Auflösung zionistischer Ideologie

Shlomo Sand, Geschichtsprofessor in Tel Aviv, wurde bereits des Antisemitismus‘ geziehen. Er ist nach Selbstbekundungen kein Zionist, er ist aber auch kein Anti-Zionist. Und er stellt das Existenzrecht des Staates Israel nicht infrage. Wohl aber sägt er kräftig an dessen Fundamenten, indem er etwas anderes infrage stellt: die Existenz des jüdischen Volkes – in, man muss es dazu sagen, seiner historischen Dimension. Die wiederum hat Konsequenzen für die Gegenwart. Es scheint einleuchtend, dass Zeitgenossen, die den Mythos – laut Sand – der Enstehung des jüdischen Volkes für eine, wenn nicht die unabdingbare ideologische Basis des Existenzrechts Israels halten, Shlomo Sand heftig angreifen und ihn, einen Juden, als Antisemiten bezeichnen. Mir hingegen scheint einleuchtend, dass Sand um die Zukunft Israels besorgt ist, ist doch vor allem die Zementierung dieses staatstragenden Begriffs vom jüdischen Volk, aus dem sich auch der Anspruch auf Jerusalem – und zwar des ungeteilten – als israelischer Hauptstadt ableitet, offenbar wesentlich dafür verantwortlich, dass der Friedensprozess im Nahen Osten nicht vorankommt.  

Sand hat nichts anderes getan als den Begriff vom jüdischen Volk zu dekonstruieren. „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ heißt sein Buch in der deutschen Ausgabe. Der Professor hat nach den historischen Fakten gesehen, und Micha Brumlik verteidigt ihn in seinem FR-Artikel „Thesen ins Herz der Gesellschaft„.

In der Proklamationsurkunde des Staates Israel vom 15. Mai 1948 heißt es: „In Erez Israel stand die Wiege des jüdischen Volkes; hier wurde sein geistiges, religiöses und politisches Antlitz geformt; hier lebte es ein Leben staatlicher Selbstständigkeit. Mit Gewalt aus seinem Lande vertrieben, bewahrte es ihm in allen Ländern der Diaspora die Treue und hörte niemals auf, um Rückkehr in sein Land und Erneuerung seiner politischen Freiheit in ihm zu beten und auf sie zu hoffen.“ Micha Brumlik schreibt: „Sands Buch beansprucht nicht weniger, als diese Behauptung der Unabhängigkeitserklärung mit den Mitteln einer maßvollen Dekonstruktion zu widerlegen. Demnach gibt es erstens kein jüdisches Volk, das daher auch zweitens nicht aus seinem Land vertrieben werden konnte und somit drittens auch keinen moralischen oder rechtlichen Anspruch auf Rückkehr geltend machen kann. Vielmehr, meint Sand, handele es sich beim Konstrukt des jüdischen ‚Volkes‘ um eine typische Annahme des späten 19. Jahrhunderts, in dem Historiker allerorten historische ‚Ursprünge‘ ihrer meist sprachlich zusammengehaltenen Bevölkerungsgruppe gesucht und gefunden hätten.“ Es habe auch in der Römerzeit keine Vertreibung der Juden aus ihrem Land gegeben. Dass im Mittelalter überall rund ums Mittelmeer jüdische Gemeinden entstanden, erklärt Sand nicht mit Vertreibung und Diaspora, sondern mit dem missionarischen Eifer der Juden jener Zeit: Berber, Jeminiten, Khazaren konvertierten zum Judentum. „Den Begriff des Volkes betrachtet Sand differenziert: Indem er zwischen ‚Ethnos‘ als Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft und ‚Demos‘ als freiwilligem Zusammenschluss von Bürgern zur Gründung eines freien politischen Gemeinwesens unterscheidet, tritt er für ein Israel als Staat aller seiner Bürger und nicht als zionistischer Staat ein.“

Dazu meint Willi Übelherr aus Bielefeld:

„Die Schrift von Shlomo Sand zur Mythologie des jüdischen Volkes hat zwei wesentliche Bedeutsamkeiten. Einerseits dient sie einer Geschichtsschreibung, die sich auf verifizierbare Überlieferungen und Schlussfolgerungen gründet und damit der Lügenhistorie den Boden entzieht. Zweitens ist seine Schrift politisch in die Zukunft gerichtet, weil sie Teil der Auflösung der zionistischen Ideologie ist und auch sein will.
Der Zionismus ist für die Thora-treuen Juden die Zerstörung des Judentums. Deswegen existiert für sie kein Israel. Als Nichtjude kenne ich nur ein koloniales Besatzungssystem in Palästina, das den Namen Israel trägt und merkwürdigerweise im Verbund der Staaten Mitglied ist, ohne sich den grundlegenden Regeln zu unterwerfen. Allerdings wissen wir, dass 1947 22 von 33 Staaten dem Teilungsplan zugestimmt haben. Und wir wissen, dass weder die palästinensischen noch jüdischen Menschen an dieser Bestimmung beteiligt waren. Die Betroffenen hatten nichts zu melden.
Die Entzionisierung Israels läuft auf die Auflösung der kolonialen Besatzung Palästinas hinaus. Daran gibt es nichts zu rütteln und sollte auch so deutlich gesagt werden. Und aus unserer und der Beteiligten Erfahrung wissen wir, dass ein Frieden in Palästina, ein Frieden im Sinne der Menschen in diesem Gebiet, nur ohne dieses Besatzungsregime möglich ist. Eine Fortsetzung dieses Regimes führt zur Auslöschung des palästinensischen Volkes und zur Zerstörung der Anerkennung jüdischer Kultur.
Die häufig herumgereichte Floskel einer Zweistaatenlösung ist lächerlich. Das ist auch  Shlomo Sand und der israelischen Friedensbewegung klar. Dass im deutschsprachigen Raum eine derartige Denksperre existiert, hat wenig mit der Problematik selbst zu tun. Es hat primär egoistische Hintergründe. Die Unterstützung dieser kolonialen Besatzung soll die eigene Schuld auf die Palästinenser abladen. Sie sind schwach und als Spielball noch bestens geeignet. Und für die Europäer allgemein gilt vielfach, dass sie froh sind, die jüdischen Menschen endlich los zu sein.
Wenn wir als Grundlagen jüdischer Kultur die beiden alten Prinzipien der Thora anerkennen: die Nächstenliebe und „Tu deinem Nächsten nicht an, was dir selbst verhasst ist“, dann wissen wir, dass dieses Besatzerregime mit jüdischer Tradition und Kultur nichts zu tun hat. Es ist Ausdruck des ungebrochenen kolonialen Landraubs, was wir auf dem amerikanischen und, wie in Namibia, auf dem afrikanischen Kontinent sahen und sehen. Und in allen Teilen des Planeten, wohin die Europäer sich verteilten. Nur die Instrumente haben sich geändert.
Autoren wie  Sand und Ilan Pappe gewinnen aus ihrer rücksichtslosen Wahrheitsverpflichtung ihren   Wert und können uns ein Beispiel sein für die Kraft jüdischer Kultur.“

Und soeben traf noch ein Leserbrief ein. Anne-Dore Mädge aus Göttingen schreibt:

„Ich habe das Buch soeben ausgelesen und muss sagen, es war das spannendste Sachbuch, das ich seit langem gelesen habe! Als Theologin musste ich mich natürlich mit der alten Geschichte Israels befassen, die ging aber immer nur bis Bar Kochba. Sand bringt hier so viele geschichtswirksame Aspekte zusammen, dass es einen nur faszinieren kann. Und die Konsequenz, die er zieht, dass nämlich der Staat Israel endlich tatsächlich zu einer Demokratie werden muss, ergibt sich folgerichtig aus allem, was er untersucht und darlegt.“

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67 Kommentare zu “Auflösung zionistischer Ideologie

  1. Wer sich vielleicht vorher überhaupt über das Thema „Zionismus“ informieren will: Der Deutschlandfunk brachte gerade dazu eine interessante Reihe „Der Zionismus von den Anfängen bis zur Gegenwart“, die als mp3 nachgehört werden kann: http://www.dradio.de/aod/html/ und dann rechts unter „Erweiterter Suche“ „Zionismus“ eingeben sowie Datum von 03.05. bis 05.05.

  2. @ Bronski

    Gerne würde ich zu diesem Thema einiges schreiben, bitte Sie aber, auch Heinrich die Möglichkeit zu geben, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatten wir zum Thema der Gründung des Staates Israels einen produktiven, wenn auch kontroversen Meinungsaustausch.

  3. @ Abraham

    Dieser Bitte komme ich gern nach. Meine damalige Entscheidung war für mich die schwerste der Geschichte dieses Blogs. Es ist lange her, und ich mache sie nun rückgängig in der Hoffnung auf eine fruchtbare Diskussion über die Thesen von Shlomo Sand. Ich selbst habe mir das Buch heute bestellt und werde morgen zu lesen beginnen. Wäre schön, wenn ihr dieses Buch zur Grundlage eurer Diskussion machen würdet.

    Heinrich, wenn du magst: Du bist eingeladen mitzureden.

  4. Ja gerne, lieber Bronski, und danke für die Einladung!

    „Wäre schön, wenn ihr dieses Buch zur Grundlage eurer Diskussion machen würdet.“
    – So war es wohl von Abraham gedacht, der mir schon zuvor die entsprechende Anregung zur Diskussion gegeben hatte und nun dein Blog zu dem Thema gesehen hat. Muss mich aber auch erst einlesen, also bis bald, freu mich drauf!

  5. Danke, Bronski, für Ihr Verständnis. Auf die Debatte mit Heinrich und anderen freue ich mich.

    Gerne möchte ich bei der Diskussion mehrere Aspekte trennen:
    – Sands These, dass die jüdische Diaspora nicht durch Flucht und Vertreibung aus Judea entstanden ist
    – Sands Bewertung des „jüdischen Volks“ als „Mythos“
    – Sands politischen Schlussfolgerungen in Bezug auf den Zionismus und den Staat Israel
    – Die Rezeption von Sand in Deutschland

    Da ich Sands Buch bisher nicht gelesen habe, kann ich mich nur auf die zahlreichen Besprechungen und Interviews, die Shlomo Sand gegeben hat, beziehen. Falls ich also Sand Unrecht tue, können mich Leser seines Buches korrigieren.

    Mein Eindruck ist, dass Sand genau das tut, was er „den Zionisten“ vorwirft: Geschichte für politische Zwecke zu benutzen (man könnte auch sagen: zu instrumentalisieren). Das ist an sich noch nichts illegitimes, denn jede geschichtliche „Erzählung“ ist ein Konstrukt, bei dem sich widersprechende Fakten nachträglich „geordnet“ und in „Entwicklungszusammenhänge“ gebracht werden. Sands Vorgehen wird dort problematisch, wo er Aussagen „zionistischer“ Historiker „widerlegt“, die so nie aufgestellt wurden. Er kritisiert die jüdische Geschichtsschreibung als historisch nicht belegt, beruft sich aber selber auf Theorien, die weit weniger mit der Faktenlage übereinstimmen.

    Zur Sache: Dass Juden keine ethnisch einheitliche Gruppe bilden, wird niemand bestreiten, der das im Wortsinn bunte Menschengemisch in Israel gesehen hat. Das haben auch die Zionisten für das Diaspora-Judentum des 19. Jahrhunderts nicht behauptet. Unter den Historikern ist heute unumstritten, dass die in der Bibel beschriebene „Landnahme“ der Hebräer kein Eroberungszug war, sondern als ein langsamer Prozess der Beherrschung, Bekehrung und Assimilation verlaufen ist. Damit waren schon die Juden in Judea der Römerzeit ethnisch ein „Mischvolk“.

    Auch die Tatsache, dass es jüdische Gemeinden außerhalb des Landes Israel (oder der Provinz Judea) vor der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 gab, ist unumstritten und bestens dokumentiert. Als gesichert gilt ebenso, dass diesen Gemeinden auch durch Konversionen gewachsen sind, darüber schreiben auch die Historiker Graetz und Dubnow, die Sand für das „Mythos des jüdischen Volkes“ verantwortlich macht. Sands These, diese Gemeinden bestanden nur oder überwiegend aus Konvertiten, ist meines Wissens durch keine historische Quelle belegt und widerspricht auch der Logik: Konvertiten fallen nicht vom Himmel, sondern müssen die Religion, für die sie sich entscheiden, vorher kennenlernen. Eine Auswanderung von Juden aus Judea nach Rom oder in andere römische Zentren ist hingegen belegt und entspricht der damals bestehenden hohen Mobilität. Dass in der antiken Zeit Juden nicht nur als Religion empfunden wurden, sondern als eine von der anderen Bevölkerung abgegrenzte „Volksgruppe“, belegt der in einigen literarischen Zeugnissen dieser Zeit dokumentierte Judenhass.

    Die (massive) Flucht und Vertreibung der Juden aus Judea findet nicht nach der Zerstörung des 2. Tempels im Jahre 70 statt (worauf sich Sand in seiner „Widerlegung“ bezieht), sondern setzt nach der Meinung der überwiegender Mehrzahl der Historiker erst rund 100 Jahre später mit dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes an. Zwar werden heute die römischen Quellen, die von mehr als 500.000 getöteten Juden berichten, relativiert. Als glaubwürdig gelten Berichte, dass in dem verwüsteten Land Olivenbäume rar wurden und dass wegen einem Überangebot jüdischer Sklaven auf den Sklavenmärkten rund ums Mittelmeer die Preise gefallen sind. Wenn Sand hingegen Vertreibung und Flucht in die jüdischen Zentren der Diaspora bestreitet, ist er auf Vermutungen und Theorien angewiesen, für die er keine historischen Quellen nennen kann. Dass es auch danach jüdisches Leben im „Lande Israel“ gab (was Sand als „Beleg“ gegen die Vertreibung anführt), bestreitet niemand. Dies, wie die bis in die Neuzeit immer wieder stattgefundene Rückwanderungen von Juden dient vielmehr den „zionistischen“ Historikern ausdrücklich als Beleg für die weiter bestehende Verbindung der Diaspora mit dem Land Israel. Mit dem Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes endet allerdings endgültig jede jüdische Staatlichkeit in Judea, die Provinz wird in Syria Palästina umbenannt.

    Erstes Fazit: Der von Sand behauptete (fast) komplette Bruch zwischen Diaspora und dem Land Israel (Judea) entspricht nicht den historischen Tatsachen. Die sich weiter zerstreuende jüdische Gruppe, die sich als „Am Jisrael“ (Volk Israels) versteht und von den sie umgebenden Völkern („Ha Goim“) unterscheidet, sind sowohl Nachfahren der ursprünglichen Bewohner des Landes Israel als auch die von einzelnen Konvertiten oder konvertierten Gruppen).

    Fortsetzung zu der eigentlichen „Erfindung“ des jüdischen Volkes durch das rabbinische Judentum folgt demnächst.

  6. Könnte man die Frage nicht naturwissenschaftlich klären? Soweit ich weiß gibt es Abschnitte in der DNA, sog. Markergene, die die Herkunft aus bestimmten Weltregionen nachweisen können. Die Frage „Diaspora: Vertriebene oder Konvertiten?“ sollte man mit diesem Ansatz, wenn nicht völlig beantworten, so doch vielleicht etwas schlüssiger aufklären können als nur über historische Quellen und deren Interpretation.

  7. Das Problem ist ja nicht die gemeinsame rassisch-genetische Herkunft der Juden, sondern dass sie sich in der Diaspora bei den unterschiedlichsten Wirtsvölkern eingenistet haben.

  8. Ja, wo soll das hingehen? Gute Frage. Das Thema ist ja ellenweit und mit überbordendem Aspektenreichtum gefasst, schon alleine durch Bronskis Thread-Einleitung, die Leserbriefe und Abrahams Darlegung, von dem Buch noch gar nicht zu reden. Am besten schreibt erst einmal jeder ungefiltert seine Gedanken, und es ergeben sich ggf. daraus Schwerpunkte.
    Von mir also, obwohl mir das als Systematiker widerstrebt, ein Paar lose Gedanken in die Tüte geschrieben. Zu mehr komme ich frühestens in der nächsten Woche.

    Abraham ist ja eben nur ein journalistischer Vertreter der sog. „exakten“ Wissenschaften, deshalb braucht er im gegebenen Fall nicht wie der sorgfältige Bronski und ich erst das Buch zu lesen, um es zu beurteilen. Ich bin allerdings ein langsamer Leser und brauche für die 450 Seiten ohne Apparat mindestens anderthalb Tage.

