.“

    Zu (2): Begrifflich und im Gebrauch der Hyperbel typisches AfD-Sprech.
    Zu (1/3): „Kollektive Amnesie“, gleichgesetzt mit „kollektiver Demenz“, mit Anspruch auf absolute Deutungshoheit verbunden und in (3) noch einmal gesteigert. Abgeleitet aus einem einzigen Verhalten („Freude über Steinmeier“), das Verdikt desselben wieder begründet durch einen einzigen Fall, die Kurnaz-Geschichte.
    Ein Vorgehen, das mich doch erschaudern lässt. Mir fallen zwei Vorgänge ein, wo ähnliche Verfahren eine Rolle spielten:
    (1) die Praxis in der DDR, den Menschen, die nicht das „richtige“ Bewusstsein oder die „richtige“ Einstellung zeigten, mit Hilfe der Psychiatrie (stark untertrieben) „auf die Sprünge zu helfen“.
    (2) die unter Psychologen nach dem Zusammenbruch der DDR ernsthaft diskutierte These (Maaz), man müsse mindestens die Hälfte der DDR-Bevölkerung erstmal auf die Couch legen.
    Ich bin betr. solchen Missbrauch von Psychologie und vor allem Psychiatrie etwas sensiblisiert, da ich diesbezüglich eine Auseinandersetzung mit einer meiner Schwestern (Psychologin) hatte, die letztere Auffassung voll teilte.
    Natürlich kommt da noch die Häme über Demenz-Erkrankungen mit oft tragischen Bedingungen für das familiäre Umfeld hinzu. Etwa Walter Jens (den ich in meiner Tübinger Zeit etwas näher kennenlernte), der, wie Inge Jens berichtet, vor dem Fontane-Porträt in seiner Wohnung stand und fragte: „Wer ist denn dieser Mann da?“

    Bez. Wahl des Bundespräsidenten:
    Ich halte Ihre Ausführungen für stichhaltig, meine auch, dass dieses Verfahren, aus dem Hindenburg-Schock entstanden, zu den Schwächen des Bonner Grundgesetzes zählt, das überholt ist und wohl mit zu der Geringschätzung, oft Häme über das Bundespräsidentenamt (unbhängig von der Person) beiträgt. Steinmeier- wie auch früher Gauck-Bashing scheint weitgehend Indiz für diese Vermischung zu sein.
    Freilich wird sich das nicht auf die Schnelle ändern lassen, erfordert dies doch ein neues Austarieren des Verhältnisses von Kanzler- und Präsidentenamt. Dazu sind gegenwärtig wohl nicht die richtigen Voraussetzungen gegeben. Und ich zweifle auch am Willen, dies zu ändern, hat das gegenwärtige Verfahren für Politstrategen doch einiges für sich: etwa einen unliebsamen Mitbewerber abzuschieben, Koalitionsbildungen zu proben oder auch (Merkel-Effekt), eigene Machtfülle demonstrieren und sich ein passendes Umfeld zu schaffen (wenn auch letzteres schon schief ging). Und für den „gemeinen“ Wähler bietet er eine Projektionsfigur, zu der er – je nach Gusto – entweder aufschauen oder auf der ziemlich folgenlos seinen Frust abladen kann. Was alles dazu dienen kann, von eigentlichen politischen Fragen und Problemen abzulenken.

  12. Die Art und Weise wie ein Bundespräsident ausgesucht, nominiert und gekürt wird, hat wenig mit Demokratie zu tun.
    Dass Herr Steinmeier aber dieses Amt gut ausfüllen kann und wird, dürfte unbestritten sein. So gut wie die meisten seiner Vorgänger ist er allemal. Wer könnte es denn besser?

    ( „Das Volk“ hätte früher vielleicht Beckenbauer oder Gottschalk gewählt.)

