Ein Lesetipp, gegeben von Lutz Büge
Stell dir vor, Terroristen zünden eine Bombe. Oder zwei. Oder gleich ein gutes Dutzend, wie zu Beginn des Romans „Little Brother“ von Cory Doctorow, einem kanadischen Blogger, Journalisten und Science-Fiction-Autor, der laut Klappentext und Forbes Magazine zu den 25 einflussreichsten Personen im Web gehört. Und stell dir vor, du bist ganz in der Nähe der Explosion. Die Erde bebt, du gehst zu Boden und siehst dann riesige Rauchsäulen aufsteigen. Die Bay Bridge von San Francisco wurde gesprengt, so erfährst du später, und die Linie der U-Bahn, die unter der Bay verläuft, gleich mit. Mindestens viertausend Tote, doch genau wird man es nie wissen. Der schlimmste Terroranschlag, dem die USA je ausgesetzt waren. Stell dir weiter vor, plötzlich fahren Sicherheitskräfte vor und krallen sich alle, die um dich herum sind, auch dich selbst. Sack über dem Kopf, Hände auf dem Rücken zusammengebunden wirst du in einen Lieferwagen gestopft und an einen dir unbekannten Ort gebracht, wo man dich tagelang über deine Verbindungen zu den Terroristen verhört. Weil du gerade in der Nähe warst.
Marcus Yallow heißt der 17-jährige Schüler und Ich-Erzähler, dem das passiert. Er ist Gamer, also Computerspiel-Freak, und er ist in einer Weise internet-affin, die für mich viel mit böhmischen Dörfern zu tun hat. Aber Cory Doctorow, Jahrgang 1971, hält den Leser nicht übermäßig lange mit technischen Details auf. Ihm kommt es auf etwas anderes an. Auch die oben beschriebene Szene, in der Marcus Yallow „deportiert“ wird, ist für ihn nur der Aufhänger für eine Geschichte, die man aus anderer Perspektive längst kennt. In der TV-Serie „24“ wurde die Hatz auf Terroristen zum Selbstzweck; dazu gehört auch, schön spannungssteigernd, dass die Jäger zwischendurch zu Gejagten werden. Die CTU (Counter Terror Unit) aus „24“ ist übrigens nicht so ganz grün mit dem Department for Homeland Security (DHS), um das es in „Little Brother“ vor allem geht. Und damit geht es um die US-amerikanische Sicherheits-Paranoia. Die bekommt Marcus Yallow schon nach wenigen Seiten in empörender Weise zu spüren. Eigentlich wollte er ja nur ein Rätsel eines Online-Games lösen, das er mit drei Freunden, seinem Team, gegen andere Teams in der Welt spielt. Darum ist er „vor Ort“, als die Brücke gesprengt wird, denn das Rätsel wurde in der physischen Realität verankert. So verschränkt sich manches Virtuelle mit handfest Physischem in Doctorows Roman, und das hat erstmal nichts mit Paranoia zu tun, sondern einfach mit der Lust aufs Spiel. Doch als Marcus aus dem Geheimgefängnis, in das er verbracht wurde, freigelassen wird, und als er beschließt, Rache zu nehmen, wird aus der spielerischen Leichtigkeit, mit der er das anfängt, wiederum schnell Ernst. Rache übrigens auch dafür, dass sein Schulfreund Darryl, der mit ihm festgenommen wurde, verschwunden bleibt. Wie sich herausstellt, wurde er einfach in „Guantánamo-in-the-bay“ festgehalten, dem Geheimgefängnis in der Bucht von San Francisco, in dem auch Marcus anfangs verhört wird. Doch diese Klarheit über Darryls Schicksal kristallisiert sich erst spät in „Little Brother“ heraus. Lange geht der Leser davon aus, dass Darryl einfach verschwunden ist. Ein schwebendes Schicksal, das sich zu der Annahme verdichtet, er sei tot. Am Schluss ist es viel schlimmer.