    Kann man nicht die Anne-Dore Mädge zur Mitdiskussion bewegen? Das würde mich sehr interessieren, denn das Wenige, das ich über die Geschichte Alt-Israels weiß und im Gedächtnis habe, habe auch ich bei theologischen Alttestamentlern gelesen. Vor gefühlten zwei Menschenleben allerdings.

    Mein ironischer Hinweis in #8 will besagen, dass man gerade mit der Rekonstruktion angeblich „ethnischer“ Abstammung von vor zwei bis dreitausend Jahren nicht weiterkommt, ven der nach meiner Lesart auch Abrahams Argumente nicht ganz frei sind, und dass Sand damit mit Recht aufräumt. Näheres und ggf. Systematischeres dazu als Reflex auf eine wünschenswerte Diskussion.

    Mein ironischer Hinweis in #6 will darauf hindeuten – auch hierzu Näheres gerne später -, dass alle Völker, Nationen und Staaten „erfunden“ worden sind. Das „deutsche Volk“, man wird es nicht glauben, gibt es erst seit etwa zweihundert Jahren. Ein Buch mit dem Titel „Die Erfindung des deutschen Volkes“ würde hier keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Es wäre also interessant dem nachzuspüren, was gerade an der Erfindung des jüdischen Volkes so sehr das allgemeine Interesse erweckt.

    Es wird wohl für historisch wenig Unterrichtete eine Überraschung sein, DASS das jüdische Volk erfunden worden ist, und allein der Titel mag insofern für die Juden in Israel und New York ganz andere Assoziationen und Interessen hervorrufen als hier. Mir erschien er daher zunächst als zweideutig reißerisch, weil hier – wieder einmal – die Möglichkeit gegeben erscheint, die Juden als das Besondere gegenüber anderen Völkern und Nationen in den Fokus zu rücken.
    Aber natürlich bildet die Geschichte des jüdischen Volkes, sowohl als Realgeschichte als auch in ihrer „mythischen“, für das kollektive Bewusstsein sinngebenden Gestalt, die andere Völker auf je ihre Weise ebenfalls pflegen, für sich eine Besonderheit, auf die Sand zu meiner Befriedigung samt den daraus seiner Ansicht nach zu ziehenden Konsequenzen den Schwerpunkt legt.

    Was die Konstruktion eines alt-israelischen Volkes in Palästina anbetrifft, von dem „Teile“ der Juden abstammen sollen, so habe ich, lieber Abraham, dir in unserer damaligen Diskussion schon kontroverse Aspekte zu denken gegeben. Ein Blog hat aber erfahrungsgemäß kein Gedächtnis. Bei Gelegenheit also vielleicht erneut.

    Der neuralgische Punkt ist aber nicht, welche Araber resp. Moslems und Juden und Christen angeblich von einer palästinensisch-arabischen oder israelitisch-judäischen „Urbevölkerung“ abstammen, das ist für irgendwelche nationalen Ansprüche heute völlig irrelevant, sondern ob und wie man das sog. „Existenzrecht“ Israels jenseits des zionistischen „Gründungsmythos“ heute begründen kann, und zwar, da wird es in der Konsequenz von Sands Erörterung überhaupt erst eigentlich spannend, in seiner besonderen Konstitution als jüdischem Staat.

    Zu guter Letzt muss man sich, wenn man qualifiziert über etwas reden will, erst einmal des Gegenstandes versichern. Will sagen, was „Volk“ bedeutet und was ein Volk ist, ist viel weniger selbstverständlich, als es sich unsere Schulweisheit träumen lässt. Hier leitet Sand nach meinem Urteil Hervorragendes, wenn auch Diskutables.

    Soweit mein abrisshaftes Brainstorming über eine mögliche thematische Auffächerung, natürlich offen für weitere entsprechende Anregungen.

    Schöne Grüße
    Heinrich

  9. @ #10 Heinrich

    Lieber Heinrich,

    worauf ich hinaus will (und ich glaube, dass ich das auch ohne die Lektüre des Buches sagen kann): Die „Berechtigung“ des Zionismus, der das jüdische Volk als „moderne“ Nation mit Anspruch auf eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versteht, ist eine politische Frage, wie es auch die Konstruktion von anderen Nationen im 19. Jahrhundert (z.B. die der Tschechen und Polen) war. Sand versucht, dem zionistischen Konstrukt die „historische“ Grundlage zu entziehen, in dem er die „Kontinuität“ jüdischer Geschichte bestreitet. Dieser These widerspreche ich, wofür es gute Gründe gibt (was über die „Berechtigung“ des Zionismus noch gar nichts besagt). Für die Kontinuität sorgt das „Konstrukt“ des „Volkes Israel“ durch das rabbinische Judentum, das die Juden sowohl an die Ursprünge im Lande Israel bindet als auch in der Zerstreuung zusammenhält. Das Ergebnis ist, dass bis zum Beginn der Emanzipation die Juden in der Diaspora in eigener Wahrnehmung und in der Fremdwahrnehmung als eine eigenständige Gruppe bestehen, die durch Religion, Kultur und Sprache verbunden sind, mit einem gemeinsamen „kollektivem Gedächtnis“. Sie sind weder eine Nation im modernen Sinne noch ein „Staatsvolk“, aber mehr als nur eine Religionsgemeinschaft. Sie sind multiethnisch, wenn es auch durchaus auch biologisch nachweisbare ethnische Gemeinsamkeiten gibt (z.B. das gehäufte Auftreten bestimmter Erbkrankheiten bei askenasischen und sfaradischen Juden).

    Diese „Identität“ empfindet auch die Mehrzahl heute lebender Juden, unabhängig von ihrer Haltung zum Zionismus.

    Sands „Belege“ zur Widerlegung der „jüdischen Geschichtserzählung“ sind meiner Meinung nach nicht überzeugend (z.B. die These, das Jiddische, dessen Ursprünge im Mittelhochdeutsch liegen, hätten die Nachfahren der zum Judentum konvertierten Chasaren von deutschen Kaufleuten gelernt, ist absurd).

    Sands Polemik mag zur Korrektur des vereinfachten historischen Selbstbildes der Mehrheit der jüdischen Israelis beitragen, zu der politischen Debatte um das „Rückkehrrecht“ der Juden nach Palästina liefert sie kaum Argumente. Der Zionismus ist, da stimme ich Dir, Heinrich, zu, als ein nationales Konzept Kind des 19. Jahrhunderts.

    Soweit meine Einschätzung als „jouranlistischer Vertreter der ‚exakten‘ Wissenschaft“. Gerne kann ich Dir die Quellen nennen, auf die sich meine geschichtlichen Darstellungen beziehen.

    Ich halte es für eine weitere Diskussion für sinnvoll, in meinem ursprünglichen Konzept fortzufahren und demnächst über das rabbinische Konstrukt des „jüdischen Volkes“ und seine geschichtliche Wirkung vom Altertum bis zur Neuzeit zu berichten.

  10. Meine Frage unter #7 war natürlich rhetorisch, denn ich las irgendwo einmal, daß die Genetik in solchen Migrationsfragen interessante Auskunft geben kann, konnte mich aber an die Quelle nicht erinnern.

    Da hilft nur Recherche im Internet. Unter folgendem Link werden einige genetische Studien vorgestellt, die Shlomo Sands Ausgangstheorien widerlegen:

    http://news.zionism-israel.com/2010/03/genetics-results-refute-shlomo-sands.html

    Die von mir schon angesprochenen genetischen Markergene zeigen eine Übereinstimmung zwischen über die Welt verteilten Juden, die nicht anders als durch gemeinsame Väter und Mütter erklärbar ist. Die ca. 3,5 Mio. Askenazhi stammen demnach z.B. von 4(!) Frauen ab. Ein jemenitischer Jude hat eine größere genetische Gemeinsamkeit mit einem französischen Juden als mit seinem nichtjüdischen jemenitischen Nachbarn, uswusf. Die entsprechenden Genabschnitte weisen neben der gemeinsamen Abstammung auch auf den Ort der gemeinsamen Abstammung hin: den Nahen Osten.

    Es wird in meinen Augen reichlich schwer für Sand (und andere), redlich wider solche Erkenntnisse zu argumentieren, daß eine gemeinsame Vergangenheit nur Erfindung sei.

    Etwas anderes ist es, ob eine solche, jahrtausende zurückliegende gemeinsame Vergangenheit in jener Region in Nahost irgendetwas übers Heute und Rechte, Möglichkeiten oder gar Verpflichtungen aussagen soll. Ich bin da skeptisch. Es gibt ja einen zwar in Details anders gelagerten, aber ansonsten ähnlichen Fall hierzulande, die Wolgadeutschen. Die haben sich zwar zum Zeitpunkt, als ihnen die Umsiedlung nach Deutschland möglich wurde, nicht im geringsten in jener Lage befunden, in der sich die überlebenden europäischen Juden nach dem 2. Weltkrieg befanden, (aber sie befanden sich in einer sehr ähnlichen Lage wie die russischen Juden, die die letzten Jahrzehnte nach Israel auswandern konnten).

    Es hat sich bei den Rußlanddeutschen gezeigt, daß die Umsiedlung aus ihrer Heimat in die Fremde eher Probleme schuf als löste. Es gibt daher auch eine nicht zu vernachlässigende Rückmigration. Ähnliche Rückmigrationen gibt es auch nach Siebenbürgen. Ich halte es für eine ziemliche Schnapsidee, nach Jahrhunderten in einer neuen Heimat, nach Anpassung, Assimilation, Heimischwerdung, Sichheimischfühlen, Migrationsangebote in eine Fremde zu machen nur aufgrund irgendwelcher Abstammungen oder Genmarkierungen. Wer solche Migrationsangebote dennoch macht, verfolgt in meinen Augen eindeutig politische Ziele.

  11. @ Abraham

    “ ich glaube, dass ich das auch ohne die Lektüre des Buches sagen kann“
    – Halloo? Das war ein Scherz! Natürlich kannst du mehr zum Thema sagen als wir anderen alle zusammen, das weiß doch hier jeder.

    „Ich halte es für eine weitere Diskussion für sinnvoll, in meinem ursprünglichen Konzept fortzufahren“
    – Natürlich, das ist, wie gesagt, auch in meinem Sinne.

    Ich bin aber jetzt offline und kann mich an der weiteren Diskussion allenfalls in ein paar Tagen beteiligen (dies auch an Max Wedell). Aber ich muss auch nicht zu allem meinen Senf dazugeben.

    Grüße
    Heinrich

  12. @ Abraham

    Ich weiß nicht, wie man über ein Buch und die darin vertretenen Thesen reden kann, ohne es gelesen zu haben, aber wenn Sie meinen, dass Sie das können, werden Sie sich an dieser Aussage messen lassen müssen. Das erinnert mich ein wenig an den Krach zwischen Kreationisten und Darwinisten. Erstere müssen sich meines Erachtens vorwerfen lassen, dass sie niemals Darwin und seine Nachfolger gelesen oder ihn, wenn doch, nicht verstanden haben. Und schlimmer noch: Sie (die Kreationisten) haben das Wesen von Wissenschaft nicht verstanden, wenn sie verlangen, dass eine endgültige, ewige Wahrheit vorgelegt werde. So ist es nämlich auch bei dem Disput um Shlomo Sand: Er hat ein wissenschaftliches Werk vorgelegt und meines Erachtens eine ganze Reihe von Indizien dafür geliefert, dass etwas mit dem Begriff vom jüdischen Volk nicht so stimmt, wie es geglaubt werden soll. Er hat eine Theorie vorgelegt. Eine provozierende Theorie, zweifellos. Aber keine – wie Sie es oben schreiben – Polemik.

    Wissenschaft ist ein Prozess ständigen Überdenkens. Es gibt in ihr keine zementierten Wahrheiten. Allein die beinharte Manier, in der die Gegner Shlomo Sand angehen, erinnert mich an die Kreationisten.

    Ich denke, Sie sollten das Buch lesen, um mitreden zu können. Das sage ich, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen. Das Buch ist nicht teuer.

  13. Bis jetzt sehe ich hier vier „Methoden“, den Begriff „Volk“ zu definieren.

    1. verwandtschaftlich-genetisch
    2. geografisch-politisch
    3. schicksalhaft-historisch
    4. utopisch-gewollt

    „Erfindungen“ sind sie wohl alle, da die Abgrenzung, ab wann eine Gruppe sich als „Volk“ definieren lässt, völlig willkürlich ist, da der Begriff zunächst nur ein Menge von Menschen bezeichnet und die weiteren Definitionen lediglich der besseren Überschaubarkeit dienen und also der mehr oder weniger beschränkten Sicht des Betrachters unterliegen.

  14. Wenn man von der „Erfindung“ des „jüdischen Volks“ sprechen kann, so ist diese eng mit der Entstehung des rabbinischen Judentums verbunden. Die Rabbinen transformierten das Judentum, das bis zur Zerstörung des 2. Tempel auf den Tempelkult zentriert war und sich auf die auch unter der helenistischen Herrschaft erhaltene Reste der Staatlichkeit stützte, auf eine neue Ebene. Diese Bewegung war bereits zur Tempelzeit von den Pharisäern vertreten (von deren Ideen sich auch viel in der Lehre von Jesus findet und denen in den Evangelien Unrecht angetan wird), faltet sich aber – und zwar sowohl in Palästina (wo um 200 die Mischna), als auch in der Diaspora (was auch die beiden Fassungen des Talmud, die Jerusalemer und die ausführlichere Babylonische, belegen) bis zum 5. Jahrhundert aus. Das Judentum wird dabei als „Am Jisrael“, das Volk des Bundes. Der (universelle) Gott, so die religiöse Vorstellung des rabbinischen Judentums, hat das Volk Israel zum einen Bund „auserwählt“ und ihm das „Joch der Tora“ aufgelegt, der das gesamte Leben umfassenden Vorschriften. Die Aufgabe des jüdischen Volkes ist es, durch ihr – von den Völkern abgeschiedenes – Leben Zeugenschafft Gottes abzulegen (Licht der Völker) zu sein. Damit wird eine (geschlossene) Gruppe gebildet, die außerdem das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit (unabhängig davon, ob diese real ist) hat und eine messianische Erwartung der Rückkehr in das Abraham, Isaak und Jakob von Gott versprochene „gelobte Land“ teilt. Dem entsprechend wird auch eine Konversion zum Judentum nicht als Übernahme bestimmten religiösen Glaubensgrundsätze gesehen, sondern als der Eintritt in den Bund des Volkes Jisrael mit Gott. Die Formel dafür findet sich im Buch Ruth, die sagt: „Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist dein Gott.“ Der Konvertit bekommt deshalb auch einen neuen Namen und verliert nach dem jüdischen Gesetz seine rechtliche Bindung an seine frühere Familie. Daher verändern auch Konversionen nicht den „nationalen“ Charakter des Judentums.
    Dieses religiöse Konstrukt ist so stark, dass es eine Klammer für die verschiedenen jüdischen Gruppen in der Diaspora schafft, deren Verbindung untereinander – trotz unterschiedlicher Entwicklungen – auch über die Jahrhunderte nicht abreist. Das Hebräische der Bibel und das Aramäische des Talmud bleiben die verbindenden sprachen, auch wenn sich in den Hauptgruppen der Aschkenasim, der Sfaradim und der Misrachim unterschiedliche Volkssprachen – Jiddisch, Ladion und Arabisch – herausbilden.
    Meine zweite These gegen Sand lautet deshalb: Das rabbinische Judentum ist die Brücke, die das „jüdische Volk“ bis ins 18. Jahrhundert mit dem Land Israel verbindet.

  15. @abraham
    „Wenn man von der „Erfindung“ des „jüdischen Volks“ sprechen kann“

    Das kann man wohl.
    Darin kann man sich doch einig sein, dass alle Völker Erfindungen sind, da diese lediglich Definitionssache sind (siehe #15)und ein Verschweigen der gemeinsamen Menschheitsgeschichte bereits eine absichtsvolle Verengung der Sichtweisen darstellt.

    Ich halte dies für wichtig, um Ressentiments vorzubeugen.

  16. @ Abraham

    Da zeigt sich schon, dass es keinen Sinn hat, auf dieser Basis zu diskutieren. Der Untertitel von Sands Buch lautet „Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand“. Dabei ist auf dem Weg der Analyse durchaus viel von Ethnie, Volk und sogar Rasse die Rede. Das Buch hat aber einen aktuellen Bezug zum heutigen Israel. Laut Sand wurde der Gründungsmythos im Zusammenspiel vieler Historiker (Heinrich Graetz, Simon Dubnov, Ben-Zion Dinur, Isaak Levinson Baer) im Laufe von gut hundert Jahren konstruiert – im 19. und 20. Jahrhundert.