  13. Die Verletzung von Menschenrechten scheint die Leute, die hier kommentieren offenbar am wenigsten zu interessieren. Außer es würde sie selbst mal treffen – jede Wette – dann wüssten sie plötzlich, dass das die Basis allen politischen Handelns sein muss. Menschenverachtend ist nicht, was ich über Steinmeiers Organspende geschrieben habe, sondern die Transplantationsmedizin. Darüber haben sich die Damen und Herren wohl auch noch nicht ausreichend informiert, sondern begnügen sich mit den Werbebotschaften der DSO. Alle Organe werden Sterbenden entnommen. Der Hirntod ist eine Lüge. Übrigens: Selbst im Deutschen Ethikrat gibt es jetzt 7 Personen, die sich zu dieser Wahrheit durchgerungen haben. Die Stellungnahme hierzu gibt es auf der Webseite des Dt. Ethikrats zum Herunterladen. Beim Thema ‚Organspende‘ wird die Bevölkerung seit Jahrzehnten angelogen. Mit Unterstützung der Leitmedien, denn die vom TransplantationsG verlange ‚ergebnisoffene‘ und ‚umfassende‘ Aufklärung findet nirgends statt. Die langjährige Vorsitzende des Ethikrats Frau Prof. Woopen sagte mir hierzu in einem Interview: „Das ist politisch nicht gewünscht.“

  14. @ Dagmar Schön
    Was hat jetzt das Problem der Transplantationen der Organe von Toten oder Sterbenden mit Frank Walter Steinmeier zu tun? Der hat eine seiner beiden Nieren gespendet und ist noch ziemlich lebendig, wie ich vermute.

    Die Verletzung von Menschenrechten ist selbstverständlich zu kritisieren, und darüber, dass Guantanamo eine Beipiel dafür ist, sind sich hier sicher alle einig. Eine überzeugende Erklärung dafür, was das mit der Krankheit „Demenz“ zu tun hat, sind Sie uns leider bisher schuldig geblieben. Wovon Sie sprechen, ist eine Verleugnung oder Verdrängung unangenehmer Wahrheiten. Wenn Sie schon Begriffe aus der Medizin verwenden, dann doch bitte korrekt.

    Der Fall Kurnaz ist etwas komplizierter, als Sie ihn darstellen. Immerhin war ja die Türkei für ihn zuständig, weil er, aus welchem Grund auch immer, nicht die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, obwohl er in Deutschland aufgewachsen war. Außerdem wollte er mit einem Mann nach Pakistan ausreisen, der damals unter dem dringenden Verdacht stand, Taliban zu sein. Und, wie ich schon erwähnte, grassierte ja damals schon die Angst vor Anschlägen durch Islamisten. Da stand Steinmeier ja auch in der Verantwortung gegenüber dem Rest der Bevölkerung in Deutschland. Er musste das eine gegen das andere abwägen und ist zu einer Entscheidung gelangt, die man in der Rückschau kritisieren kann, aber mit dem heutigen Wissen um Kurnaz‘ Harmlosigkeit ist es leichter, zu kritisieren, als in der aktuellen Situation richtig zu entscheiden.

