Eine Angelegenheit, die dringend Ernsthaftigkeit fordert

Die katholische Kirche ist beileibe nicht die einzige Organisation, die unter Modernisierungsdruck ächzt, aber da sie in besonderem Maße das geprägt hat, was Konservative gern als „Leitkultur“ bezeichnen, guckt man gern ein bisschen genauer hin, wenn es darum geht, wie die katholische Kirche Problemen unserer Zeit begegnet.

Einer vergewaltigten jungen Frau war in zwei Kölner Krankenhäuser, die sich in katholischer Trägerschaft befinden, Hilfe verweigert worden. Genauer: Man hat ihr die „Pille danach“ vorenthalten, wohl aus Angst, Mithilfe zu einer Abtreibung zu leisten. Abtreibung wäre in diesem Fall nicht zu verstehen als Entfernen einer befruchteten und eingenisteten Eizelle, sondern als Verhinderung der Einnistung der befruchteten Eizelle. Menschliches Leben beginnt nach katholischer Lehre in dem Moment, in dem eine menschliche Eizelle befruchtet wird.

Ein Sturm der Entrüstung, neudeutsch: Shitstorm, fegte über die Kirche hinweg: Wie haltet ihr es mit Barmherzigkeit? Krankenhäuser stellen Dogmen über Gesetze? Wie ist das eigentlich, wenn solche Krankenhäuser doch ohnehin vor allem durch die öffentliche Hand finanziert werden – darf trotzdem die Morallehre des Trägers den Ausschlag geben?

Und dann geschah etwas, womit wohl nur wenige gerechnet hatte: Und sie bewegte sich doch! Der starre Koloss Amtskirche ließ via Kardinal Meisner erkennen, dass die „Pille danach“ nicht zwangsläufig ein No Go gewesen wäre, denn es gibt ein Medikament, das schon die Befruchtung der Eizelle verhindern kann. In diesem Fall läge keine Abtreibung vor, das Medikament wäre erlaubt. Dabei ist allerdings offensichtlich, dass der Zeitkorridor, in dem dieses Medikament eingesetzt werden kann, extrem kurz ist – natürlich immer vorausgesetzt, dass ein Eisprung stattgefunden hat und dass damit die Möglichkeit einer Befruchtung gegeben ist. Ein anderes Präparat verhindert die Einnistung der befruchteten Eizelle und verursacht deren Abort – und das ist Abtreibung. Die befruchtete Eizelle war ja schon ein Mensch. Diese Haltung bekräftigten die Bischöfe auch noch auf ihrer jüngst beendeten Deutschen Bischofskonferenz.

Das ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie weit die Amtskirche sich von den Menschen entfernt hat. Aus ihrer eigenen Dynamik – was für ein Wort im Zusammenhang mit jahrhundertalter, starrer Theologie! – lässt sich vielleicht nachvollziehen, warum die Amtskirche spitzfindig argumentieren muss. An den Bedürfnissen der Menschen argumentiert sie damit vorbei. Es war offensichtlich, dass eine junge Frau Hilfe brauchte, und diese Hilfe wurde ihr nicht gewährt. Das deutsche Gesetz versetzt die Frau nach der Vergewaltigung ohne weiteres in das Recht, den Embryo abtreiben zu lassen, und setzt lediglich eine Frist von 12 Wochen. Die beiden Krankenhäuser – und demnach auch alle anderen Krankenhäuser in katholischer Trägerschaft – müssten ihr jedoch die Pille danach verweigern, wenn die Eizelle sich schon eingenistet hat – gegen das deutsche Recht, weil die katholische Doktrin es so will. Das, meine ich, ist nicht hinnehmbar. Die Kirche steht nicht jenseits von weltlichem Recht.

Da möchte man Bascha Mika doch gern uneingeschränkt zustimmen, die in ihrer FR-Kolumne „Gute Pille, böse Pille“ geschrieben hat: „Da mag man ja mit katholischer Wortklauberei über Engel-Fragen gern disputieren. Das ist wohl kaum existenziell. Bei allen anderen Themen lässt sich auf Rabulisten gottverdammichnochmal verzichten.“

Werner Engelmann aus Luxemburg:

„Bascha Mikas Vergleich der Stellungnahme deutscher Bischöfe zur „Pille danach“ mit der scholastischen Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz nehmen könnten, erscheint sehr treffend. Ebenso die Kennzeichnung der von Bischof Meisner ausgelösten Diskussion als „Rabulistik“.   Zu solcher muss Zuflucht nehmen, wer „Offenheit“ vortäuschen will, zugleich aber das Ergebnis der Diskussion für feststehend und unverrückbar hält. Und wer so aus dem Dilemma zu entfliehen meint, in das die Konfrontation des Dogmatismus mit der Wirklichkeit ihn geführt hat.
„Wie vieler Zellen bedarf es als Behausung für die menschliche Seele?“, könnte man in Anlehnung an Frau Mikas Vergleich fragen. Nach katholischer Auffassung offensichtlich nur einer einzigen.
Das Dilemma der katholischen Amtskirche resultiert aus anmaßender Grenzüberschreitung. Man meint, auf einem naiv-biologistischen Verständnis von „Leben“, das – wenn überhaupt – nur in seinem Prozess-Charakter fassbar ist, ein ganzes Moralgebäude mit massiven realen Auswirkungen  aufbauen zu können. Als hätte der Fall Galilei noch nicht genügt. Für die katholische Amtskirche ist und bleibt die Erde eben doch eine Scheibe. Ist es Zufall, dass (z.B. in Faz.net) gerade jetzt Foristen zur Ehrenrettung der Inquisition im Fall Galilei antreten, da dieser sein System doch „gar nicht bewiesen“ habe? Dass man glaubt, so einem Bischof Müller beistehen zu können, der die katholische Kirche mit selbst attestierter Opferrolle und Nazi-Assoziationen wie „Pogrom“ aus der Schusslinie bringen will?
Nun mag ein jeder an so viele Engel glauben, wie er lustig ist, solange er das Leben anderer damit nicht beeinträchtigt. Der Skandal der Hilfsverweigerung in katholischen Krankenhäusern zeigt aber, wo reklamierte religiöse „Toleranz“ endgültig endet: Wo nicht nur gegen das Gebot der Nächstenliebe verstoßen, sondern auch – mit Hilfe von Steuergeldern – im Sinne eigener Dogmatik ethische und gesetzliche Verpflichtungen außer Kraft gesetzt werden.
Dass die katholischen Bischöfe das selbst verschuldete Dilemma mit Rabulistik beseitigen werden, darf man bezweifeln. Und dass sie von sich aus ihr Einschüchterungspotenzial  (z.B. gegenüber Ärzten) reduzieren, auch. Um solchem Missbrauch  einen Riegel vorzuschieben, dafür ist aber auch der Gesetzgeber gefragt.“

Thomas Nestinger aus Bad Honnef:

„Die Presse berichtet, die katholische Kirche erlaube die Pille danach, und suggeriert in unverantwortlicher Weise, in den katholischen Krankenhäusern würde künftig das Interesse der Frauen respektiert. So ist es aber nicht! Nur wenn die vergewaltigte Frau das Glück hat, dass sie noch nicht befruchtet wurde, wird ihr geholfen. Wenn sie aber kurz vorher einen Eisprung hatte, wird ihr nachhaltig weiter die Hilfe verweigert und letztlich ihre Situation durch Zeitverlust noch verschlimmert.
Die katholischen Bischöfe haben, um sich aus der Schusslinie zu bringen, nur die Pille erlaubt, die einen bevorstehenden Eisprung unterbindet. Das Verhindern der Einnistung eines durch den Vergewaltiger befruchteten Eies wird nach wie vor abgelehnt. Warum berichtet die Presse so oberflächlich? Versteht man die Winkelzüge nicht, oder macht man sich bewusst zum Handlanger der Amtskirche? Die Kirche erlaubt allenfalls ein bisschen Pille danach. Es hat sich fast nichts geändert.“

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11 Kommentare zu “Eine Angelegenheit, die dringend Ernsthaftigkeit fordert

  1. Bischöfe, ich sage mal, „alte Männer“, die zum Erhalt der Menschheit überhaupt nichts beitragen, Ihren „wertvollen Samen“ irgenwie vergeuden, maßen sich an, wie einer verzweifelten Frau zu helfen ist ? Sie muss das ungewollte Kind eines schlimmen Vergewaltigers in Kauf nehmen, wenn der Samen halt schneller war als die Hilfe ? Sprachlos…
    Bald haben Bischöfe die Gelegenheit, auch bei uns Drohnen zu segnen, die im Einsatz auch zufällig unschuldiges Menschenleben im blühenden Alter vernichten können…Verzweifelt kopfschüttelnd…

    Was für ein Glück, dass wir in einem Staat leben, der seine Gesetze weitgehend ohne Mitwirkung der Kirchen beschließt. DIE FRAU BRAUCHT SICH NICHT DARAN ZU HALTEN !