    Sie, Abraham, konstruieren mit Ihrem Postulat von der Abgeschlossenheit des rabbinischen Judentums eine elitäre religiöse Ethnie, wie sie ähnlich Heinrich Graetz im 19. Jahrhundert auch sah. Der Gründungsmythos des Staates Israel geht weit darüber hinaus. Um den geht es hier.

  17. Monika,

    haben Sie ein wenig Geduld, ich werde auf das 19. Jahrhundert und Graetz noch zurückkommen.

    Ich hole deshalb so weit aus, weil Sands Grundargument gegen die zionistische Idee einer jüdischen Nation (so wie ich es verstehe) darin liegt, dass er die Kontinuität der „jüdischen Geschichte“ in Frage stellt. Sein „Trick“ (weshalb ich sein Auftreten durchaus als Polemik verstehe, was an nichts ehrenrühriges ist) besteht darin, seinen „Gegnern“ Behauptungen zu widerlegen, die diese gar nicht getan haben.

    Der gleichen Methode bedienen Sie sich, wenn Sie aus meine Ausführungen als das „Postulat von der Abgeschlossenheit des rabbinischen Judentums (als) eine(r) elitäre(n) religiöse(n) Ethnie“ bezeichnen. Sie können unter #11 nachlesen, dass ich die Juden der Diaspra ausdrücklich als multiethnisch bezeichnet habe. Auch habe ich von einer „Abgeschlossenheit“ des jüdischen Volks (im rabbinischen Sinne, auf die Frage der „modernen“ Definition von Nation und Volk werde ich noch zurückkommen) nirgendwo geschrieben, sondern dieses als eine in Eugen- und Fremdwahrnehmung geschlossene“ Gruppe. Dass es in der Antike Konversionen zum Judentum gab, habe ich ebenfalls erwähnt. Ich habe aber auch Sands These widersprochen, dass das Diaspora-Judentum (fast ausschließlich) das Produkt von Konversionen ist. Falls es im Sands Buch Belege für diese These gibt, die bisher in der öffentlichen Diskussion des Buches nicht genannt wurden, lasse ich mich gerne belehren.

    Im Übrigen: Um Sands Buch zu lesen, fehlt mir nicht das Geld, sondern die Zeit.

  18. Ergänzung: Konversionen gab es natürlich auch in den ersten nachhristlichen Jahrhunderten, bis sie durch das Christentum und den Islam unter androhung der Todesstrafe untersagt wurden. Dabei waren Massenkonversionen (z.B. der Berber in Nordafrika und der Chasaren im Kaukasus) eher die Ausnahmen, ihr Umfang ist außerdem umstritten. Über die Konversion der Chasaren (in denen Sand den Ursprung des osteuropäischen Judentums sieht) gibt es widersprüchliche Berichte; wahrscheinlich ist nicht das ganze Volk, sondern nur die herrschende Schicht im 8.oder 9. Jahrhundert zum Judentum konvertiert. Im 10. Jahrhundert beginnt auch dort dar Islam zu dominieren. Zu dieser Zeit beginnt auch der Niedergang des chasarischen Reiches. Die (durch Quellen belegte) Ostwanderung des aschkenasischen Judentums nach Polen und später weiter nach Russland findet erst nach der mit den Kreuzzügen beginenden blutigen Verfolgung der Juden in Westeuropa, vor allem in Deutschland.

  19. @ # 17 BvG

    Darin sind wir uns einig, dass alle Völker „Erfindungen“ sind. Sands fragwürdige These lautet aber, dass die „Erfindung“ des jüdischen Volkes „falsch“ sei, weil sie nicht auf historischen Tatsachen beruht.

  20. @ Abraham

    Umgekehrt wird ein Schuh draus. Wenn man unterstellt, dass alle Völker „erfunden“ seien – und ich denke, das kann man wirklich unterstellen -, warum soll es dann nicht erlaubt sein, diesen Erfindungsprozess zu hinterfragen? Warum soll gerade das jüdische Volk von einer solchen Dekonstruktion ausgenommen sein? Über die zahlreichen verschiedenen Nationalismen des Westens gibt es die unterschiedlichsten Untersuchungen. Es war höchste Zeit, dass auch der jüdische Nationalismus mal unter die Lupe genommen wird.

    „Sands fragwürdige These“, schreiben Sie, „lautet aber, dass die ‚Erfindung‘ des jüdischen Volkes ‚falsch‘ sei, weil sie nicht auf historischen Tatsachen beruht.“

    Das haben Sie meines Erachtens nicht ganz richtig verstanden. Erstens stellt Sand weder die Existenz des jüdischen Volkes noch seine Existenzberechtigung (oder gar die des Staates Israel) infrage. Ich denke, er würde dem zustimmen, was Sie oben über die Funktion des Rabbinertums hinsichtlich des Zusammenhalts der verschiedenen jüdischen Gemeinden und seiner Bedeutung für die Besinnung auf ihrer Wurzeln geschrieben haben. Er würde allerdings zweitens den Begriff „Volk“ hinterfragen, der für ihn grundsätzlich nur schwammig definiert ist. Was ist es, was dazu berechtigen könnte, die rund ums Mittelmeer und weit darüber hinaus verstreuten Juden als „Volk“ zu bezeichnen, trotz aller Assimilation der lokalen Gemeindemitglieder an ihre jeweiligen Umgebungen, trotz aller Heterogenität? Das Bewusstsein einer elitären Herkunft als Gottesvolk? Die Religion also?

    Hier setzt Sand an und zeigt – meines Erachtens wohlbegründet -, dass es dabei überall hakt. So hat es keine Vertreibung der Juden nach der Zerstörung des zweiten Tempels gegeben, obwohl diese Vertreibung im kollektiven Gedächtnis fest verankert ist. Vielmehr begannen Juden schon in hellenistischer Zeit (und davor), sich rund ums Mittelmeer und von Babylon aus nach Osten zu verteilen, ganz freiwillig. Wenn es eine Vertreibung im Jahr 70 n.C. gegeben hätte, wäre kaum nachvollziehbar, wieso Judäa zur Zeit des Bar Kochba-Aufstandes bereits schon wieder so dicht bevölkert sein konnte, dass dieser Aufstand die Wucht einer Massenbewegung entfalten konnte. Die Vertreibung spielt trotzdem eine elementare Rolle in der Konstruktion des jüdischen Volkes, wie sie offenbar von interessierter Seite vorgenommen wurde.

    Sand zeigt auch, wie die Geschichtswissenschaft vom Volk Israel, die in Israel von aller anderen Geschichtswissenschaft getrennt ist und eigene Fakultäten bildet, im Lauf der Zeit immer mehr in Erklärungsnot kam, als die Befunde der Archäologie immer schlechter mit den von ihr konstruierten Wahrheiten zur Deckung zu bringen war. Es ist fast komisch zu lesen, welche Verrenkungen die hebräischen „Forscher“ unternehmen mussten, um ihren „Wissensstand“ zu verteidigen. Es blieb ihnen letztlich nichts anderes übrig, als ihn anzupassen. Es gab, um nur ein Beispiel zu nennen, zur Zeit des Königs David keine monumentalen Paläste in Judäa – oder die Archäologen haben sie noch nicht gefunden. Diese monumentalen Paläste und ihre Strahlkraft waren von den „Forschern“ aber als historische Gewissheit behauptet worden, allein auf der Basis der Bibel, die in den Augen dieser „Forscher“ sehr konkret historische Wahrheit abbildet.

    Es ist allerdings richtig, dass es massive Deportationen zur Zeit der babylonischen Könige gab, die Judäa zweimal eroberten. Diese Verschleppungen und das babylonische Exil waren traumatisch für die Betroffenen; die Psalmen erzählen davon. Trotzdem wollten viele Juden schon wenig später nicht mehr in ihre Heimat Judäa zurückkehren. Babylon war damals das Zentrum der Welt, Judäa tiefste Provinz. Ein paar Jahrhunderte später hatte Alexandria ähnliche strahlkraft, und viele Juden gingen ganz freiwillig dort hin.

    Es kann gut sein, dass diese zunächst traumatische Erfahrung vom babylonischen Exil im kollektiven Bewusstsein so fest verankert war, dass sie auf ähnlich verheerende Ereignisse wie die Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer quasi reflexartig abgerufen wurde. Jedenfalls ist diese Vertreibung, die nicht stattgefunden hat, von essentieller Bedeutung für den heutigen, konstruierten Begriff vom jüdischen Volk. Da wird man wohl mal fragen dürfen, nicht wahr?

  21. @ # 22 Monika

    Selbstverständlich ist es das gute Recht von Sand, die Entstehung des Konstrukts des „jüdischen Volks“ zu hinterfragen. Nur müssen dann seine Argumente stimmen, was ich nicht sehe. Zu der Frage, ob es eine Flucht und Vertreibung aus Judea als Folge der jüdischen Aufstände gab, lesen Sie bitte unter # 5 nach.

    Für das Ausmaß des Babylonischen Exils gibt es im Übrigen weit weniger historische Quellen als für die Vertreibung der Juden aus Judea nach den Aufständen gegen Rom, was aber nicht gegen die von Ihnen vorgebrachte Darstellung spricht.

    Dass die Interpretation archeologischer Funde aus der Zeit der „Landnahme“ oder der Königreiche als eine Bestätigung der Bibel aus den 70er und 80er Jahren nicht mehr als „Stand der Wissenschaft“ gelten kann, habe ich vor einigen Jahren bei einem Vortrag in Jerusalem gehört, von einem „hebräischen Forscher“, der keineswegs als Dissident angegriffen wurde. Dass die Bibel kein Geschichtsbuch ist, hat schon die kritische Bibelforschung und die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert belegt. Was hat das mit dem Zionismus zu tun?

  22. Soweit ich verstehen konnte, war die „Erfindung des jüdischen Volkes“ eine Reaktion auf die „Erfindung anderer Völker“, weil eine Notwendigkeit der Abgrenzung entstanden war, in der Bedeutung und politische Rechte nurmehr auf der Basis einer umgrenzten Einheit zu erreichen war.
    Insofern war die Erfindung des jüdischen Volkes eine Anpassung an herrschende Bedingungen.

    Es war nicht so sehr das Bedürfnis, sondern die Notwendigkeit gegeben, ein „Volk“ darzustellen, um eine Heimat zu finden(und auch diese zu konstruieren), weil eben zu der Zeit ein „heimatloses Judentum“, (positiv formuliert, ein „kosmospolitisches Judentum“) gefährdet war und als politisches Gewicht nicht wahrgenommen wurde.

  23. Es erscheint ausgesprochen schwierig, hier, da ich nicht am Ball bleiben konnte, in die Diskussion einzusteigen, zumal ich auch weiterhin für mindestens eine Woche wenig Zeit habe. Abraham geht es ja ähnlich, und es ist wirklich schade, dass er dadurch und nicht wegen Geldmangels an der Lektüre des Buches verhindert ist. Kann man hier in der Gemeinde nicht mit dem Klingelbeutel herumgehen und für uns beide eine wohltätige Sammlung von Zeiteinheiten veranstalten? So bin ich hin- und hergerissen zwischen erst weiterlesen und das Buch angebissen liegenlassen und mich hier einzumischen.

    Die Kontroverse zwischen Abraham und Monika scheint mir zu sehr vom Interesse Recht zu behalten bestimmt als von dem gemeinsamen Interesse an Klärung der ersichtlich schwierigen Materie. Deshalb zunächst einige darauf abzielende Fragen und Gedanken.

    Was ich im Grundsatz bei der Kontroverse nicht verstehe, ist zunächst einmal ganz schlicht:
    1. Ist das jüdische Volk als solches nun eine Erfindung oder nicht?
    2. Geht es dabei vordringlich
    a) um den strittigen Volksbegriff?
    Oder wird von Sand und Monika, wie Abraham anzunehmen scheint,
    b) die Kontinuität einer Zusammengehörigkeit der Judenheit, womit begrifflich auch immer gefasst, und das entsprechend aufrechterhaltene Bewusstsein davon in der zwei- oder zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der Diaspora bestritten?

    3. Wofür genau ist die so oder so geartete Antwort auf diese Fragen eigentlich wichtig?

    Zu 1.:
    Was meinst du, Abraham, eigentlich genau mit dem Satz: “Sands fragwürdige These lautet aber, dass die “Erfindung” des jüdischen Volkes “falsch” sei, weil sie nicht auf historischen Tatsachen beruht“? Deine Formulierung bedeutet, das jüdische Volk sei keine „Erfindung“. Darin scheint mir aber ein Widerspruch zu deiner übrigen Argumentation zu bestehen.
    Zunächst zu deinen Aussagen: „Sands These, dass die jüdische Diaspora nicht durch Flucht und Vertreibung aus Judea entstanden ist“ und „Sands Bewertung des „jüdischen Volks“ als ‚Mythos'“

    Dazu ist zu sagen, dass, soweit ich sehe, Sand nicht das jüdische Volk als Mythos bezeichnet, sondern er bezeichnet, und zwar völlig zurecht, die „Konstruktion“ eines jüdischen Volkes, das aus Judäa vertrieben worden sei, als „Gründungsmythos“ des Staates Israel.
    Wie du und Monikia natürlich wissen, aber woran für andere Leser vielleicht erinnert werden kann, beginnt die Gründungsdeklaration („Unabhängigkeitserklärung“) Israels mit dem Satz:

    „Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig, Hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher. Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden.“

    Das ist der Kern des „Gründungsmythos“, wobei du m.E. einen ungenauen Begriff von der Bedeutung des Mythos hast. Mythos bedeutet nicht einfach „falsche Ideologie“, sondern, darauf legst gerade du doch gegenüber den Propagandisten einer rein wissenschaftlichen Welterklärung im Beharren auf der Bedeutung der Religion sonst so viel Wert, ein Mythos ist eine im Wesentlichen nicht Faktizität, sondern Sinn vermittelnde Erzählung. Das heißt für den israelischen Gründungsmythos, adäquat zu den Gründungsmythen anderer Nationen, wie auch von Sand entwickelt, dass in einer solchen „Erzählung“ genau das zum Ausdruck kommt, was du an einer Stelle das „kollektive Gedächtnis“ nennst. Ein solches kollektives Gedächtnis eines „Volkes“ enthält tatsächliche historische Ereignisse, aber meist in stark überhöhter Form, neben fiktiven Legenden, und dieses Amalgam wird dann von den Ideologen der jeweiligen nationalen Idee, denen Sand eine wesentliche Rolle beimisst, im Zuge der Nationalitätenbildung von einer Sinn-vermittelnden Erzählung zu scheinbarer historischer Wahrheit umgedeutet.

    Die historische Rekonstruktion solcher überall tradierten Mythen gehört zur vornehmsten Aufgabe und zum unabdingbaren thematischen Arsenal der historischen Wissenschaften, ggf. unter Einbeziehung der Ergebnisse von archäologischen, sprachwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und anderen Forschungen.

    Ich weiß, lieber Abraham, dass du das weißt, aber vielleicht wären hier auch noch Leser und Diskutanten zu berücksichtigen, die nicht unbedingt beurteilen können, ob die Diaspora, also die Zerstreuung“ der Juden in alle Welt, nach der babylonischen Gefangenschaft begonnen hat, worin wir beide Monika recht geben, oder nach der Zerstörung des jüdischen Tempels, wo aber auch nicht einmal jedermann wissen dürfte, dass es deren zwei gab und welche Bedeutung dieser Umstand für die Konstitution des jüdischen „Volkes“ hatte. Zum Volksbegriff schreibe ich noch gesondert etwas, Sand leistet hier, wie gesagt, Hervorragendes, in der notwendigen Verallgemeinerung aber auch Ergänzungsbedürftiges.