„Little Brother“ erzählt die Geschichte des jungen Marcus, der es schafft, das DHS zu narren und ihm die Maske herunterzureißen – denn das DHS versucht, Sicherheit zu erlangen, indem es Kontrolle erlangt, Kontrolle über so gut wie alles im Alltagsleben der Amerikaner. Es gelingt der Behörde nicht, die Terroristen zu fassen, aber sie verfolgt die Untergrundbewegung, die Marcus gegen die DHS-Paranoia gründet, mit immensem Aufwand und stellt die Opfer, die sie eigentlich schützen sollte, als Täter hin. Diese Untergrundbewegung sind die Xnetter, die User eines Webs innerhalb des Webs, das hohe Anonymität ermöglicht und so weitgehend vor dem DHS-Zugriff schützt. Marcus ist als M1k3y der Kopf von Xnet, der, nachdem er die ganze DHS-Ordnung gehörig durcheinandergewirbelt hat, auch schon mal eine Pressekonferenz in einer virtuellen Piratenstadt gibt. Es ist ein Cyber-Krieg, den der Junge da anzettelt und in dem er anfangs schnell überraschende Erfolge erzielt. Wie das technisch funktioniert, ist atemberaubend genug, um sowohl für möglich wie auch für Fiction gehalten werden zu können. Aber Doctorow ist Fachmann, man ist geneigt, ihm zu glauben. Die Paranoia, um die es in „Little Brother“ geht, zeitigt erschreckende Blüten, und man ahnt, wie weit die USA gekommen sind, wenn Marcus sich in einer Diskussion mit seinem Vater auf die berühmte Passage der Bill of Rights bezieht, die es den Bürgern erlaubt, sich ihrer Regierung zu entledigen, wenn diese sie nicht mehr vertritt, und wenn der Vater antwortet: „Es ist nicht die Zeit, sich als Anwalt der Bill of Rights aufzuspielen. Es ist Zeit, ein paar Opfer zu bringen, um die Sicherheit unserer Stadt zu gewährleisten.“
Solcher Diskussionen gibt es weitere in Doctorows Roman. Es gibt auch eine Liebesgeschichte, natürlich, die wunderbar unkonstruiert eingebettet ist in eine Erzählung, die Marcus‘ Entwicklung vom spielbegeisterten Spätpubertierenden hin zum verantwortlich handelnden jungen Mann zeigt, der einem älteren Obdachlosen, welcher sich nicht mehr aufzulehnen wagt, Sätze um die Ohren hauen kann wie diesen: „Freiheit ist etwas, das du dir nehmen musst.“ Es gibt aber auch ein Finale, das klar nach Blockbuster-Regeln gedacht ist, denn es steht schließlich Spitz auf Knopf, und man sieht das Ganze bereits verfilmt, inclusive der dramatischen Zuspitzung: Folter! Man fragt sich: Greifen die Heimat-Verteidiger wirklich so schnell zu äußersten Methoden wie Waterboarding?
Die Coolness, mit der Marcus Yallow sich seine Freiheiten nimmt, hat anfangs einige jugendliche Unbekümmertheit. Später, wenn der Jäger zum Gejagten wird, hat sie etwas Getriebenes. Es ist die DHS, die ihn treibt, und oft kann Marcus gar nicht anders, als sich diese Freiheiten zu nehmen. Es handelt sich nicht um freie Entscheidungen, und dementsprechend kommt der Bursche zwischen Heroentum und Panikattacken kräftig ins Schlingern. Doch man kann darauf vertrauen, dass der Autor etwas mit ihm vorhat und dass er ihn nicht ohne weiteres gegen die mächtige Behörde und damit gegen die US-Regierung scheitern lassen wird. In den Momenten, in denen Doctorow seine Erzählebene verlässt, um uns schlecht informierten Lesern etwas über Online-Technologien zu erzählen (immer so, dass man meint, wenigstens das Resultat zu verstehen, wenn auch nicht den Weg dahin), offenbart er, dass er selbst Marcus Yallow ist. In anderen Momenten sind diese Eingriffe bedauerlich. An mehreren Stellen der erzählten Handlung schimmert deutlich der reifere Erzähler hervor, der seinem Protagonisten Dinge in die Feder legt, die man einem so jungen Mann dann doch nicht so ohne weiteres abnehmen will.
Aber das ist eigentlich Nebensache. „Little Brother“ löst Beklemmungen aus, nicht weniger als das Werk, auf das es sich klar erkennbar bezieht. George Orwells Klassiker prägte Generationen. Wer „Little Brother“ liest, spürt deutlich, dass wir längst über „1984“ hinaus sind. Nicht nur in dem, was technisch möglich ist, sondern auch in dem, was technisch längst gemacht wird. Und dass wir dem gegenüber machtlos sind, wenn wir nicht aufstehen wie der junge Marcus Yallow, der gern Kerouac liest, und uns die Freiheit nehmen. Darüber hinaus ist „Little Brother“ – und das ist viel heutzutage – ein Buch, das ohne Sperenzchen auskommt. Es gibt keine Cliffhanger, die nur der Dramaturgie dienen, es gibt keine hölzernen Dialoge, es gibt kein ungebrochenes Heroentum. Dieses Buch ist manchmal krawallig, manchmal kleinlaut, insofern pubertierend; es ist manchmal naseweis, manchmal drastisch, aber immer intelligent. Vor allem ist es geradlinig und enorm beängstigend. Es ist Paranoia pur.
Cory Doctorow: Little Brother. rororo (Rowohlt) März 2010. Deutsche Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn. Preis: 14,95 Euro
[security fiction] Interessante und spannende (sicherlich fiktive) Geschichte, da wird man neugierig aufs Buch. Andere Länder, andere Sitten — in dem fernen Land, wo die Geschichte spielt, schreibt man solche Bücher und man dreht auch solche Filme. Da ist so etwas üblich, gehört zur Landeskultur und stellt grundsätzlich kein Problem dar. In Deutschland darf man so eine Geschichte lesen — dürfte man sie auch übertragen (AKA Standort-Anpassung)?!
Anmerkung anstandshalber: Ich habe das Buch nicht gelesen und bin nicht sicher, daß ich das in der nahen Zukunft tun würde.
Ein neues FR-Literatur-Blog, anzuführen unter „Weitere FR-Blogs“, könnte gleich mit dieser Rezension starten und so manche Leser/innen anziehen…
Das Buch wurde übrigens unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht. Die englische Originalversion gibt’s unter http://craphound.com/littlebrother/download/ und eine deutsche Übersetzung von Christian Wöhrl unter http://cwoehrl.de/?q=node/425.