Angst um die zarten Kinderseelen

Es war wohl kaum damit zu rechnen, dass diese Reform ohne Widerstand über die Bühne gehen würde: Im Bundesland Hessen ist mit Beginn dieses Schuljahrs ein neuer Lehrplan in Sachen Sexualkunde in Kraft gesetzt worden. Er hat Ähnlichkeiten mit dem, der in der Vergangenheit in Baden-Württemberg diskutiert wurde, und verfolgt das Ziel, Akzeptanz für verschiedene sexuelle Identitäten zu wecken und zu fördern. Im Unterschied zu Baden-Württemberg gab es in Hessen vorab keine öffentliche Diskussion. Der neue Lehrplan wurde eingeführt, ohne mit großem Tamtam, etwa auf einer Pressekonferenz vorgestellt zu werden. Das hat die schwarz-grüne Landesregierung geschickt gemacht. Aber nun gibt es doch die eine oder andere Aufregung. Wen es interessiert: –> HIER ist der Lehrplan nachzulesen (pdf-Dokument).

Dem Landeselternbeirat geht die Sache mit der „Akzeptanz“ zu weit. Das Gremium lehnte den Plan mehrheitlich ab. „Toleranz“ wäre nach seiner Meinung ausreichend gewesen. In Frankfurt regt sich wiederum Widerstand gegen den Landeselternbeirat. Auch die katholische Kirche fand, dass die Haltung des nun abgelösten Lehrplans von 2007 ausgereicht hätte; darin war von „Respekt und Toleranz gegenüber unterschiedlichen sexuellen Lebensstilen“ die Rede. Doch offensichtlich hat das nicht gereicht: „Schwul“ ist auf den Schulhöfen noch immer ein Schimpfwort. (Andere Wortmeldungen etwa von Populisten lasse ich hier beiseite.)

Der Unterschied zwischen Akzeptanz und Toleranz liegt auf der Hand. Wer tolerant ist, lässt andere Positionen gelten, obwohl er sie nicht zwangsläufig gutheißt. Er respektiert damit das Recht der freien Entfaltung anderer Menschen. Akzeptanz hingegen ist die Bereitschaft, etwas oder jemanden nicht nur hinzunehmen, sondern auch anzuerkennen und sich damit einverstanden zu erklären. Ein Beispiel: Jemand, der Schwule lediglich toleriert, kann trotzdem aktiv die Ansicht vertreten, dass sie nicht gleichgestellt werden sollten, d.h. er kann sich trotzdem intolerant verhalten. Das wird jemand, der Schwule akzeptiert, nicht tun. Er hat begriffen, dass der Schwule, die Lesbe, die Transsexuelle eine andere sexuelle Identität hat als er selbst und dass dies nichts an seiner Menschenwürde ändert, die in jedem Fall zu achten ist.

Diese Haltung will der neue Lehrplan fördern und damit schon früh, schon bei den Zehn- bis Zwölfjährigen, etwas gegen Diskriminierung unternehmen. Das soll altersgerecht erfolgen. Damit wird nicht in das Recht der Eltern eingegriffen, die sexuelle Aufklärung lieber zu Hause vornehmen, denn es geht im Lehrplan um die Rolle von Sexualität in „biologischen, ethischen, religiösen, kulturellen, emotionalen und sozialen Bezügen“, wie es im Lehrplan heißt. Diese Aspekte werden in der heimischen Aufklärung in der Regel wohl kaum gestreift. Daher ist die Reform rundheraus zu begrüßen.