    Soviel sei aber hier gesagt: Wenn Theodor Herzl, der zwar den Zionismus nicht begründet, ihm aber zu seiner Breitenwirkung verholfen hat, in seinem Buch „Der Judenstaat“ schreibt: „Wir sind ein Volk, ein Volk“, so ist das natürlich die Negation des Gegenteils, also Programm statt Realitätsbeschreibung. Zugespitzt ließe sich vielleicht für diese – verspätete – nationalistische Inanspruchnahme des Volksbegriffs das gleiche sagen, wie ein knappes Jahrhundert zuvor für die intellektuellen Konstrukteure des „deutschen Volkes“: die Deutschen wie die Juden waren zuvor bestimmt in dem uns geläufigen Sinne des Wortes kein Volk, aber durch die Romantiker sind die Bewohner der verschiedenen Regionen Deutschlands eins geworden, und durch den Zionismus, aber nicht zuletzt durch den Antisemitismus, auf den der Zionismus als Reflex entstand, sind die Juden eins geworden.

    Zum ersten: in einem zeitgenössischen Aufsatz über Studenten der Universität Bamberg finden sich Zahlen über das Verhältnis von dort studierenden Ausländern zu den „Einländern“, wie damals der Gegenbegriff noch konsequent lautete. Unter „Einländern“ werden dort aber keineswegs „Deutsche“ verstanden, sondern Oberfranken, wogegen Bayern, Schwaben usw. durcheg „Ausländer“ waren. (Übrigens kommt der Ausdruck „Nassauer“ für Leute, die gerne etwas für lau erhalten, daher, dass der Fürst von Nassau mangels einer eigenen Universität seinen Landeskindern an der Universität Göttingen einen Freitisch bezahlte, und findige Studenten herausbekamen, dass man beim Essen-Fassen nur sagen musste: „Ich bin ein Nassauer“).

    Also: Bevor ich noch weiter ins Erzählen komme: soweit erst einmal dies zur Diskussion, zu den anderen Punkten später mehr.

    Grüße
    Heinrich

  24. Monika,
    um nicht eine unproduktive Debatten über die Theorien führen zu müssen, mit denen Sand seine Behauptung begründet, es habe kein Exil der Juden aus Judea stattgefunden, können wir uns doch auf folgende Punkte einigen:
    1. Mit der Zerstörung des 2. Tempels im Jahr 70 geht das kultische Zentrum des antiken Judentums verloren.
    2. Mit der blutigen Niederlage des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 135 geht der Rest der „jüdischen Staatlichkeit“ in Judea verloren, die Provinz wird in Syria Palaestina umbenannt und verliert bis zur Eroberung durch die Araber im 7. Jahrhundert an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung.
    3. In Palästina verbleibt eine nur sehr begrenzte jüdische Bevölkerung, vor allem in Galiläa, die römischen Pressionen ausgesetzt ist. Das „Gewicht“ verlagert sich zu den jüdischen Gemeinden außerhalb des Landes, die bereits vorher durch Auswanderung der Juden entstanden sind und durch Konversionen gewachsen waren. Es gibt keine durch Quellen belegte Widerlegung der Berichte, dass diese Gemeinden auch Flüchtlinge und Vertriebene nach den „jüdischen Kriegen“ aufgenommen haben.
    4. Die so entstandene Diaspora (die also zumindest teilweise „ethnische“ Wurzeln im „Lande Israel“ hat), sichert das physische Überleben der Juden, die aber durch ihre Religion mit dem „Land Israel“ ideell verbunden bleiben.
    Meine Schlussfolgerung daraus: Das „kollektive Gedächtnis“ eines Exils aus dem Lande Israel hat durchaus eine Grundlage in der realen Geschichte.

  25. Zum zweiten:
    Isaak Deutscher schreibt in seinem Essay „Wer ist Jude?“:
    Es ist auf tragische und makabre Weise wahr: Den größten Beitrag zur Wiederbestimmung der jüdischen Identität hat Hitler geleistet, und darin besteht einer seiner bescheidenen nachträglichen Triumphe. Auschwitz wurde zur schrecklichen Wiege eines neuen jüdischen Bewusstseins und einer neuen jüdischen Nation. Diejenigen, die ihr Judesein in seiner Kontinuität immer betont haben, kommt es freilich hart und bitter an, sich vorzustellen, die Vernichtung von sechs Millionen Juden habe dem Judentum zu einem derart neuen Leben verholfen. Mir wäre lieber gewesen, die sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder hätten überlebt, und das Judentum wäre dafür untergegangen. Erst aus der Asche von sechs Millionen Juden stieg der Phönix des Judentums empor. Welche Auferstehung!“

  26. Der vorhergehende Post von heinrich weist darauf hin, daß es 1945 in Europa ein praktisches Problem gab. Überlebenden Juden war es beim besten Willen nicht zuzumuten, weiter unter Deutschen zu leben. Auch der Einlassung M. Ahmadinedschads, die Deutschen als Verursacher dieser Situation hätten gefälligst Territorien abtreten müssen zur Gründung eines Judenstaates, muß man entgegnen, daß eine Nachbarschaft Israels zu Deutschland ebenfalls kaum zumutbar war.

    Den Juden die Merkmale einer Zusammengehörigkeit abzusprechen, die man allgemein „Volk“ nennt, bedeutet ja nicht nur, daß man ihr Zusammenströmen in Israel während und nach der Naziverfolgung als irgendwie illegitim darstellt, sondern eine Flucht samt Zusammenströmen egal wo auf der Welt (welches wohl egal wo auf der Welt von der indigenen Bevölkerung nicht nur mit Begeisterung aufgenommen worden wäre, mögliche Ausnahme: Antarktis) wäre unter dem Gesichtspunkt der Ansicht, ein jüdisches Volk gäbe es gar nicht, irgendwie illegitim gewesen. Jeder Jude hätte sich einzeln um einen Platz irgendwo auf der Welt bemühen müssen, wo man ihn gerade akzeptieren will. Aus der Diaspora in die Diaspora.

    Heute ist aber doch ein anderes praktisches Problem zu lösen: das friedliche Zusammenleben zwischen Arabern und Juden in Palästina. Um dahin zu kommen, wäre es natürlich einfacher, wenn weder Juden noch Araber Anlässe hätten, sich als besondere, getrennte Bevölkerungen zu sehen. Eine Dekonstruktion der Identität „jüdisches Volk“ ist negativ zu sehen, wenn sie zur Infragestellung der Anwesenheit von Juden in der Region verwendet würde, wäre aber positiv, wenn sie ein „Wir und Die“-Denken abzubauen hilft. Um letzteres zu tun hätten aber auch die Araber noch sehr, sehr an sich zu arbeiten, das sollte man auch mal anmerken.

    Auch in der innenpolitischen Diskussion stehe ich auf dem festen Standpunkt, daß langfristige Konfliktfreiheit nur über Assimilation Zugewanderter erreicht werden kann, und alles, was sich der Assimilation widersetzt, wird ewig Konfliktpotential erzeugen, wenn es in nennenswerter Anzahl auftritt. Die Propagandisten eines konfliktfreien Multikulti hierzulande weisen immer gern auf irgendwelche Hugenotten oder Schimanskis in Düsseldorf hin, schamhaft verschwiegen wird dabei, daß hier letztendlich nahezu totale Assimilation stattfand.

    Von einer gegenseitigen Assimilation sind Juden und Araber Lichtjahre entfernt. Der Hinweis, daß Juden und Araber sie erreichen müssen, würde auf beiden Seiten großen Aufschrei ernten. Das ändert nichts daran, daß, wenn Juden und Araber die gegenseitige Assimilation nicht erreichen, Konflikte ständig hinter der nächsten Ecke lauern werden, das ist die Natur nicht der Araber oder Juden, sondern des Menschen. Insofern ist Sands Buch als ein erster winziger Schritt dahin zu begrüssen, selbst wenn seine grundlegenden Theorien zum jüdischen Volk daneben liegen sollten.

  27. @ # 25 Heinrich

    Lieber Heinrich,

    danke für Deine Erläuterungen, denen ich weitgehend zustimmen kann. Nur: Wer bestreitet denn, dass die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel ein „Mythos“ in dem von Dir beschriebenen Sinne ist? Wenn dies die Absicht von Sand wäre, warum gäbe es diese häftige Reaktion in der Öffentlichkeit? Ich bezweifle nicht, dass Sand mit vielen bedenkenswerten „jedoch“ und „aber auch“ die „Geschitserzählung des jüdischen Volkes“ kommentier, wie es viele Historiker (schon Graetz eingeschlossen) vor ihm getan haben. Er geht aber, zumindest in der Zuspitzung seiner Interviws und in der Wahrnehmung der Rezensenten, deutlich weiter. Er beschuldigt die „jüdischen Historiker“ der „Fehldeutung“, wenn sie vom Exil der Juden schreiben und eine Verbindung zwischen den Juden der Diaspora und denen des „Ursprungslandes“ sehen. Deshalb seine Polemik, es habe keine Vertreibung nach der Zerstörung des 2. Tempels gegeben (Polemik deshalb, weil dies so niemand behauptet hat). Deshalb die Behauptung, die Juden der Diaspora stammen von Konvertiten (einschließlich der These, das Ostjudentum sei aus den konvertierten Chasaren entstanden).

    Seine „Dekonstruktion“ hat doch nur die eine Zielrichtung, nämlich den von Dir mitzitierten Satz der Unabhängigkeitserklärung zu „widerlegen“: „Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden.” Sein Interess ist nicht historisch, sondern politisch, wie es die Übeschrift seines Interviews in der Jüdischen Allgemeinen gut ausdrückt: „Wir haben kein Anspruch auf das Land“.

    Um Mißverständnisse zu vemeiden: Das ist eine absolut legitime Haltung, die politisch begründbar ist. Auch seine Positionen zum israelisch-palästinensischen Konflikt und der politischen Lage in Israel sind legitim, wenn auch nicht neu.

    Neu ist, dass er den Gegnern der staatlichen Existenz Israels (zu denen er selber nicht gehört), den „Beweis“ geliefert hat, die „zionistische Geschichtserzählung“ ist eine historische Lüge. So jedenfalls wird sein Buch von Vielen (die es wahrscheinlich wie ich nicht gelesen haben) gefeiert.

  28. Lieber Abraham,

    ich sehe mich ehrlich gesagt nicht imstande, Sands gesamtes Buch nachzuerzählen. Sie sollten es wirklich selbst lesen und Ihre Standpunkte daran überprüfen.

    „Dass die Bibel kein Geschichtsbuch ist, hat schon die kritische Bibelforschung und die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert belegt. Was hat das mit dem Zionismus zu tun?“

    Das hat mit dem Zionismus zu tun, weil die Entwicklung der jüdisch-historischen Wissenschaft sich im Lauf des 19. Jahrhunderts von den Bibelkritikern des frühen 19. Jahrhunderts entfernte und viele Angaben der Bibel in die Konstruktion des Begriffs vom jüdischen Volk einflossen. Etwa die Sache mit den Palästen Davids und Salomos. Die Bibel wurde genutzt, um zunehmend einen jüdischen Anspruch auf Jerusalem zu konstruieren, der durch das Alter der Heiligen Schrift zusätzlich gerechtfertigt aussehen sollte. Die Bibelforschung hat dann allerdings gezeigt, dass die einzelnen Bücher der Bibel nicht so alt sind, wie die jüdischen „Forscher“ es behaupteten. Die Archäologie hat zusätzliche Erkenntnisse gebracht, die dieses Bein des Zionismus zusätzlich schwächten, u.a. die Erkenntnis, dass Judäa, auch wenn es in der Bibel steht, in seiner Entwicklung hinter dem benachbarten Königreich Israel zurückstand. Der Versuch, eine glänzende, weit zureichende Vergangenheit zu konstruieren, ist damit fehlgeschlagen. Das ist sicher einer der Gründe, warum die Debatte um Shlomo Sand so hoch geht: Das jüdische „Volk“ ist historisch viel weniger dazu legitimiert, im Heiligen Land zu herrschen, als es glaubt. Das ist natürlich eine politische Aussage Sands.

    Zu Ihren Punkten in Kommentar 26:

    1 und 2 stimme ich zu, 3 und 4 (auf der Sand-Basis) nicht. Sand sagt, dass es auch im 2. Jahrhundert unserer Zeit keine Vertreibung und keine großen Wanderungsbewegungen gegeben hat. Dass in der Provinz Syria Palaestina bald darauf immer weniger Juden zu leben scheinen, begründet er mit deren Konversion zum Christentum. Auffällig findet er nämlich, dass zum Konzil von Nicäa Anfang 4. Jh. viele Vertreter aus dem judäischen Gebiet kamen, d.h. in dieser Region muss das Christentum sich ausgebreitet haben. Das Christentum, postuliert Sand, habe große Anziehungskraft auf viele Menschen gehabt, da es weniger rigide Disziplin einforderte (z.B. keine Beschneidung), aber auch eine explizitere Erlösungstheologie anbot als das Judentum.

    Mit einer ähnlichen Erklärung wartet Sand auf, wenn es um das Wachstum der jüdischen Gemeinden im römischen Reich ging. Allgemein war das römische Reich polytheistisch und in religiöser Hinsicht sehr flexibel, aber das befriedigte viele Zeitgenossen offenbar in dem Moment nicht mehr, als erstmals eine monotheistische Religion auftrat, die zudem eine Erlösungsperspektive anbot. Sand stellt dar, dass es zunächst vielfach häufig Frauen gewesen seien, die aus dem römischen Umfeld zum Judentum konvertierten. Männern fiel dieser Schritt wegen der Beschneidungsregel schwerer, aber sie folgten den Frauen dann doch häufig, zumal die Beschneidungsregel vielerorts flexibel gehandhabt und nicht zur Grundbedingung der Konversion gemacht wurde. Sand liefert viele Textstellen römischer Zetgenossen und auch christlicher Märtyrer, die dieses Wachstum der jüdischen Gemeinden aus ihrer Umgebung heraus, also nicht aus einer übergroßen Fruchtbarkeit der Juden, teilweise sehr kritisch und judenfeindlich bewerten. Ein christlicher Märtyrer, den Sand zitiert (Name ist mir gerade entfallen, ich liefere ihn aber gern nach), sagt sogar sinngemäß, Jude sei man (in seiner Zeit) nicht Kraft Volkszugehörigkeit, sondern Kraft eigener Wahl (eines Lebenswegs). Die aus dieser Sichtweise zwingende These lautet: Es gab kein Exil, weil es keine Vertreibung gegeben hat. Die Juden waren da, wo sie waren, weil sie da sein wollten.

    Sand behauptet übrigens auch, dass die Bevölkerung Judäas nach der Eroberung durch den Islam keineswegs arabisch sei, d.h. auch dann hat es keine Vertreibung gegeben. Sicher habe es Vermischung gegeben, wie auch in früheren Zeiten, weil Judäa allein wegen seiner geographischen Lage schon ein Transitland war. Er kommt zu dem Schluss, dass die heutigen Palästinenser die Nachfahren der früheren Judäer sind – also von der Ethnie her, wenn man so will, selbst jüdische Wurzeln haben.

    Und darum dekonstruiert er den israelischen Nationalmythos. Diesem Mythos zufolge ist Israel das Land der Juden, nicht das Land aller seiner Bewohner. Dahin will er die Diskussion und die Entwicklung stoßen.

    Jetzt geht mir aber die Puste aus. Sind Sie immer noch nicht neugierig geworden? Statt sich die diversen Thesen und die Gegenargumente aus dem Netz zusammenzusuchen, sollten Sie wirklich das Buch lesen.

  29. @ # 30 Monika
    Sand, der Spezialist für moderne Geschichte ist, konstruiert eine eigene „geschichtliche Erzählung“, in dem er aus den Quellen die „passenden“ Bausteine verwendet und die verwirft, die in seine Theorie nicht passen. Wie passt die Theorie von massenweiser Konversion der Juden zum Christentum in Palästina dazu, dass die ursprünglich aus Judenchristen gebildete neue Religion erst durch die von Paulus eingeleitete Heidenmission erfolgreich wird? Warum beschränkt sich diese Konversion auf Palästina und dezimiert nicht auch die jüdischen Gemeinden der Diaspora, wo das Christentum seine Erfolge feiert?
    Lässt sich die hohe Zahl der aus Palästina kommenden Teilnehmer des Konzils von Nicäa nicht eher dadurch erklären, dass sich zugewanderte Christen an den Städten des Lebens und der Passion Jesu niedergelassen haben? Zu den prominenten Frühpilgern ins „heilige Land“ zählt Ende des 3. Jahrhunderts die Kaiserin Helena, die dort zahlreiche Kirchen gegründet hat.
    Wozu die wortreiche Begründung, dass es im römischen Reich zahlreiche Konversionen zum Judentum gab? Dies bestreitet doch niemand. Dass außerhalb Judeas jüdische Gemeinden schon lange vor der Zerstörung des 2. Tempels durch freiwillige Auswanderung entstanden sind, haben Sie selbst unter Berufung auf Sand geschrieben.
    Es mag noch viele Details geben, über die man diskutieren kann. Eine „zwingende These“, dass es kein Exil gab, weil es keine Vertreibung gab, ergibt sich daraus nicht. Es ergibt sich daraus auch nicht Sands Behauptung, dem israelischen Nationalmythos zufolge sei Israel das Land der Juden, nicht aber das Land aller seiner Bewohner.
    Die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, die Heinrich zu Recht als den Ausdruck des israelischen Nationalmythos bezeichnet, enthält ausdrücklich die Zusicherung, dass Israel der Staat aller seiner Einwohner sei. Das ist, was die Gesetze des Staates betrifft, in Israel auch so umgesetzt, wenn auch in der Praxis noch lange nicht voll verwirklicht. Ganz anders ist natürlich die Lage in den besetzten Gebieten.