  15. Ich schließe mich der Meinung von Frau RAin Schön jedenfalls insoweit uneingeschränkt an, als ich auch den starken Eindruck gewonnen habe, daß Herr Steinmeier die Verteidigung von Menschenrechten nicht so praktiziert, wie ich das von einem Außenminister allgemein und von einem sozialdemokratischen Außenminister im Besonderen erwarte.
    Ich erinnere mich noch gut an die Situation, als Herr Steinmeier zu einem Besuch nach Saudiarabien aufbrach, um dort an einem „Kulturfestival“ teilzunehmen und daß zu der Zeit, als der Blogger Raif Badawi von einem „Gericht“ in Saudiarabien nur aufgrund der Tatsache, daß er eben ein Blogger war, zu einer Strafe von 1000 Stockhieben „verurteilt“ wurde. Ich habe insbesondere die Tatsache, daß Herr Steinmeier in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu diesem verbrecherischen Ereignis völlig ungerührt zu den Despoten nach Saudiarabien fuhr, um ihnen dort seine Aufwartung zu machen, als das empfunden, was es auch war: ein serviler Akt der Unterwerfung aus rein wirtschaftlichen Gründen.Herr Steinmeier hat in seiner ihm gemäßen Art damals erklärt, er sei nach Saudiarabien gefahren, um unter anderem „auszuloten“, was im Umgang mit diesem Regime zu machen sei. Diese Anmerkung hat mich empört, denn man muß doch wohl fragen, was es eigentlich im Umgang mit einem Verbrecherregime noch „auszuloten“ gibt.
    Ähnlich liebedienerisch und leisetretend ist der Umgang des Herrn Steinmeier mit anderen Despoten: egal ob sie Putin, Erdogan oder die Mullahs von Teheran heißen.
    Ich finde, schon diese zweifelhafte Haltung des Herrn Steinmeier zu Fragen, die offensiv zu vertreten doch wohl ganz eindeutig seine Aufgabe als Außenminister einer den Menschenrechten verpflichteten Entität ist, begründen für mich ganz erhebliche Zweifel daran, ob dieser Mann diese Republik nach außen repräsentieren sollte.
    Darüber hinaus soll der Bundespräsident nach den Vorstellungen der Verfassung letztlich eine Persönlichkeit sein, die in der Lage ist, gesellschaftliche Prozesse zu begleiten, indem sie vermittels eben ihrer Persönlichkeit dazu in de Lage ist, solche Prozesse auch zu begleiten, ohne als Sachwalter ganz bestimmter Interessen daher zu kommen. Hier setzt mein nächster Zweifel an, ob gerade Herr Steinmeier der richtige Mann für das Amt des Bundespräsidenten ist, denn wie soll ein den sozialen „Kahlschlagsorgien“ der Schröder-Ära so nah verhafteter Mann dazu in der Lage sein, jetzt auf einmal die Position sozialen Ausgleichs einzunehmen, was für das Wirken eines Bundespräsidenten indessen doch wohl unabdingbar ist ?

  16. Nun soll also Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident werden. Steinmeier repräsentiert die alte SPD, die die soziale Spaltung vorangetrieben hat. Er ist darum für mich für dieses Amt ungeeignet. Wir brauchen dringend neue Köpfe und Persönlichkeiten, die auch neue Ideen in die Politk bringen.

  17. @ Werner Leucht
    Was für neue Ideen soll ein Bundespräsident bei dem geringen Einfluss, den er ausüben kann, denn wohl in die Politik einbringen? Einen so substanziellen Aufruf wie „Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen“ oder eine umstrittene Ansicht wie „Der Islam gehört zu Deutschland“, der viele Bundesbürger bis heute nicht zustimmen?
    Jemand, der wirklich etwas gestalten will, wäre doch nur frustriert angesichts des begrenzten Handlungsspielraums, der ihm zur Verfügung steht.

  18. @ Verena Gräfin zu Wolffenstein
    Wissen Sie denn so genau, dass Steinmeier nicht bei seinem Besuch in Saudi-Arabien den Fall Raif Badawi angesprochen hat?
    Die meisten Außenpolitiker und Diplomaten sind sich darüber einig, dass Ächtung und Abbruch der Beziehungen zu einem Staat bzw. dessen Oberhaupt dem Weltfrieden wenig förderlich ist. Nur wenn man im Gespräch bleibt, kann man (vielleicht) auch etwas bewirken. Wenn unsere Außenpolitiker jeden Staat von ihrer Besuchsliste streichen würden, der Menschenrechtsverletzungen begeht, hätten wir weder mit den USA noch mit China, der Türkei oder Russland noch diplomatische Kontakte. Und andere demokratische Staaten müssten auch Deutschland ächten, weil unser Außenminister (und baldiger Bundespräsident) Ihrer Ansicht nach ja auch Menschenrechtsverletzungen begangen hat.