Leserbriefe

Brigitte Ernst aus Frankfurt meint:

„Dass das im Jahre 2016 im einst so fortschrittlichen Hessen möglich wäre, hätte ich nie vermutet. Die Mehrheit des hessischen Landeselternbeirats, Leute im Alter meiner Kinder, stellt sich gegen den Lehrplan, weil ihnen die „Akzeptanz“ von Schwulen und Lesben zu weit geht und sie Angst um die zarten Kinderseelen haben. Und selbst die Landesschülervertretung fordert für Eltern die Möglichkeit, „vorher mit ihren Kindern über die anstehenden Themen und in der Familie herrschenden Wertvorstellungen zu sprechen“. Auf der anderen Seite besitzen diese Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich längst ein Smartphone, mit dem sie Zugang haben zum gesamten Spektrum der Pornographie, das im Internet so geboten wird, ohne dass jemand mit ihnen darüber spricht.
Wie stellen sich die Schülervertreter diese vorbereitenden Familiengespräche vor? „Liebes Kind, es gibt da neben normalen Menschen noch Abartige, die man zwar tolerieren muss, weil sie auch Menschen sind, mit denen man sich aber keinesfalls gemein machen darf, denn das wäre Sünde (katholische Variante) bzw. gegen die Natur (politisch reaktionäre Variante).“
Wehe dem Kind oder Jugendlichen, das/der homosexuelle Neigungen an sich selbst feststellt! Mit Akzeptanz kann der ja wohl in seiner Familie nicht rechnen. Und damit werden die Ziele der neuen Lehrpläne konterkariert.
Was tun solche Eltern ihren Kindern an?“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg hingegen:

„Was Gegenstand des Unterrichts in Schulen sein sollte, wird immer umstritten bleiben. So wird heftig darüber gestritten, ob in weiterführenden Gymnasien Ökonomie und Finanzwissenschaft zu unterrichten sei. Mit der Sexualkunde ist es ähnlich. Viele Eltern wünschen überhaupt keinen Sexualkundeunterricht, andere nur einen abgemagerten, der lediglich die Funktionen der Geschlechtsorgane behandelt, aber auch nicht mehr.
Tatsache ist, dass das Sexualleben nach unserem Verfassungsverständnis eindeutig in die Privatsphäre fällt. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht die heterosexuelle Paarbeziehung als „normal“ an. Gleichgeschlechtlichkeit wird toleriert, aber auch nicht mehr. Sodomie mit Tieren ist nach wie vor verboten.
In Hinsicht auf den Gesetzgeber und die Unterrichtungspraxis in Schulen bedeutet dies: In der Sexualkunde sollte eigentlich nur das medizinisch unumgängliche Wissen vermittelt werden, nicht mehr.“

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2 Kommentare zu “Angst um die zarten Kinderseelen

  1. Leser Schmidt ist der Auffassung, im Sexualualkundeunterricht solle nur das „medizinisch Unumgängliche“ vermittelt werden. Was er damit meint, lässt er im Dunkeln, aber aus dem ersten Absatz seines Leserbriefs kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass er den Unterricht auf rein biologischen Tatsachen beschränket wissen will. Im Klartext bedeutet das, Herr Schmidt will den Sexualkundeunterricht abschaffen, denn das, was er für „unumgänglich“ hält, gehört der Sache nach in den Biologieunterricht. Viele Eltern wünschten sich das, behauptet er, und vermutlichhat er sogar Recht, aber was wünschen sich Eltern nicht alles?
    Man erlebt es ja auf jedem Elternabend: Weniger Hausaufgaben, einen leichteren Mathematikunterricht und dafür mehr Sport, nicht so viel Literatur, dafür aber etwas über Steuern und wie man ein Bankkonto einrichtet. Und alles selbstverständlich nur auf das „Unumgängliche“ beschränkt. Über Homo- oder Transsexualität, Verhütung und gefährliche Sexualitätspraktiken dagegen sollen Kinder in der Schule überhaupt nichts erfahren, denn „Aufklärung“ sei allein Sache der Eltern.
    Lieber Herr Schmidt, wo leben Sie eigentlich? Glauben Sie ernstlich, Kindern im Zeitalter des Internets solche Informationen vorenthalten zu können? Selbst wenn das eigene Kind weder PC noch Smartphone besitzt – seine Klassenkameraden/innen haben beides! Soll der Sexualunterricht in der Schule oder im Internet stattfinden? Weder noch, meint Leser Schmidt, sondern zu Hause. Das verwundert schon deshalb, weil doch bei Elternabenden regelmäßig das Lamento groß ist, dass die Schule den Eltern zu viele Leistungen wie z.B. die Kontrolle der Schulaufgaben aufbürdet. Jetzt reißt man sich um zusätzliche Aufgaben, mit der Begründung, dafür besser qualifiziert als die Schule zu sein! Dass die meisten Eltern heterosexuelle Paarbeziehung als „normal“ ansehen, über diese Binsenwahrheit hätten uns Leser Schmidt nicht aufklären müssen. Homosexualität aber will er nur „tolerieren“, woraus zu schließen ist, dass sie für ihn etwas Anormales und damit Ungesundes darstellt. So denken viele, die AFD und selbst „christliche“ Politiker, denn so steht es schon in der Bibel, und auch wenn man nicht zur Kirche geht, zählt man sich doch zum christlich-abendländischen Kulturkreis. Und damit alles so bleibt, wie es ist, darf Sexualerziehung nicht mehr in der Schule stattfinden. Vertrauensvoll blickt man zurück in die eigene Vergangenheit: Warum sollen die eigenen Kinder eine weniger verdruckste Sexualerziehung erfahren als man sie selber hatte?