  30. Ui, jetzt fangen Sie tatsächlich an, schick zu polemisieren. Warum soll denn Historiker, der Spezialist für moderne Geschichte ist, nicht auch zu älterer Geschichte was sagen dürfen? Vorausgesetzt, er arbeitet sich da ordentlich ein – und da habe ich angesichts der Textzeugnisse, die er bringt, kaum Bedenken. Außerdem: Das wissenschaftliche Rüstzeug ist ja wohl dasselbe. Quellenstudium!

    1. Die Konversion beschränkt sich nicht auf Palästina. Das habe ich nicht behauptet, und Sand auch nicht. Sie könnte aber erklären, warum die jüdische Bevölkerung Palästinas mit der Zeit zahlenmäßig so gering erscheint, dass sich der Vertreibungsgedanke aufdrängt – auch wenn es dafür keine Belege gibt.

    2. Die hohe Zahl der christlichen Teilnehmer am Konzil von Nicäa deutet auf ein reges christlich-religiöses Leben in Judäa hin. Ein paar Händler, die sich da angesiedelt haben, würden diese Zahl nicht rechtfertigen.

    3. Jetzt sind Sie dran. Belegen Sie mal die Vertreibungstheorie. Und erklären Sie mir auch mal, warum diese Theorie in der „staatlichen“ Geschichtsforschung Israels über das Judentum stets unterstellt, aber nicht belegt wird.

  31. Liebe Monika,

    gerne komme ich, sofern es meine beschränkten Möglichkeiten erlauben, Ihrem Wunsch nach und habe dazu nachgelesen in „Geschichte des jüdischen Volks“, herausgegeben von H.H.B en-Sason, Verlag C.H. Beck, München, 1978 (Original Tel Aviv, 1969). Zum der wirtschaftlichen Zerstörungen nach dem ersten jüdischen Krieg wird auf Berichte von Flavius Josephus und Plinius (die beide an dem Krieg teilgenommen haben) verwiesen. Festgestellt wird, dass „die jüdischen Bewohner des Landes Israel blieben von der totalen Vernichtung verschont“.
    Die Folgen des Bar-Kochba-Aufstandes werden unter Berufung auf römische Quellen und tannaitisches Schriftum beschrieben: „Die Zahl der Toten war gewaltig, noch größer die der Kriegsgefangenen, die jetzt die Sklavenmärkte in Israel und anderswo fühlten… Das zentrale Bergland von Judäa hattte seine jüdische Bevölkerung weitgehend eingebüßt.“ Dubnow zitiert den „christlichen Apologeten“ Justin den Märtyrer, der um die Hälfte des II. Jahrhunderts un Bezug auf Judea schrieb: „Die es wollen, können auch heute noch das gänzlich verheerte, mit Schutt bedeckte und brachliegende Land in Augenschein nehmen.“ Graetz verweist auf Berichte des „gut unterrichteten griechischen Geschichtsschreibers“ Dio Cassius.

    Ich bin sicher, dass es in der israelischen Geschichtsforschung, die im intensiven Austausch mit den Fachkolegen im Ausland steht und keiner „staatlichen“ Lenkung unterliegt, ausführliche Studien zu dem Thema gibt.

    Nochmals: Dass in Judäa die jüdische Bevölkerung dezimiert wird und dass sich das jüdische Leben in die Diaspora-Gemeinden (die auch laut Ben-Sasson schon in der Zeit des 2. Tempels entstanden sind) verlagert, bestreitet auch Sand nicht.

  32. @ Abraham

    Der Zelotenaufstand, der im jahr 70 n.C. zur Zerstörung des zweiten Tempels führte, war sicher eine einschneidende Erfahrung für die Bevölkerung, und Flavius Josephus ist unzweifelhaft ein Historiker von Rang. Seine Zahlen werden in Zweifel gezogen. Er schreibt u.a., dass Jerusalem zu jener Zeit 1,1 Mio. Einwohner gehabt habe. Eine für ihn typische Übertreibung, die er mit Cassius Dio teilt. „Nach realistischen Schätzungen“, schreibt Shlomo Sand, „hatte Jerusalem zu jener Zeit etwa 60000 bis 70000 Einwohner. Selbst wenn wir die Schätzung von 90000 Kriegsgefangenen, die natürlich ebenfalls nicht realistisch ist, akzeptieren, so hat der ‚Frevler‘ Titus, der Zerstörer des Tempels, damit immer noch nicht das ‚jüdische Volk‘ ins Exil getrieben.“

    Die Zahl der Einwohner Judäas zu jener Zeit sei schwer zu bestimmen. Sand gibt sie mit zwischen einer halben und einer Million Menschen an, basierend auf archäologischen Funden und vor allem Untersuchungen des Archäologen Magen Broshi. Diese archäologischen Funde zeigen, dass viele Städte „schon zum Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung wieder in voller Blüte“ stünden. Sand bezieht sich dabei auf einen Aufsatz von Shmuel Safrai aus einem Sammelband „Die Bevölkerung des Landes Israel in der römisch-byzantinischen Zeit“, Herausgeber Zwi Baras, Jerusalem 1982. Ich kann das nicht überprüfen, da ich kein Hebräisch kann. Fest steht, dass im Bericht des Josephus über den Aufstand des Jahres 70 das Wort Vertreibung nicht vorkommt. Eine Überhöhung der Opferzahlen ist in antiken Berichten üblich, um den Sieger ruhmreich dastehen zu lassen. Diese Tendenz findet sich von den alten Ägyptern bis zu … nun, eigentlich bis in unsere Zeit.

    Die Rekonstruktion des Bar Kochba-Aufstandes müsse fragmentarisch bleiben, schreibt Sand, weil der Aufstand nur kurze Erwähnung beim römischen Historiker Cassius Dio sowie bei Eusebius, einem Bischof, findet. Beide lebten nach dem Aufstand, Dio von 165-229 n.C., während der Aufstand selbst von 132-135 n.C. währte. Vielleicht hatte er eigene Quellen, über die er aber keine Auskunft gibt. Ansonsten kannte er die Geschichte nur vom Hörensagen. Er schreibt, zitiert nach Sand:

    „Nur ganz wenige jedenfalls kamen von ihnen [den Aufständischen] mit dem Leben davon. Fünfzig ihrer wichtigsten Festungen und 985 der bedeutendsten Ansiedlungen wurden dem Erdboden gleichgemacht, ferner fanden 580000 Mann bei den einzelnen Angriffen und Schlachten den Tod; die Zahl der durch Hunger, Krankheit und Feuer zugrunde Gegangenen war nicht festzustellen.“

    In Sands Augen ist auch hier die typische antike Übertreibung deutlich zu erkennen. 580000 Tote plus Folgeopfer – selbst wenn man von der optimistischsten Schätzung der Einwohnerzahl jener Zeit, also von einer Million Menschen, ausgeht, würde das keine Vertreibung bedeuten, sondern die Vernichtung.

    Vor allem: „Auch in diesem brutal sachlichen Bericht wird keine Vertreibung erwähnt“, schreibt Sand. Auch bei Eusebius übrigens nicht. Auch das Wort „Verbannung“ taucht nicht auf.

    Spätestens zwei Generationen nach dem Aufstand hatte sich die Bevölkerung wieder erholt und die landwirtschaftliche Produktion hatte sich nach archäologischen Erkenntnissen stabilisiert. Kurz daran schließt sich die Fertigstellung der Mischna durch Rabbi Jehuda Ha-Nasi und damit eine kulturelle Blüte.

    Sand schlägt vor, gestützt auf Chaim Milikowsky (in: „Exile – Old Testament, Jewish and Christian Conceptions, Leiden 1997), den Begriff „Galut“ statt mit „Exil“ besser mit „Unterdrückung“ zu übersetzen. In vielen rabbinischen Texten komme jedenfalls nur ein Exil vor, und zwar das babylonische, das, so Sand, „nach Meinung einer Reihe von Experten noch immer nicht als beendet galt und demzufolge auch über die Zerstörung des zweiten Tempels hinaus andauerte“. Exil also eine Art religiöser Topos – siehe mein Kommentar 22.

    PS: Ich hätte nicht gedacht, dass ich meinen Urlaub zum Teil damit verbringen würde, mich hier mit Ihnen in Quellendiskussion zu ergehen, aber es macht dennoch Spaß. Gute Nacht.

  33. @ # 34 Monika

    Liebe Monika,

    vielen Dank für Ihre Mühe, Ihre Zitate machen Sands Argumentation klarer.

    Meine Einwände sind aber damit nicht ganz entkräftet. Die kritische Bewertung der Berichte von Josephus Flavius ist nicht neu; die Zahl der in Gefangenschaft verschleppten ist fraglich, die Tatsache selber nicht. Der Fortbestand der jüdischen Bevölkerung in Judäa nach 70 stellt niemand (auch Graetz oder Dubnow nicht) in Frage.

    Was die Folgen des Bar-Kochba-Aufstandes betrifft, scheint Sand keine anderen Quellen zu haben, als sie schon im 19. Jahrhundet herangezogen wurden. Zu diesen gehören aber auch die Berichte darüber, dass nach dem Aufstand die Sklavenmärkte rund um das Mittelmeer überfüllt waren, so dass die Preise gesunken sind – ein Hinweis auf nicht unerhebliche Verschleppung. Hinzu kommt das nachweisbare Wachstum der jüdischen Gemeinden in der Diaspora und der Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Judäea, die Sand – verkürzt – in der Diaspora durch steigende Zahl der Konversionen zu Judentum und in Judäa durch Konversionen der Juden zum Christentum erklärt.

    Der Fortbestand der jüdischen Ansiedlung in der nunmehrigen Provinz Syria Palaestina mit einen Zentrum in Galiläa ist widerum unumstritten. Die „kulturelle Blüte“, für die die Redaktion der Mischna steht, besagt nichts über die Größe der verbliebenen jüdischen Bevölkerung. Schon bei der Entstehung des Talmuds in den folgenden Jahrhunderten ist die Diaspora (Babylon) wichtiger als „Israel“. Die ungebrochene jüdische Besiedlung des Landes ist im übrigen ein nicht minder wichtiges ideologisches Argument der Zionisten, mit dem der jüdische Anspruch auf das Land Israel begründet wird.

    Die grundsätzliche Fragwürdigkeit „schrifstellerischer“ Quellen (zu denen die „zeitgenössische“ Historiographie a la Josephus oder Cassius zählen) ist ein Grundproblem der Geschichtsforschung, zumal dann, wenn nicht genügend Primärurkunden (Geburtsregister, Handelsverträge, Heiratsurkunden u.ä,) zur Verfügung stehen. Auch die „Zuverlässigkeit“ archeologischer Funde ist problematisch, weil auch sie breiten Interprätationsspielraum eröffnen, wie die unterschiedliche Bewertung der Funde zeigt. Was noch in den 1970er Jahren als Beweis für die Aussagen der Bibel galt, wurde in den 1990er zunehmend kritisch hinterfragt, während nun wieder das Pendel eher in die Richtung „die Bibel hat (zumindest teilweise) recht“ ausschlägt.

    Es stehen sich hier also keine historischen „Beweise“ gegenüber, sondern unterschiedliche Bewertungen, die von der politischen Intention der Interpräten nicht unbeeinflusst sind. Genau das macht die „historische Erzählung“ aus, ob sie zionistisch oder wie bei Sand post-zionistisch ist.

    Vielleich können wir uns darauf einigen, dass die antike Geschichte allein den „Anspruch“ des „jüdischen Volkes“ auf das „Land Israel“ nicht begründet. Meiner Meinung nach liefert die Geschichte und ihre Überlieferung – trotz Sands Einsprüche – aber durchaus Anknüpfungspunkte für die im rabbinischen Judentum über Jahrhunderten erhaltene geistige Orientierung auf das Land, zu der die keineswegs diesseitig orientierte messianische Hoffnung auf eine Rückkehr ins gelobte Land gehört.

    Auf dieser Basis würde ich mich gerne in den nächsten Tagen (sofern mir der Kirchentag dazu die Zeit lässt) dem 19. Jahrhnundert zuwenden und mich auch der von Heinrich zu Recht angemahnten Diskussion der Begriffe „Volk“ und „Nation“ stellen.

  34. Lieber Abraham,

    ich glaube, wir sind uns vor allem erstmal in einem einig: darüber, dass wir uns beide auf unklarem historischen Terrain bewegen. Die Quellenlage ist so dürftig, dass viel Raum für Spekulation bleibt. Meines Erachtens ist aber allein dies schon bemerkenswert. Hätte es eine regelrechte Vertreibung gegeben, dann wäre das doch wohl irgendwo vermerkt worden, oder? Es gibt aber nichts konkretes dazu. Keine einzige glaubhafte Quelle, auch jüdischerseits nicht.

    Über Justin den Märtyrer weiß ich nichts als das, was in Wikipedia dazu steht, auch nicht den Zusammenhang, aus dem heraus Dubnov ihn zitiert. Das Zitat für sich scheint Verheerungen zu belegen, aber es nennt keinen Ort, nur „das Land“. Das ist mir zu unspezifisch, das könnte auch einfach die Umgebung von Betar, der letzten Festung des Bar Kochba. Kritisches Hinterfragen wäre hier angebracht.

    Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir geht es nicht darum, Shlomo Sands These um jeden Preis zu verteidigen. Aber ich möchte gern verstehen, was damals wirklich vorgefallen sein könnte, und die Thesen Dubnovs und seiner Nachfolger bis hin zu den Professoren der jüdischen Geschichte in Jerusalem überzeugen mich nicht mehr, nachdem ich Sands Buch gelesen habe. Es war in gewisser Weise ein Augenöffner: Mir wurde erst während der Lektüre klar, was ich vorher alles unhinterfragt für wahr genommen hatte, obwohl es historisch nicht zu belegen ist. Das gilt, wie wir jetzt gesehen haben, auch für die Vertreibung, die zum zentralen Mythos des jüdischen „Volkes“ maßgeblich dazugehört.

    Dass die Sklavenpreise infolge eines Überangebots stark fielen, bestreitet auch Sand nicht. In diesem Punkt unterlässt er sogar die Bemerkung, die man sonst öfters bei ihm liest: dass man antiken Quellen nicht immer einfach glauben kann, da sie oft danach trachten, den Ruhm des Siegers zu preisen. Ich denke nur, dass die Sklavenhändler flugs zugesehen haben werden, dass sie nicht selbst den Ast sitzen, auf dem sie sitzen. Dumpingpreise für Sklaven dürften das Geschäft verdorben haben, auch mittelfristig. War der Sklavenmarkt dermaßen gesättigt, dass Hintz und Kunz sich für einen Appel und ein Ei einen Sklaven leisten konnten, dann hätten die Händler über Jahre hinaus keine Sklaven mehr absetzen können. Ich ziehe derartige Angaben daher in Zweifel, einfach wegen des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage, das wir ja alle gut kennen.

    Ich bestreite ferner nicht, dass das Judentum einen ideellen und religiösen Anspruch darauf geltend machen kann, aus Israel zu stammen. Ich bestreite aber mit Sand, dass es einen alleinherrschaftlichen Anspruch über das Land Israel geltend machen kann. Und um das gleich hinzuzufügen: Ich bestreite nicht, ebensowenig wie Sand, das Existenzrecht des Staates Israel, der Realität ist. Ich bestreite aber das Existenzrecht Israels als Staat der Juden. Mit Sand denke ich, dass Israel ein Staat für alle seine Bewohner sein sollte, und zwar ohne Diskriminierungen, in voller Gleichberechtigung der verschiedenen Ethnien und Völker.