  19. @ Brigitte Ernst

    Ich hatte nicht die Ehre, der Delegation des Herrn Dr. Steinmeier anzugehören, ich habe allerdings doch die Hoffnung, daß meine Informationsquelle – eine renommierte Nachrichtenagentur – es doch wohl berichtet hätte, wenn er diesen Fall des Herrn Badawi angesprochen hätte.
    Wenn man im Gespräch bleibt… Nun ja, meinte das Herr Chamberlain 1938 nicht auch ? Und was hat er davon gehabt ?

  20. Ich gebe zu dass es für jemand, der sich nicht ausführlich mit dem Thema Organspende beschäftigt hat, der Zusammenhand zwischen Menschenrechtsverletzung / Steinmeier und Organspende nicht zu verstehen ist. Beschäftigt man sich damit so ausführlich wie ich, stellt man fest: Die breite Öffentlichkeit, bei der man sich darauf verlassen kann, dass sie bei den meisten Themen nicht in die Tiefe geht, wird zum Organspendethema seit Jahrzehnten umfassend belogen. Ich habe dazu gerade ca. 100 Seiten geschrieben, die in einem Buch in dem ich auch noch über andere prekäre Rechtsstaatsthemen schreibe, veröffentlicht werden. Gelogen wird übrigens nicht nur bei der postmortalen Organspende, sondern auch bei der Lebendspende. Hier gibt es reichlich Informationen: Tod nach Risiko-Transplantation in Heidelberg“, 20.10.2015, Interessengemeinschaft Nierenlebendspende: http://www.presseportal.de/pm/104626/3151759
    Auf den ersten Blick einsichtig dürfte auch für Nichtjuristen sein, dass jede Lüge, mit der Verwertung von menschlichen Organen zu tun hat, eine Menschenrechtsverletzung ist. Das sollte Herr Steinmeier als Jurist wissen. Aber für Politiker wie ihn, gibt es immer andere Interessen, die damit abzuwägen sind. Auch für Helmut Schmidt, standen die menschenrechte nicht an erster Stelle seiner Prioritätenliste. Zur Hirntodlüge kann man sich hier einlesen:

    https://hirntoddebatte.wordpress.com/tag/dr-jurgen-in-der-schmitten/

    http://www.kritischebioethik.de/deutschland_downloads.html

    Nach intensiver Information über das Organspendethema weiß man eines genau: Dass dieses Thema so gepuscht wird, liegt nicht an der allumfassenden Nächstenliebe, die unsere Medizin durchdringt, sondern an den Umsätzen, die weltweit mit den Immunsuppressiva gemacht werden. Glücklicherweise ist Deutschland beim Thema Organspende noch ein „Entwicklungsland“. Weltweit und in fast allen europäischen Staaten gilt die Widerspruchslösung und es werden die Organe bereits zwei Minuten nach einem Herzstillstand entnommen. So auch in der größten Transplantationsklinik in Pittsburgh.
    In Europa ist Spanien ganz vorne. Was viele Deutsche nicht wissen: Auch als Tourist ist man dort bei einem Herzinfarkt Organspender, wenn man nicht vorab grundsätzlich widersprochen hat, Organspender zu sein.
    Wer wissen will, wie diese Entwicklungen entstanden sind, sollte die Bücher des italienischen Philosophen Giorgio Agamben lesen: „Homo Sacer“ und „Ausnahmezuststand“ (erscheinen bei Suhrkamp).

  21. @ all

    Jetzt aber bitte nicht in eine Diskussion über Organspenden abgleiten. Das ist ein schwieriges Thema, wie Frau Schön ja auch darlegt. Mal sehen, ob es mir gelingt, es zu einem anderen Zeitpunkt aufzugreifen.

  22. Ich gehe davon aus, dass es Herrn Steinmeier bekannt war, dass er sich einer lebensgefährlichen Operation unterzog, als er sich entschloss, seiner Frau eine Niere zu spenden. Ich selbst rechne bei jeder Narkose, der ich mich unterziehen muss, damit, nicht mehr aufzuwachen. Aber wenn es für meine Gesundheit wirklich nötig ist, wage ich es trotzdem.