  2. Zur Unterscheidung von „Akzeptanz“ und „Toleranz“ einige Hinweise dazu, was sich mit „Toleranz“ so alles machen lässt.
    Vor zwei Jahren schrieb Christian Hillgruber, Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn, einen Gastbeitrag für die FAZ („Wo bleibt die Freiheit der anderen?“ , FAZ, 20.02.2014). „Homosexualität“, meint er da, „gilt im Westen längst den meisten als ‚ganz normal‘. Nur noch eine kleine Minderheit sieht dies anders.“ Für diese „Minderheit“ aber schlägt er sich vehement in die Bresche. Ihr werde, so führt er aus „die Freiheit“ genommen, „die homosexuelle Praxis für unsittlich zu halten und dies auch auszusprechen“. Für unerträglich hält er, durch Erziehung tradierte Vorurteile zum Gegenstand der Besprechung in Schulen zu machen. Dies ist für ihn „Umerziehung mit staatlichem Befehl und Zwang“.
    Für diese Art von „Freiheit“ nimmt Prof. Hillgruber ausgerechnet das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg für sich in Anspruch: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ – Wie das funktioniert? – Er deutet das Gebot der „Toleranz“ einfach in Rechtfertigung für Intoleranz um, indem er die notwendige Ergänzung unterschlägt: „Die Freiheit des einen endet da, wo die Freiheit des andern beginnt.“
    Seine Interpretationskünste blieben nicht ohne Wirkung. Im FAZ-Forum stieß er auf Begeisterung. Höchste Zustimmung für die Äußerung: „Endlich sagt es einer: Meinungsdiktatur hat nichts mit Toleranz zu tun.“ Fast keine Zustimmung dagegen findet die Äußerung, Ablehnung von Homosexualität aus religiösen Gründen sei „homophob“. Anders freilich bauchgeleitete Intoleranz, der sich viele Leser anschließen: „Was kommt? Quote? Homosexualität als Religion? Und viele empfinden beim Gedanken an die Praktiken Ekel. Das kann man nicht steuern. Und die Mehrheit? MUSS Toleranz üben, sonst Strafrecht?“
    Das nun war vor 2 Jahren. Inzwischen hat sich einiges bewegt. In welche Richtung, ist bekannt. Die „Toleranz“ dieser „Minderheit“, wie Prof. Hillgruber sie versteht, hat – dank „Pegida“ – längst lautstark die Straßen erobert: Es geht eben nichts über die „Freiheit“, andere Menschen herabsetzen zu dürfen – und sich dabei so richtig „tolerant“ zu fühlen.

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