    „Die ungebrochene jüdische Besiedlung des Landes ist im übrigen ein nicht minder wichtiges ideologisches Argument der Zionisten, mit dem der jüdische Anspruch auf das Land Israel begründet wird.“

    Sie haben Recht, es handelt sich um ein ideologisches Argument, das in der Zeit des erwachenden Zionismus zusammen mit anderen Argumenten ausgeformt wurde, als die jüdische Nation erwachte bzw. ins Leben gerufen wurde. Sand schreibt dazu allerlei Haarsträubendes. Darüber reden wir dann noch, nicht wahr?

    Gute Nacht.

  35. Verzeihung, ich schrieb oben:

    „dass sie nicht selbst den Ast sitzen, auf dem sie sitzen“

    Es muss natürlich heißen:

    dass sie nicht selbst den Ast absägen, auf dem sie sitzen.

    Peinlich!

  36. @Monika
    Das braucht Ihnen nicht peinlich sein, solche Fehler sind Blogalltag und werden schon beim Lesen durch den „Corpus blogosum“,(ein beim Bloggen aktiviertes Hirnareal) korrigiert.
    🙂

  37. Hallo zusammen – und danke für diese Diskussion!

    Ich habe das Buch soeben zuende gelesen und gehe nicht so weit wie Monika, die in vielem doch sehr auf der Seite von Shlomo Sand zu stehen scheint. Allerdings begründen Sie, Monika, Ihre Skepsis der zionistischen Geschichtsschreibung gegenüber für mich sehr nachvollziehbar. Auch ich konnte mich dem Sog des Buches nicht völlig entziehen. Und wenn es noch einer Rechtfertigung dafür bedarf, dass es sich um ein gutes und wichtiges Buch handelt, dann findet es diese in den hitzigen Diskussionen, die es entfacht hat, auch in Israel, und die leider von sehr viel weniger Kenntnis und gesunder Skepsis geprägt sind als diese Diskussion hier im FR-Blog. In meinen Augen ist diese Diskussion eine Sternstunde des FR-Blogs, in der sich zeigt, was die vielgeschmähten Blogs tatsächlich können. Ich würde zu gern Auszüge aus dieser Diskussion im Print veröffentlichen. Leider ist die ganze Sache so komplex …

    Ich bin jetzt mal böse. Vielleicht gebe ich der weiteren Diskussion damit ja einen wichtigen Impuls. Beim Lesen des Buches hat sich nämlich für mich eine Lieblingspassage herauskristallisiert, die ich hier wörtlich wiedergeben möchte. Sie ist beziehungsreich und in einer Weise zuspitzend, die tatsächlich bösartig genannt werden könnte. Mir stockte der Atem, als ich das las, und dann musste ich sehr lachen. Vermutlich weil ich Kabarett liebe. Daher will ich vorher sagen, dass ich mich Monikas Statement über die Berechtigung des Staates Israel anschließe.

    Der genannte Herr Salaman ist der Arzt und Biologe Redcliffe Nathan Salaman (1874-1955), der sich für genetische Aspekte interessierte und darauf beharrte, so Sand, „dass die Juden, wenn sie auch keine reine Rasse waren, so doch eine klar definierte biologische Einheit darstellten.“

    Weiter schreibt Sand auf Seite 391 seines Buches:

    „Mehr als der Genetik galt Salamans Interesse der Eugenik. Für ihn war der Zionismus ein eugenisches Unternehmen, dass die jüdische Rasse aufwerten sollte. Die jungen Leute in Palästina schienen ihm schon gesünder und größer zu sein: ‚Igendeine Kraft wirkte dort auf sie und ließ den Typ des Philisters in dessen Land von Neuem hervortreten.‘ Diese mystische Kraft sei die natürliche Auslese, die die Philistergene im jüdischen Genpool ständig stärkte. Auch in England spiele sich ein ähnlicher Effekt ab, und die Gesichter der dortigen Juden – besonders jene, die den Zionismus mit Spenden unterstützten – bekämen einen eindeutig hethitischen Ausdruck.“

    Sand-Zitat Ende. Sands Quelle: Raphael Falk, „Der Zionismus und die Biologie der Juden“, Seite 141, Tel Aviv 2006

  38. Aus meiner genialen Kategorisierung des Volksbegriffs, der, wie allem Genialischen :-), eine niederschmetternde Missachtung zuteil wird, ergeben sich diese Folgerungen von selbst.

    In einer Zeit, da Existenzrechte einzelner Menschen nur über die Zugehörigkeit zu einer „beweisbaren“ Gruppierung hergeleitet werden, entstehen notwendig Hypothesen, welche solche Gruppierungen aufwerten und als „historische Tatsachen“ postulieren müssen.

    Leider gehen dabei die essentiellen Postulate „en passant“ verloren, nämlich die, dass jeder Mensch ein Existenzrecht und ein Recht auf eine ihn stützende und annehmende Gruppe hat, wo immer er sich aufhält!

    Ich bitte, diesen Aspekt zu bedenken:
    Aus welchem Grund ergibt sich eine Notwendigkeit, die „Diaspora“ als Mangel zu empfinden und warum muss eine Zugehörigkeit mit Mühe bewiesen werden?

    Abraham erwähnte die Aufgabe des jüdischen Volkes, als „Licht der Völker“ zu bestehen.

    Man könnte diese Aufgabe auch als Negation des Völkischen verstehen.

  39. @ # 39 Bronski

    Lieber Bronski,

    danke für das Kompliment. Wenn Sie aber an der Fortsetzung einer vernünftigen Diskussion interessiert sind, dann verschönen Sie uns doch bitte von Zitaten irgendeines Spinners, den womöglich schon zu seinen Zeiten niemand ernst genommen hat und heute keiner kennt. Außer des Belegs, dass es auch unter Juden Rassisten gibt (was für eine Entdeckung!), bringt das unsere Debatte über die Entstehung des Zionismus und seine Folgen nicht weiter.

  40. @ # 36 Monika

    Liebe Monika,

    langsam habe ich den Eindruck, dass wir uns in Bezug auf die ungesicherte Quellenlage annähern. Dass es Flucht und Vertreibung während und nach den (drei) jüdischen Kriegen gab, ist nach der Quellenlage (wozu auch das belegte Wachstum der Diaspora-Gemeinden zählt) wahrscheinlich, wie umfassend diese war und wie sie zu dem (ebenfalls durch Quellen und Funde) belegte Umwälzung in Judea/Palästina beigetragen hat, wissen wir nicht.
    Es stimmt, dass sich die jüdische Historiographie mit dieser Flucht und Vertreibung nur en passant beschäftigt. Ben -Sasson widmet dem Bar-Kochba-Aufstand in seinem dreibändigen Werk gerade drei Seiten, wobei allein die im Talmud berichtete religiöse Verfolgung der Juden durch die Römer nach dem Aufstand (die Geschichte der zehn Märtyrer) eine ganze Seite eine Seite einnimmt. Er überschreibt auch den nächsten Abschnitt, in dem es um den Aufbau des neuen (geistigen) Zentrums des (palästinensischen) Judentums in Galiläa geht, mit „Die Normalisierung“. Ähnlich marginal ist die Behandlung dieser Phase bei Graetz und Dubnow (die Übersetzer von Sand haben offensichtlich nicht einmal nachgeschaut, wie sich dieser in Riga 1944 (?) umgebrachte russische Historiker, der lange Jahre in Berlin wirkte, auf Deutsch schrieb). Ich empfehle Ihnen, eines dieser Werke anzuschauen, die weit differenzierter sind, als sie Sand darstellt.

    Ich denke, dass wir uns auch darin einig sind, welchen Einschnitt die Zerstörung des 2. Tempels und der damit verbundene Untergang des Tempelkultes sowie der Reste der staatlichen Strukturen für die jüdische Geschichte bedeutet. In nur zwei, drei Generationen konstituiert sich ein rabbinisches Judentum, das (obwohl sich dieses immer wieder auf die Offenbarung vom Sinai beruft), einen radikalen Bruch mit dem Tempeljudentum bedeutet.

    Es ist daher verständlich, das der auf dem Titusbogen dargestellte Triumpfzug, in dem jüdische Sklaven die aus dem Tempel geraubten (und seitdem verschwundenen) Kultgegenstände samt der heiligen Lade tragen, zum Symbol des Niedrgang des „jüdischen Staates“ wird, nach dem die jüdische Geschichte die der Diaspora wird. In diesem sinne kann man, meine ich, auch die Unabhängigkeitserklärung Israels lesen.

    Einig sind wir uns auch, „dass das Judentum einen ideellen und religiösen Anspruch darauf geltend machen kann, aus Israel zu stammen“. Wenn Sie mit Sand bestreiten, „aber mit Sand, dass es einen alleinherrschaftlichen Anspruch über das Land Israel geltend machen kann“ und daraus folgern, „dass Israel ein Staat für alle seine Bewohner sein sollte, und zwar ohne Diskriminierungen, in voller Gleichberechtigung der verschiedenen Ethnien und Völker“, dann rennen Sie offene Türen ein. In der Unabhängigkeitserklärung (http://www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm) heißt es ausdrücklich:
    „Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestutzt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“

    Das ist in meinen Augen die klare Definition, was unter dem Begriff „jüdischer Staat“ gemeint ist. Meine Tochter, die ein Jahr lang in Israel studiert hat, beschrieb es für sie so: In Israel hat sie erstes mal erlebt, dass jüdische Feiertage nicht nur Inseln im „bürgerlichen“ Kalender sind, sonder der Jahresrythmus vom jüdischen Kalender bestimmt wird. Dort ist auch das Jüdischsein etwas ganz normales, selbstverständliches, während es in der Diaspora etwas Besonderes ist, das ständig begründet und errungen werden muss.

    Widersprechen möchte ich auch Bronskis Einleitung. Es ist keineswegs eine Grundthese des Zionismus, aus der Geschichte den „Anspruch auf Jerusalem – und zwar des ungeteilten – als israelischer Hauptstadt“ abzuleiten. 1948 hat die zionistische Bewegung den UN-Teilungsplan angenommen, der Jerusalem einen internationalen Status garantieren sollte. Diesen haben die (von britischen Offizieren geführten) jordanischen Truppen mit der Besetzung der Altstadt (samt der Vertreibung der Juden aus ihrem Viertel, das dann einschließlich der uralten Synagogen zerstört wurde) zunichte gemacht. Bis 1967 wurde Juden der Zugang zu ihren „heiligen Stätten“ verwährt.

    Die Frage einer Friedenslösung für Jerusalem ist eine politische, nicht die einer „zionistischen Ideologie“. Es gibt durchaus politische Gruppen, die sich als zionistisch verstehen und für Jerusalem als eine gemeinsame Hauptstadt Israeles und eines palästinensischen Staates eintreten.

  41. Heinrich schrieb (# 10): „Was ‚Volk‘ bedeutet und was ein Volk ist, ist viel weniger selbstverständlich, als es sich unsere Schulweisheit träumen lässt. Hier leitet Sand nach meinem Urteil Hervorragendes, wenn auch Diskutables.“ Und Bronski zitiet in seiner Einleitung Micha Brumlik: “Den Begriff des Volkes betrachtet Sand differenziert: Indem er zwischen ‘Ethnos’ als Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft und ‘Demos’ als freiwilligem Zusammenschluss von Bürgern zur Gründung eines freien politischen Gemeinwesens unterscheidet, tritt er für ein Israel als Staat aller seiner Bürger und nicht als zionistischer Staat ein.”
    Ich bin sicher, dass Heinrich mit seiner profunden Kenntnis der Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zur Klärung der Begriffe mehr als ich beitragen kann. So weit ich es verstehe, sind „Ethnos“ wie „Demos“ Ergebnisse historischer Prozesse. Ich will versuchen, es an einem „neutralen“, mir aber ausreichend bekannten Beispiel darzulegen, dem der „tschechischen Nation“. Sie ist das „Produkt“ einer von einigen Intelektuellen (von denen manche nur auf Deutsch publiziert haben, weil Tschechisch nur noch als Volksprache der „Dienstboten“ die Germanisierungswellen der vergangenen Jahrhunderte überlebt hat) im 19. Jahrhundert eingeleiteten „nationalen Widergeburt“. Sind sie ein „Ethnos“? Dazu waren die „Abstammungsverhältnisse“ schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu unübersichtlich: Bei der 2. Prager Defenestration am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges hießen die Habsburger Stadthalter, die zu ihrem Glück auf einem Misthaufen gelandet sind, Slavata und Martinec (typisch slawische Namen), wähernd die Vertreter unter den Vertretern der Tschechischen Stände Schwarzenberg und Rosenberg gab. In den folgenden Jahrzehnten werden in Böhmen zahlreiche italienische Adelsgeschlechter ansässig. Und wenn ein Ethnos, welcher dann? Ein tschechischer oder ein slawischer (entsprechende Auseinandersetzungen hat es zwischen Panslavisten und den tschechischen Parteien gegeben)? Definierten sie sich durch Sprache, obwohl das Tschechisch als Bildungssprache gänzlich verschwunden war und „rekonstruiert“ werden musste? Waren die Tschechen des 19. Jahrhunderts ein „Demos“? War das Böhmische Königreich (dessen Herrscher zu den Kurfisten des Deutschen Reiches gehörte), das praktisch mit den Habsburgern untergegangen ist, überhaupt ein tschechisches politisches Gemeinwesen gewesen? Frankfurter Nationalversammlung betrachtete jedenfalls die Tschechen als Teil Deutschlands und lud sie in die Paulskirche ein. Über die Annahme der Einladung gab es durchaus Debatten, auch wenn sie letztlich ausgeschlagen wurde.
    Die nationale Unübersichtlichkeit ist auch durch die Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 nicht beseitigt worden. Wie waren nun die Deutschen zu behandeln, die einen Anschluss an Deutschösterreich begehrten? Auch sie wurden zu tschechoslowakischen Staatsbürgern, allerdings mit Nation Deutsch, was ihnen gewisse nationale Rechte garantierte. Im Übrigen gab es bis 1938 in der CSR auch die jüdische Nationalität (ohne dass damit irgendwelche Minderheitenrechte verbunden wären). Die Dualität von Staatsangehörigkeit und Nationalität (die zum Beispiel in den Schulzeugnissen verzeichnet war), blieb auch in der Nachkriegsrepublik erhalten.
    Ich fürchte, dass uns auch das Völkerecht nicht zu Klarheit verhilft. Es schützt zwar „ethnische“, sprachliche und religiöse Minderheiten, regelt aber nicht, wann sich aus ihrem Recht auf Selbstbestimmung auch ein Recht auf Eigenstaatlichkeit ergibt, siehe der Zerfall von Jugoslawien oder das Baskenproblem.
    In diesem Balagan (= Durcheinander) müssen sich Juden am Ende des 18. Jahrhunderts orientieren, wozu ich noch später kommen möchte.

  42. Betr. #39, comment-26271, Bronski am 12.05.2010 23:45
    [„Hallo zusammen – und danke für diese Diskussion!“]
    Hallo Blogmaster! Ist das eine Halbzeit im Thread? Irgendwo hinter den Kulissen scheint, auch etwas gelaufen zu sein, als hätte jemand die Bremse gezogen… Abraham (#41, comment-26275, 13.05.2010 11:13) sagt: [„Wenn Sie aber an der Fortsetzung einer vernünftigen Diskussion interessiert sind“]

    Bei einem Maskenball guckt man sich auch an, was & wie man tanzt, ob die Kapelle gut ist usw. In einem Blog posten Leute auch anonym, nichts dagegen einzuwenden; nur der Blogmaster weiß, wer sich hinter einem (oder mehreren) Pseudonym versteckt. Wenn jedoch der Blogmaster einen Thread aufmacht und anonyme Blogger dazu einlädt, dann würden manche Mitblogger weitere Hinweise erwarten. [„Sternstunde des FR-Blogs“] — soll doch nicht alles in den Sternen stehen!? 😉

    [„was die vielgeschmähten Blogs tatsächlich können“] Manches Blog wird wirklich zu gutem Recht geschmäht, aber das FR-Blog ist eine blühende Welt in der Blogosphäre. (Vielleicht wollten Sie das doch anders sagen?)

    [„Ich bin jetzt mal böse.“] Au, au! 😉 Abraham auch (#41), [„dann verschönen Sie uns doch bitte von Zitaten irgendeines Spinners“]…

  43. Halbzeit? Mal schauen. Möglicherweise ist das Thema auch bald durch, oder?

    Ich werde keine Identitäten von Blog-Usern preisgeben. Das müssen die schon selbst machen.