  23. @ Gräfin zu Wolffenstein
    Wir können uns als Staat oder Staatengemeinschaft (EU) natürlich auch einigeln und nur noch mir den engsten Freunden sprechen. Ob das ein besseres Mittel gegen Gewalt und Kriege in der Welt ist, wage ich zu bezweifeln.

  24. Es hat nichts mit einigeln zu tun, wenn der Außenminister einer den Menschenrechten verpflichteten Republik nicht mehr mit den Repräsentanten von Despoten- und Terrorregimen sprechen würde, sondern viel mit Haltung, Standfestigkeit und Überzeugung.
    Genau diese Eigenschaften kann ich bei Herrn Steinmeier beim besten Willen nicht finden, vielmehr kommt er mir immer wie ein beamtenhaft arbeitender Strippenzieher vor, dessen einziges Ziel ein den ökonomischen Interessen dieses Staates dienender Utilitarismus ist.

  25. @Henning Flessner
    Das ist eine sicherlich sehr schöne Vorstellung und sie klingt auch angenehm und einleuchtend, Herr Flessner, sie hat allerdings nur einen kleinen, aber ganz entscheidenden Haken: so wie der Teufel nicht mit sich verhandeln läßt, tun das auch die Repräsentanten verbrecherischer Regime nicht.Noch einmal: Politik sollte doch wohl nicht dazu dienen, Wohlfühlgefühle zu erzeugen und einem bequemen Zeitgeist nachzugeben, sondern sie hat die verdammte Pflicht beharrlich, konsequent und mit entsprechender Haltung Überzeugungen zu leben und sie sich nicht wohlfeil abhandeln zu lassen.
    Und da hat Herr Steinmeier aus meiner Sicht recht wenig zu bieten.

  26. @Henning Flessner
    Ich habe es an dieser Stelle schon einmal geschrieben und auch wenn Ihnen meine Meinung nicht gefällt Herr Flessner: Ihr Argument klingt zwar sehr schön und angenehm, hat aber einen kleinen, aber ganz entscheidenden Haken: so wie man nicht mit einem Teufel verhandeln kann, genau so verhält es sich mit Verbrechern.

  27. @Brigitte Ernst (26.11.16)

    Verehrte Frau Ernst, für mich ist das entscheidende Kriterium die Bereitschaft, sich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten informieren zu wollen. Diese Bereitschaft hat nicht grundsätzlich etwas mit der Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum zu tun (dem ich nicht entstamme und dem ich auch nicht angehöre; denn ich bin ein Prolet), obwohl solche Verbindungen die Zugänge zu relevanten Informationsquellen sicherlich vereinfachen.

    Über Joachim Gauck kann man unterschiedlicher Meinung sein und auch er ist an seinem Amt gewachsen. Aber ich kenne (aus allgemein zugänglichen Akten) auch den Rostocker Pfarrer Joachim Gauck, der später Kirchentagsbeauftragter seiner Landeskirche war und großen Wert darauf legte, nicht bei der Obrigkeit anzuecken. Als viele evangelische Christen in der DDR Anfang der 80er Jahre unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ gegen die Militarisierung der Gesellschaft protestierten, war die Stimme Gaucks nicht zu hören. Er hat sich auch nicht eingemischt, als 1988 die Umweltbibliothek in der Berliner Gethsemane-Kirche auf die vielen Opfer des Uran-Abbaus in Sachsen hinwies. Zugegeben: Er hat nie von sich behauptet, ein Held zu sein. Aber ich mag Mitläufer mit.

  28. @ Klaus Philipp Mertens
    Sie stellen das richtig dar. Leider sind die Helden und Freiheitskämpfer bei uns dünn gesät. Auch Angela Merkel war eine Mitläuferin. Ich wäre aber vorsichtig, von anderen Heldentum zu erwarten, die nicht das Glück hatten, wie Sie und ich in einem demokratischen Staat aufzuwachsen, in dem man sich Protest und Widerstand erlauben kann, ohne fürchten zu müssen, seine Existenz zu verlieren oder in den Knast zu wandern (Ausnahmen bestätigen die Regel).
    Im Übrigen sind es ja meist die Stromlinienförmigen, die es in der Politik bis ganz nach oben schaffen. Und dann wird, entsprechend unserem Wahlsystem, nach Proporz eine(r) am Ende seiner Karriere mit dem Präsidentenamt belohnt (oder in etwas jüngeren Jahren als Konkurrent darauf entsorgt, wie Christian Wulff).

    Übrigens: Ein Prolet drückt sich nicht so geschliffen aus wie Sie.

  29. Zur gefälligen Auswahl:

    Bertolt Brecht, Leben des Galilei, Szene 13:
    Andrea: Unglücklich das Land, das keine Helden hat!
    Galilei: Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.

    Wer nach Heldentum schreit, der hätte ja, angesichts der Erfahrungen von Aleppo und vielen anderen, die Möglichkeit, sich vor Ort zu überzeugen, was das bedeutet.
    Für mich sind diese Erfahrungen Grund genug, mich der letzteren Auffassung anzuschließen.

  30. @Klaus Philipp Mertens
    Was Sie zu Herrn Gauck in seiner Eigenschaft als vormaliger evangelischer Pfarrer in der ehemaligen DDR schreiben, ist völlig richtig.
    Ich muß aber leider auch noch darauf hinweisen, daß diese doch etwas unrühnliche Geschichte des Herrn Gauck in der damaligen Zeit noch weiter ging.
    Er hat auch – ganz ähnlich wie der frühere Pastor Ebeling von der Thomas- Kirche in Leipzig, der sich dann aber später im Rahmen der damaligen DSU als wahrer Widerstandskämpfer gerierte – nicht sein Wort vernehmen lassen, als die Gottesdienst in der Leipziger Nikolaikirche unter Pastor Schwörer als flankierende Maßnahmen zu den Montagsdemonstrationen stattfanden und die Nikolaigemeinde dadurch ganz erhebliche Schwierigkeiten bekam. Das war 1989 (!!) – alles schon vergessen ?
    Das Wirken des Bundespräsidenten Gauck will und kann ich nicht beanstanden, aber man möge doch bitte damit aufhören, Herrn Gauck in die Nähe eines Widerstandskämpfers allererster Güte zu bringen, denn das war er ganz bestimmt nicht.
    Ich habe auch nie gehört, daß Herr Gauck als Pfarrer in der DDR etwas zu den bedrückenden Problemen der ehemaligen „Bausoldaten“ bei der NVA hat verlauten lassen und in der Sache haben Sie wohl auch recht, Herr Mertens: Herr Gauck war zu Zeiten der DDR ein Mitläufer, nicht mehr aber auch nicht weniger.