    Und was die „blühende Welt“ angeht: Herzlichen Dank!

  44. @ Bronski

    Wieso reagierst du auf das Kauderwelsch eines mit sich selbst identischen Paul Ney?

    „Halbzeit? Mal schauen. Möglicherweise ist das Thema auch bald durch, oder?“

    – Wieso nimmst du das vorweg? Soll der Thread geschlossen werden?

    Ich bin von dir zur Diskussion eingeladen worden und komme aus Zeitgründen in dieser Woche jedenfalls nicht dazu. Konnte die bisherige Diskussion nicht einmal kursorisch verfolgen, geschweige denn, die offenbar zentrale Frage der Vertreibung über die vorgebrachten Argumente und angeführten Quellen hinaus beurteilen oder gar entscheiden. Das muss einer fundierteren wissenschaftlichen Erörterung durch die Experten vorbehalten bleiben. Was ich jedoch in aller Vorläufigkeit jetzt schon anmerken möchte: Solche Diskussionen werden in aller Regel erst wirklich erkenntnisträchtig, indem man sie gegen den Strich bürstet.

    Das hieße: die Legitimität des jüdischen Staates Israel mit dem Argument in Frage zu stellen, es habe die in der Unabhängigkeitserklärung benannte und hier mehrfach zitierte Vertreibung nicht stattgefunden, ist als bloße Negation eine völlig unzureichendes Argumentation. Die müsste tatsächlich unter politischem, wie Abraham betont, und in diesem Zusammenhang unter völkerrechtlichem Aspekt geführt werden, will sagen: Sowenig, wie der Mythos der Vertreibung eine Legitimation für die Staatsgründung Israels über die sich darauf berufenden zionistischen Ideologen und ihre Anhänger hinaus darstellt, sowenig ist der Nachweis der Nicht-Vertreibung geeignet, die Legitimität Israels irgend infrage zu stellen. Die Rede von der „Berechtigung des Staates Israel“ erhält insofern für mich auf dieser Argumentationsbasis von vornherein einen falschen, ideologischen Zungenschlag. Dazu gedenke ich, losgelöst eben von der im übrigen für mich äußerst interessanten historischen Debatte, noch zu argumentieren.

    Ebenfalls losgelöst davon will ich Sands Bestimmung des „Volks“-Begriffs und Abrahams bisher leider nur überflogenem Beitrag dazu ggf. noch etwas hinzufügen.

    Das wäre das Mindeste, und ich sehe der zweiten Halbzeit insofern mit Interesse entgegen.

    @ Abraham

    Deine unwillige Antwort auf Bronski finde ich zu barsch und ungerecht. Das Vorhaben hier war, über das Buch zu diskutieren, und Zitate aus dem Buch sind insofern legitim, auch und gerade dann, wenn du sie im Hinblick auf die Problematik abwegig findest. Argumentiere doch dagegen oder begründe, inwiefern du sie abwegig findest, da sie für Sand offenbar eine Aussagekraft haben.

    Grüße
    Heinrich

  45. @ Heinrich

    Stichwort Halbzeit: Natürlich wird dieser Thread auch wieder geschlossen werden. Du kennst das Verfahren doch, es gab auch früher schon Beschwerden von dir deswegen. Ja, die Hälfte der Laufzeit dieses Threads ist erreicht.

    Aber keine Sorge, wenn der Wunsch besteht, mach ich einen neuen Thread auf.

  46. @ # 46 Heinrich

    Ich denke, Bronski wird meine Reaktion auf die unter # 39 veröffentlichten Zitate aus Sands Buch verkraften. Also nochmals etwas weniger barsch und ungerecht: Die Frage nach genetischen Beweisen der Abstammung der Juden der Diaspora von den jüdischen Bevohnern Judäas (die Max Wedell auch schon gestellt und unter # 12 beantwortet hat) ist legitim. Ich kann dazu wenig beitragen, da ich mich mit Genetik nicht auskenne. Erinnern kann ich mich an eine Pressemeldung, wonach DNA-Untersuchungen einen gemeinsamen Ursprung der Gruppe der Kohens nachgewiesen hätten. Der Kohen-Status (der mit bestimmten liturgischen und „kultischen“ Aufgaben verbunden ist, wird über die Vaterlinie „vererbt“ und soll auf die Prister des Tempels, die Cohanim, zurückgehen. Da den Cohanim (und in ihrer Nachfolge der „Kaste“ der Kohens) die Ehen mit Konvertitinen und geschiedenen Frauen untersagt sind, läßt sich die „biologische Absonderung“ nachvollziehen. Für Levi (die Nachfahren der Tempel-Leviten) waren die Ergebnisse, so weit ich mich erinnern kann, weniger aussagekräftig. Für die übrigen Juden gab es keinen Beweis eines gemeinsamen Ursprungs. Auch mein früherer Verweis auf typische Erbkrankheiten sehe ich nicht als „Beweis“, da unklar bleiben muss, ob erst die Isolation in der Diaspora die Ursache ist.
    Weder das „Am Jisrael“ des rabbinischen Judentums, noch das „jüdische Volk“ in zionistischem Verständnis ist biologisch definiert worden, höchstens von wenigen Außenseitern. Wenn sich Sand auch mit diesen beschäftigt, so kann ich die Relevanz nicht ganz nachvollziehen. Und ich bleibe dabei, dass Eugenik Spinnerei ist, wenn auch – wie die Geschichte zeigt – eine gefährliche. Ihr Einfluss auf den Zionismus oder Israels Gesellschaft ist aber weniger als marginal, oder ist Sand anderer Meinung?

    Ansonsten hast Du, lieber Heinrich, treffend zusammengefasst, was ich bei meinem Disput mit Monika (den wir hoffentlich fortführen können), auch auszudrücken versucht habe: „Sowenig, wie der Mythos der Vertreibung eine Legitimation für die Staatsgründung Israels über die sich darauf berufenden zionistischen Ideologen und ihre Anhänger hinaus darstellt, sowenig ist der Nachweis der Nicht-Vertreibung geeignet, die Legitimität Israels irgend infrage zu stellen.“

    Zum Zionismus und der Legitimation der Staatsgründung Israels werde ich hoffentlich noch etwas schreiben können.

  47. (i) Betr. #45, comment-26287, Bronski am 13.05.2010 18:48
    [„Thema auch bald durch, oder?“] oder eher der Thread?! 😉

    Gefährdet wird der Thread (Dt. Diskussionsfaden) auch durch die zwei Protagonisten — der eine (Abraham, #41) betreibt Totenschmähung ([„Spinner“] zu [„Redcliffe Nathan Salaman (1874-1955)“], vgl. #39), der andere (Heinrich, #46) pöbelt seine Mitblogger [„Kauderwelsch“] an…

    (ii) Betr. #46, comment-26292, Heinrich am 14.05.2010 00:16
    Haudujudu Heinrich?! [„Soll der Thread geschlossen werden?“] Tja, ddu bist [„zur Diskussion eingeladen worden und“] kommst [„aus Zeitgründen in dieser Woche jedenfalls nicht dazu.“] ddu hast die Einladung angenommen — wie stellst ddu dir denn den Verlauf des Threads vor?! ddu sprichst auch von [„einer fundierteren wissenschaftlichen Erörterung durch die Experten „] — könntest ddu das mal hier im Blog [„gegen den Strich bürste“]n?!

    ddu siehst der [„der zweiten Halbzeit insofern mit Interesse entgegen.“] Tja, geruhst ddu denn [„selbst identisch“] mitzumahen oder…?

    (iii) Betr. #48, comment-26296, Abraham am 14.05.2010 11:18
    Haudujudu Abraham?! [„Bronski wird meine Reaktion auf die unter # 39 veröffentlichten Zitate aus Sands Buch verkraften.“] denkste? Und das sagst ddu Heinrich @#46?! Immerhin, ddu machst ddir Gedanken, ob manche Sprüche von anderen verkraftet werden…

    [„Ansonsten hast Du, lieber Heinrich, treffend zusammengefasst“] — er schreibt ja doch (#46) [„Konnte die bisherige Diskussion nicht einmal kursorisch verfolgen“]…

  48. @ Paul

    Das reicht aber bitte an Provokation, ja? Diesen Teil des Gesprächsstranges wollen wir nicht weiter verfolgen.

  49. @ Bronski

    # 47: Sorry, war längere Zeit woanders, wo es kein Zeitlimit gab.

    # 50: „Teil des Gesprächsstrangs“ heißt sowas jetzt hier, wo ich von einem Troll als Mitblogger beschimpft werde? Welch ein Verfall der Sitten!

  50. Da ich ja auch zur Gruppe derer gehöre, die Sand nicht gelesen hat, kann ich nichts über den Zweck sagen, mit dem Sand den Kokolores von Salaman gebracht hat. In einer Aufzählung geschichtlicher Vorkommnisse, Irrungen und Wirrungen inklusive, hat Salaman natürlich seine Daseinsberechtigung, nur die Erkenntnisse und Aussagen moderner Genetikwissenschaften durch Salaman in Frage zu stellen, oder gar in ein zweifelhaftes Licht zu rücken, das sollte man nicht tun.

  51. @ Max Wedell # 52

    Falls Sie meinen letzten Beitrag meinen: Ich stelle Erkenntnisse moderner Genetikwissenschaft nicht in Frage, ich kenne mich nur nicht damit aus.

  52. @ Abraham

    „Weder das “Am Jisrael” des rabbinischen Judentums, noch das “jüdische Volk” in zionistischem Verständnis ist biologisch definiert worden, höchstens von wenigen Außenseitern.“

    Immerhin spricht Moses Hess, einer der geistigen Gründerväter des Zionismus, von der „jüdischen Rasse“ und meint das Wort nicht in dem ursprünglich neutralen Verständnis des französisch geschreibenen „Race“, das unspezifisch soviel bedeutete wie „Art“, „Sorte“, sondern in dem Sinne, wie es die Rassentheoretiker seiner Zeit gebrauchten, als unveränderliche und erbliche Eigenschaft der zum Judentum gehörenden Individuen. Bis heute gibt es die Versuche auch von Juden – ich habe den Namen der Schweizerin vergessen, die das vertritt -, das jüdische „Volk“ rassisch-genetisch zu bestimmen. Ob die so mariginal sind oder von Sand so gesehen werden, weiß ich nicht, aber im Kontext der von Max Wedell eingebrachten genetischen Befunde, wenn sie denn so stimmen – ich bin des Englischen genauso rudimentär mächtig, wie ich die Trollbeiträge hier nur kursorisch verfolge -, verdient der Aspekt vielleicht doch mehr Aufmerksamkeit in der Diskussion als sie als Spinnerei abzutun. Denn „Eugenik“ ist m.E. auch mehr als eine – wenn auch gefährliche – Spinnerei, sie ist eine konsequente praktische Umsetzung des sozialdarwinistischen Rassenwahns.

  53. @ Abraham

    „Zum Zionismus und der Legitimation der Staatsgründung Israels werde ich hoffentlich noch etwas schreiben können“.

    Das hoffe auch ich! Bis dahin folgende kursorischen Gedanken von mir:

    Erstens wäre begrifflich zu unterscheiden zwischen „Legitimation“ und „Legitimität“ der Staatsgründung einerseits und der Existenz Israels andererseits. Die „Legitimation“, das sind die positiven Begründungen der zionistischen Exponenten der Staatsgründung. Was für sich nantürlich noch nicht bedeutet, dass die Staatsgründung in der erfolgten Form der kritischen Prüfung völkerrechtlicher Legitimität standhielte. Da gibt es viele strittige Aspekte, begonnen von der Stützung der zionistischen Staatsgründer auf angeblich völkerrechtliche Absicherungen, z.B. die Balfour-Deklaration, bis hin zu dem strittigen Verfahren des UN-Teilungsplans und der einseitigen Unabhängigkeitserklärung.

    Das ist jedoch die eine Seite, die unter historisch-politischem und völkerrechtlichem Aspekt diskutiert werden könnte. Ob wir hier so weit gehen sollten, da bin ich mir unsicher, wegen der Gefahr, dass die evtl. fragwürdige Legitimität der Staatsgründung mit der Frage des „Existenzrechts“ verwoben werden könnte. Beides ist jedoch m.E. völlig unabhängig voneinander zu betrachten.

    Das Völkerrecht geht von bestehenden Staaten als souveränen Völkerrechtssubjekten aus, ganz unabhängig von den Bedingungen ihrer Entstehung. Sonst käme man auch leicht in vielfältige Erklärungsnöte, denn die bestehenden Staaten sind in erheblichem Maße nicht aufgrund von friedlichen Verträgen und Übereinkünften entstanden, sondern durch kriegerische Eroberungen oder Arrangements von Weltmächten.

    Dies zugrunde gelegt, vernebeln die Rede vom Existenzrecht und die Forderung nach dessen Anerkenntnis mehr, als sie erhellen. Allgemein philosophisch gesehen behauptet, was existiert, auch sein Recht zu existieren. Das gilt auch für Staaten. Was im gegebenen Fall geboten wäre, wäre nicht die Anerkennung des „Existenzrechts“ Israels, sondern seine diplomatische Anerkennung. Was de facto durch die PLO längst geschehen ist, dagegen wäre eine Anerkennung des „Existenzrechts“ eine palästinensischen Staates durch Israel fällig, als erster Schritt, da ein solcher Staat noch nicht besteht.

    So oder so und kurz zusammengefasst: Israel als Staat bedarf heutzutage keinerlei Legitimation. Zwei komplizierte Fragen sind in diesem Zusammenhang jedoch zu erörtern: Erstens: Was sind die Grenzen des völkerrechtlich legitimierten Staates Israel, und das sind wohl erst einmal die von 1948, ggf. und nach Verhandlungen und völkerrechtlich gültig abgeschlossenen Friedensverträgen mit allen betroffenen Staaten würden wohl die Grenzen von 1967 manifestiert werden, mit dem äußerst schwierig zu vereinbarenden Jerusalem-Status.

    Zweitens träte hier, wie bei Sand wohl zentral, das Konstrukt des „jüdischen Staates“ (oder korrekter: des „Staates der Juden“?) ins Blickfeld. Da dürfte der Aspekt, wie wohl und vertraut-beheimatet sich Juden in Israel fühlen, wie du. Abraham, es nachfühlbar anhand deiner Tochter ins Feld führst, kaum völkerrechtliche Relevanz haben. Was schwerer wiegt, ist m.E. dies: Selbst schärfste Kritiker und Gegner des jüdischen Nationalismus, wie Isaak Deutscher, mussten nach der Shoah eingestehen, dass sie über kein dem nationalstaatlichen alternatives Konzept verfügten. Ob das Konzept eines binationalen Staates, wie es Hannah Arendt u.a. vertreten hat, sich „postzionistisch“ verwirklichen ließe, ist eine offene Frage. Es wird wohl von einigen Intellektuellen wieder ins Spiel gebracht, dürfte aber kaum eine breitere Öffentlichkeitswirkung erreichen, oder?

    Die große politische und gesellschaftliche Sünde des 19. und 20. Jh., welche die „Emanzipation“ der Juden in ihren jeweiligen Nationalstaaten verhindert bzw. ad absurdum geführt hat, ist der Antisemitismus. Verschwände der Antisemitismus aus der Welt, wofür ich derzeit keine Anzeichen sehe, verschwände auch der jüdische Staat, auf jeden Fall aber seine Legitimationsgrundlage.

  54. @Abraham,

    nein, Sie habe ich nicht gemeint. Das Dumme ist nur, ich weiß nicht, ob ich Sand gemeint habe, denn ich weiß nicht, aus welchen Gründen der Salaman erwähnte.

    @Heinrich,

    Ich habe die Studien selber natürlich auch nicht gelesen, verlasse mich aber in der gebrachten Quelle auf eine im wesentlich korrekte Zusammenfassung sowie auf die Tatsache, daß man in „Nature“ wohl kaum Humbug unterbringen kann, der politischen Zwecken dienen soll.

    Was ich ja besonders bemerkenswert finde, ist eben die Übereinstimmung zwischen Überlieferung und Genetik. Wenn also, wie schon von Abraham angesprochen, über die Welt verteilte aaronitsche Priester genetisch bestimmte Merkmale aufweisen (die nicht beliebige andere Juden auch haben), die auf einen allen gemeinsamen Vater vor 3400 Jahren hinweisen (wie man auf die 3400 Jahre kommt, kann ich jetzt allerdings auch nicht sagen), und laut Überlieferung dies in die Zeit des Tabernakels (Mishkan) fällt, in der der Urahn der aaronitischen Priesterkaste (Kohanim) lebte, Aaron, der erste Hohepriester, so finde ich das schon ziemlich bemerkenswert.

  55. @ Heinrich

    Lieber Heinrich,

    allmählich bin ich mir nicht sicher, ob es zu schaffen ist, in einem Blog die komplexe Problematik der Legitimation des Zionismus und der Legitimität der Staatsgründung Israels darzustellen. Es ist mir auch nicht ganz klar, welche Positionen Sand dazu vertritt, weil dies in den zahlreichen Rezensionen und seinen Interviews nicht deutlich wird. Insofern hat Monika recht, ich müsste Sands Buch lesen.

    Der Zionismus ist eine von mehreren Reaktionen des (westeuropäischen) Judentums auf die Emanzipation, mit denen ein Ausgleich für den Wegfall der bisherigen klaren Abgrenzung der Juden von der Mehrheitsgesellschaft gesucht wurde. Die Antworten – Assimilation, religiöse Neudefinition des liberalen oder modern-orthodoxen Judentums, die Konzeption des Judentums als Nation (was sich nicht nur auf den Zionismus bezieht, sondern in Osteuropa auch eine „linke“ Alternative im sozialdemokratischen Bund hat) sowie die Hoffnung auf die durch kommunistische Revolution durchgesetzte Gleichheit aller Menschen – sind alle legitim und haben ihre Legitimation. Wie die Geschichte „entschieden“ hat, wissen wir. Wie die künftige Geschichte verlaufen wird, wissen wir hingegen nicht. Ich sehe durchaus auch Chancen für eine positve Neudefinition des Judentums der Diaspora, die sich nicht nur aus der Bedrohung des Antisemitismus und der Erfahrung der Shoa speist.

    Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir die Debatte über die Legalität der Gründung des Staates Israel widerholen können. Auch da hat die Geschichte „entschieden“. Es ist unbestreitbar, dass die Staatsgründung mit Unrecht verbunden ist, das den Palästinensern geschehen ist. Es bringt auch nicht viel, darüber zu streiten, welchen Anteil daran die Politik der zionistischen Bewegung, die Führung der arabischen Staaten und die Kolonialpolitik Britanniens hatte.

    (später mehr)

  56. Was das „Existenzrecht“ bzw. „diplomatische“ Anerkennung Israels betrifft: Noch fehlt die diplomatische Anerkennung vieler arabischer Staaten. Noch schwerwiegender ist die Haltung der Hamas, deren Programm nicht nur das Ziel der „Befreiung“ ganz Palästinas deklariert, sondern – nebst anderer antisemitischer Töne – auch die Tötung von Juden als religiöse Pflicht propagiert. Und auch Irans Führung führt nicht nur ein Propagandakrieg gegen Israel, sondern rüstet Hisbolah und Hamas aus.

    Auf der Seite Israel hat sich selbst die jetzige Rechtsregierung zu einer Zwei-Staaten-Lösung bekann. Das „kulturzionistische“ Konzepte eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern hat sich meiner Meinung nachpolitisch erledigt. Genauso ist aber auch das ideologische Konzept Israels in „bibischen“ Grenzen praktisch von der politischen Bühne abgetreten, auch wenn der Rückzug aus den besetzten Gebieten (verbunden mit einem Gebietstausch für die großen Siedlungsblöcke) wohl von der jetzigen Regierung nicht zu ewarten ist.

    Nun meine Rückfrage, lieber Heinrich: Was ist für dich an einem „jüdischen Staat“ problematisch, wenn dieser die sozialen, nationalen, religiösen und kulturellen Rechte allers seiner Bürger respektieren und verwirklichen würde? Und warum sollte seine Berechtigung vom Antisemitismus abhängig sein?

  57. @ Abraham

    Zu deiner Rückfrage würde ich selber eine Gegenfrage stellen wollen: Welchen Sinn sollte ein jüdischer, ein christlicher, ein muslimischer, ein buddhistischer, ein hinduistischer Staat haben, in dem jeweils „die sozialen, nationalen, religiösen und kulturellen Rechte aller seiner Bürger GLEICHBERECHTIGT respektiert und verwirklicht würden? Die europäischen Staaten, in denen die Christen die jeweilige religiöse Mehrheit darstellen, sind per definitionem keine christlichen, sondern säkulare Staaten, und wo die staatliche Gesetzgebung und das öffentliche Leben allzu sehr von den Vorstellungen der christlichen Kirchen, zumal der katholischen, geprägt ist, wie zeitweilig in Portugal, Irland oder Polen, tut das jeweils dem säkularen Charakter der Gesellschaft Abbruch, siehe z.B. Ehe- und Scheidungsrecht, Abtreibungsrecht usw..

    Du hast mir an anderer Stelle durch Gewähr deiner Tochter versichert, dass die israelische Gesetzgebung keine direkte rechtliche Benachteiligung von nichtjüdischen Staatsbürgern kennt. Sand schreibt jedoch auf S.13 f in seinem Vorwort zur deutschen Auflage: „die Gesetzgebung Israels bestimmt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass der Staat für die Juden und nicht für die Israelis da sein soll. (…) Wer … keine Jüdin zur Mutter hat und in Jaffa oder Nazareth lebt, den lässt man spüren, dass der Staat, in dem er geboren wurde, nicht der seine ist.“

    Das ist zugegeben sehr vage formuliert, aber wenn es dafür manifeste Anhaltspunkte gibt, dann ist dies ein ernsthaftes Argument gegen einen „jüdischen Staat.

    Es gibt klassischerweise zwei Varianten von europäischem Staatsbürgerschaftsrecht: das Jus sanguinis und und das Jus Soli. Dieses, in den westlichen Nationalstaaten England und Frankreich traditionell etablierte, bestimmt diejenigen zu Staatsbürgern des entsprechenden Nationalstaates, die auf dessen Territorium geboren wurden, weshalb im vorigen Jahrhundert hochschwangere Frauen aus Asien und Afrika gerne auf ein englisches Schiff gingen, das unter britischer Flagge fuhr und deshalb britisches Hohheitsgebiet war. Das in Deutschland geltende Jus sanguinis (Blutsrecht) ist erst in den 90er Jahren modifiziert worden, bis dahin war nur Deutscher, wer von einem deutschen Vater abstammte oder musste sich, wie der in Deutschland geborene Schreiber dieser Zeilen, einem aufwendigen und tendenziell diskriminierenden Einbürgerungsverfahren unterwerfen, das pikanterweise „Naturalisierung“ genannt wurde. Ich wurde insofern sozusagen von einem unnatürlichen deutschen Einwohner zu einem natürlichen Deutschen umgewandelt.

    Im oben beschriebenen Sinne ist nach meiner Kenntnis schon das Ehe- und Scheidungsrecht in Israel nicht nur ein Anachronismus – seit 1806 wird in Preußen und später in Deutschland die rechtsgültige Ehe vor einem staatlichen Beamten, und nicht von einem Religionsvertreter geschlossen -, sondern, wenn nicht jedermann und jeder Frau gleichermaßen die Möglichkeit gegeben ist, jedermann und jede Frau zu heiraten oder sich von ihm oder ihr scheiden zu lassen, ein Exempel von Rechtsungleichheit und insofern von staatlicher Diskriminierung. Auch wenn die entsprechenden Einrichtungen und Bestimmungen noch aus der Zeit des osmanischen Sultanats über die britische Mandatsregierung tradiert sind: ein säkular orientierter Staat hätte diese in fünfzig Jahren entsprechend modernisieren und säkularisieren können.

    Das beschriebene Jus sanguinis beruht natürlich auf der völkisch-ethnischen Fundierung der Nation, auf dem Mythos einer völkisch-rassischen Blutsverwandtschaft der Staatsbürger. Auch hier ist es allerdings merkwürdig, dass soviel Buhai gemacht wird um Israel als Staat der Juden, denn das besondere ist allenfalls die mutterrechtliche Orientierung, ansonsten war Deutschland traditionell natürlich entsprechend der Staat der (Volks-)Deutschen, auch wenn ihre Vorfahren seit Jahrhunderten in Rumänien oder Russland lebten. Aber es ist eben nicht zu übersehen, dass hier wie dort eine Rechtsungleichheit zwischen verschiedenartigen Einwohnern und Einwanderern des jeweiligen Staates herrscht.

    Von hier aus wird jedenfalls verständlich, dass die „Rekonstruktion“ des „jüdischen Volkes“ als Mythos „ins Herz der Gesellschaft“ trifft.
    Und ebenfalls sollte von hier aus verständlich werden, warum die Rechtfertigung Israels als jüdischen Staates vom Antisemitismus abhängig ist: So wie 1945 die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Osteuropa einen selbstverständlichen Rechtsanspruch auf Aufnahme in den alliierten Besatzungszonen des Deutschen Reichs hatten, so kann man ein humanitäres Menschenrecht darin sehen, dass Juden aus aller Welt ein solches Recht in Israel zugestanden bekommen, solange ihnen potenziell Verfolgung und Diskriminierung droht. Und so, wie dieses Recht von „deutschstämmigen“ Einwanderern spätestens seit 1990 obsolet geworden ist, so würde es auch für Juden obsolet, die von Antisemitismus nicht mehr bedroht wären.
    So jedenfalls meine vorläufigen und selbstverständlich deiner und anderer Kritik offenen Gedanken dazu.

    Zu den anderen Aspekten ggf. später.

    Grüße
    Heinrich

  58. Lieber Heinrich,

    wenn von Israel als einem jüdischen Staat gesprochen wird, dann ist dies nicht im religiösen Sinne gemeint, sondern im national-kulturellem, und zwar ohne die Rechtsstellung der nichtjüdischer Bürger zu tangieren. Insofern ist die Frage, ob es ein „jüdisches Volk“ gibt, relevant. Die Idee eines „jüdischen Staats“ unterstützt auch die sekuläre Mehrheit unter den Juden.

    Ich kenne das Staatsangehörigkeitsrecht Israels nicht genau, aber selbstverständlich haben auch Nachkommen der ichtjüdischer Staatsbürger die Staatsangehörigkeit Israels. Eine „zionistische“ Besonderheit ist das „Rückkehrrecht“ der Personen, die jüdische Abstamung haben. Diesen steht die Einwanderung und der Erwerb der Staatsangehörigkeit offen. Die Einwanderung wird auch den nichtjüdischen Familienangehörigen ermöglicht, auch sie erhalten die Staatsangehörigkeit. Ob das Rückkehrrecht für Juden schon eine Diskriminierung der nichtjüdischen Bürger Israels bedeutet, zweifle ich an.

    Die Formulierung Sands in Bezug auf die Stellung nichtjüdischer Bürger Israels ist tatsächlich sehr wage. Wie ich geschrieben habe: Auch den arabischen Bürgern Israels stehen alle demokratischen Rechte zu (wahrscheinlich in einem weit umfassenderen Umfang als in jedem anderen arabischen Land). Von praktischer Gleichstellung aller ationaler und sozialer Gruppen ist Israel sicher noch weit entfernt, was sich z.B. bei der Zuweisung der staatlichen Mittel an Kommunen mit arabischer Mehrheit (aber auch an Kommunen der sozial schwachen jüdischen Bürger) zeigt.

    Die aus dem Osmanischen Reich übenommene eigenständige Rolle der Religionen ist sichelich ein Problem, weil dies mit den Grundsätzen eines demokratischen Staates kolidiert. Es betrift aber mehr nichtortodoxe jüdische Religionsrichtungen als die Christen oder Muslime. Die Rechtssprechung des Obersten Gerichts hat außerdem in vielen Bereichen für Ausgleich gesorgt. Die Rechtsstellung nichtehelicher Gemeinschaften (einschließlich gleichgeschlechtlicher) ist, was die Rechte und Pflichten betrifft, weit besser als z.B. in Deutschland. Außerdem werden im Ausland geschlossene Ehen uneingeschränkt anerkannt.

    Hast Du auch nach dieser Erörterung Probleme mit einem „jüdischen Staat“?

  59. Lieber Heinrich,

    möchte nochmals auf Deine zurückkommen, wonach mit dem Verschwinden des Antisemitismus die Legitimation Israels als „jüdischer Staat“ obsolet wäre.

    Das Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus gehört zu den jahrhunderte alten Erfahrungen des Judentums, die in Zeiten der Globalisierung nun auch andere erfahren. Gerade Menschen, die aus beruflichen oder privaten Gründen lange im Ausland leben, sind zwar oft dort gut integriert, wollen aber auch nicht gänzlich auf die Verbindung zu ihrer Ursprungsgruppe (ob kulturell oder anders definiert) verzichten. Ein gutes Beispiel dafür sind die USA, die eben kein „Schmelztiegel“ sind. Jedem Angehörigen der „american nation“ (des amerikanischen Volks) wird selbstverständlich auch eine partikulare Identität zugestanden. Deshalb waren auch die USA schon im 18. Jahrhundert zum Sehnsuchtsziel der jüdischen Auswanderung geworden. Zum Beispiel in New York kann man sich immer wieder neu als Jude auf unterschiedlichste Art „definieren“, aus eigener Entscheidung und nicht als Reaktion auf einen Antisemitismus, der so gut wie keine gesellschaftliche Wirkung hat.

    Ich denke, dass in unserer Zeit der individueller Entscheidungen, die u.U. auch nur für eine bestimmte Phase gelten, auch das „jüdische Volk“ zu einem freiwilligen Zusammenschluss wird – und dass eine solche Wahl legitim ist. Meine Kinder gehören einer Generation an, die wohl erstmals auch in Europa die Chance hat, auf die viele Juden des 18. und 19. Jahrhundert gehoft haben und die das 20. Jahrhundert zu nichte machte: Gleichberechtigter Bürger zu sein und Jude bleiben zu können. Mit dieser Hoffnung löst sich auch das europäische Judentum von der Negativdefinition durch die Shoa ab (was nicht bedeutet, die Geschichte zu vergessen).

    Aber auch das macht Israel als einen „jüdischen Staat“ nicht überflüssig. Einerseits ist es attraktiv, im Spannungsfeld mit anderen Kulturen zu leben (was im Augenblick immer mehr junge Israelis z.B. nach Berlin lockt). Anderseits ist es auch legitim, das Leben in einer Minderheitenposition (selbst einer akzeptierten Minderheit) hinter sich lassen und durch die Alia (Einwanderung nach Israel) zum Teil einer Mehrheitsgesellschaft werden zu wollen.

    Ein „jüdischer Staat“ definiert sich aber auch durch sein Verhältnis zu seinen nichtjüdischen Bürgern. „Bedenke, dass Du Fremdling warst im Lande Mizraim“, gehört für mich zu den Grundgeboten des Judentums. An dessen erfüllung muss sicher der reale Staat Israel noch arbeiten.

  60. Lieber Abraham,

    ich antworte dir in den nächsten Tagen noch, wenn ich etwas mehr Zeit habe. Schade aber, dass offenbar nur wir beide übrig geblieben sind. Bronski ist derzeit in substanzielleren Fragen von nationalem Selbstbewusstsein engagiert, aber vielleicht hilft ja z.B. die gute und informierte Monika noch, offene Fragen, zumal in Bezug auf die Position von Shlomo Sand, zu klären?

  61. Lieber Heinrich,

    ich warte auf Deine Antwort. Auch ich finde es schade, dass niemand mehr mitdiskutiert und würde mich ebenfalls besonders über Monikas weitere Beteiligung freuen.

    Erst wenn sich zeigt, dass noch ein Interesse an der Diskussion besteht, werde ich auch noch auf die Rezeption Sands in Deutschland zurückkommen.

  62. @ Abraham

    Lieber Abraham, es besteht durchaus Aufgeschlossenheit für das Thema. Ich lese interessiert mit, kann aber nichts dazu beitragen, weil mir die Sachkenntnis fehlt.

  63. An alle hier

    Ich hatte nicht vor, mich aus der Diskussion rauszuhalten, aber die äußeren Umstände haben mich dazu gezwungen. Am Wochenende will ich versuchen, hier wieder was zu schreiben.

  64. Liebe Monika, lieber Heinrich,

    aus der Fortsetzung unserer Diskussion wird wohl nichts, weil die Kommentarfunktion bald geschlossen wird. Schade um die Mühe, die ich mir mit meinen – unkommentiert gebliebenen – Beiträgen gemacht habe.

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