  31. Die Beiträge bzw. die Debatten, die sich angesichts der Kandidatur des Bundesaußenministers zum Bundespräsidenten in den letzten Tagen in den Leserbriefspalten der altehrwürdigen Frankfurter Rundschau entspinnen, muten eher wie ein Steinmeier-Bashing an, haben jedenfalls nichts mit einem kritisch-konstruktiven Beitrag zur politischen Performanz von Steinmeier und den Hintergründen für seine Nominierung als Staatsoberhaupt zu tun.
    Nichts gegen berechtigte Kritik an Politikern, und auch Herr Steinmeier ist als Kandidat für das höchste Amt im Staat davon nicht ausgenommen. Aber ihm jetzt alles, was ab 1998 in der Republik, in den wechselnden Koalitionen, an denen er als Minister beteiligt war, vermeintlich oder tatsächlich schief gelaufen ist, in die Schuhe zu schieben, ist mindestens unfair, wenn nicht Unfug. Egal, ob es sich um Pannen im internationalen Antiterrorkampf in Folge von Nine/Eleven oder um Fehler in der Sozialpolitik der Agenda 2010 gehandelt haben mag.
    Die Leserbriefschreiberin Frau Schön kapriziert sich auf den ersten oben genannten Fall, insofern sie Steinmeier in seiner damaligen Funktion als Kanzleramtschef (nicht Geheimdienstchef) quasi unterlassene Hilfeleistung unterstellt, da er sich nicht für mutmaßlich unschuldige deutsche Guantánamo-Opfer eingesetzt und sich bis heute nicht bei ihnen entschuldigt habe.
    Jedenfalls habe er sich damit „persönlich schuldig … gegenüber zwei Folteropfern der Amerikaner gemacht“, womit er sich „für jedes politische Amt mit einer Verantwortung, die über ihn selbst hinausreicht“, disqualifiziere.
    Das ist starker Tobak und greift die Ehre und den Ruf des Kandidaten an, zumal ihm, um das Maß voll zu machen, auch noch organische Schwächen bezüglich der Verweigerung der oben schon erwähnten Entschuldigung bei Kurnaz bescheinigt werden. Er habe „das Herz (nicht) am richtigen Platz“.
    Man ist sprachlos. Kein Wort von seiner – aus meiner Sicht – herausragenden Tätigkeit als langjähriger Außenminister und seiner unermüdlichen Arbeit als Troubleshooter der vielfältigen internationalen Krisen, vor allem im Nahen- und Mittleren Osten und in der Ukraine. Wenn er denn in sein neues Amt gewählt werden sollte, woran ja nach Lage der Dinge nicht zu zweifeln ist, hinterlässt er seinem Nachfolger große Schuhe bzw. entsprechende Abdrücke.

  32. @ Peter Wilbertz, 1. Dezember 2016 um 16:11

    Ich stimme Ihren Ausführungen völlig zu.
    Dabei wäre ergänzend zu bemerken, dass es um mehr geht als nur um unappetittliche Art des Waschens schmutziger Wäsche in der Rückschau, z.T. ohne konkreten Anlass (Gauck, Merkel) und in der selbstgerechten Pose moralischer Unerbittlichkeit. Es werden dabei – so in der personalisierenden Zuspitzung – auch Strickmuster eines moralisch aufgeplusterten Anti-Establishments erkennbar, wie sie gegenwärtig für rechtspopulistischen Diskurs kennzeichnend sind. Dass es diesem um alles andere geht als um Wirksamkeit ethischer Prinzipien in der Politik, bedarf an dieser Stelle keiner näheren Begründung.

  33. Es gibt hier offenbar etliche Kommentatoren, die die Bedeutung der Menschenrechte erst verstehen würden, wenn sie selbst auch nur einen Tag lang gefoltert würden. Junge Seelen offenbar, die auf dieser Seinsebene noch viele Erfahrungen machen müssen.

    Viel Spaß dabei!

  34. @ RAin Dagmar Schön, 3. Dezember 2016 um 15:01

    Werte Frau Schön,
    Als vermutlich einer der von Ihnen angesprochenen „jungen Seelen“ (von 72 Jahren), bedanke ich mich für Ihre so freundlichen Wünsche. Ich werde sie angemessen zu beherzigen wissen. Bevor Sie versucht sein sollten, weitere „Spaß“-Empfehlungen bez.“Erfahrungen“ auf einer – gelinde gesagt – recht drastischen „Seinsebene“ zukommen zu lassen, darf ich Ihnen versichern, dass Ihnen eine beeindruckende Selbstcharakterisierung in Kürzestform gelungen ist.
    Bez. eines Engagements für „Menschenrechte“, das seinen Impetus statt aus dem erhebenden Gefühl des Moralrichters aus schlichter Verpflichtung zu konkreter Hilfeleistung bezieht, darf ich mich mit einem Hinweis auf (u.a.) folgenden Link revanchieren: http://www.amnesty.de/urgent-actions-0

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