  2. Ein Satz der Zusammenfassung hat mich gestört: „Wie ist das eigentlich, wenn solche Krankenhäuser doch ohnehin vor allem durch die öffentliche Hand finanziert werden – darf trotzdem die Morallehre des Trägers den Ausschlag geben?“

    Das ist eine Untertreibung – diese Krankenhäuser werden praktisch vollständig öffentlich finanziert. Wenn der Träger es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, seiner Kundschaft die Dienstleistung zu geben, die dem nach Gesetz zusteht, dann hat er sich aus diesem Geschäft einfach rauszuhalten. Die fehlende Moral der Institution Kirche ist allerdings allgemein bekannt – man betrachte nur einmal die übliche Erpressung der Angestellten über ein eigenes Arbeitsrecht – so ist der eigentlich Schuldige hier woanders zu suchen: Nämlich bei den Politikern, die öffentliche Aufgaben wie Krankenhäuser und Schulen in Hände privatisieren, von denen bekannt ist, dass sie jede Macht, die man ihnen gibt, dazu benutzen, die eigenen Vereinsziele unabhängig von der allgemeinen bzw. über eine speziell für sie geschaffene Rechtslage durchzusetzen.

    Was würde es für ein Geschrei geben, man gäbe eine Schule an Scientology. Nur, wenn man ans Eingemachte geht, sind die christlichen Kirchen da nicht wirklich besser. Es ist nur so, dass es nur selten so deutlich wird wie in diesem Fall. Und das eigene Arbeitsrecht verhindert eine Zeugenschaft der Angestellten.

    Was hier ganz allgemein passiert, ist dass über christliche Seilschaften in der Politik die Kirchen die Macht über die Gesellschaft und sogar noch mehr zurückbekommen, die ihr die Bürger durch Austritt entziehen.

    Das mindeste, was hier von der Politik verlangt werden muss, hat mit Krankenhäusern wenig zu tun: Es ist die Aufhebung des Tendenzschutzes für Kirchen außerhalb des unmittelbar verkündenen Bereiches. Ein spezielles kirchliches Arbeitsrecht hat in den verschiedenen Dienstleistungstöchtern der Kirchenkonzerne, die sich nicht offiziell mit dem speziellen Glaubens- oder Versicherungvertrieb beschäftigen, nichts zu suchen.

    Ohne dieses spezielle Arbeitsrecht hätte mit Sicherheit auch jeder der beteiligten Ärzte in den Fällen, die gerade hochgespült wurden, geholfen.

  3. Im Falle einer durch Vergewaltigung möglicherweise entstandenen (oder entstehenden) Schwangerschaft ist es völlig ohne Belang, ob eine Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bereits erfogt ist oder noch bevorsteht. Es muss und darf ausschließlich in der alleinigen Entscheidungskompetenz der betroffenen Frauen liegen, wie sie darauf reagieren. Und jede mögliche Hilfe muss ggf. gewährt werden. Katholische Moralvorstellungen sind absolut bedeutungslos. Was wir in diesem Land dringend brauchen ist mehr Mut zum Laizismus. Fangen wir doch einfach mal mit der Abschaffung der Kirchensteuer an.

  4. @ Napez,

    guter Vorschlag, mit der Abschaffung der Kirchensteuer an zu fangen. Doch wer alles ist „wir“? Die Spitzen der maßgebenden Parteien sind leider schon zusehr mit den Kirchen verbandelt.
    Der Laizismus ist auf halben Wege stehen geblieben.
    Das muss Partei übergreifend mühsam organisiert werden.

  5. Frauen gelten in der Katholischen Kirche leider auch jetzt noch sehr wenig. Ich erinnere mich an eine Gesetzes gleiche Empfehlung an angehende Mediziner aus den 60-ern und 70-ern, im Zweifelsfall bei einer schwierigen Geburt in jedem Fall das Kind zu retten, auch wenn es die Mutter das Leben kostet.

  6. Das verstehe wer will – ein ungeborenes Kind soll wertvoller als die Mutter sein ? Etwa weil die Mutter wahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen kann, das erwartete Kind aber vielleicht noch ein Dutzend ?
    Wieviel gemeinsame Gebete der Kurie mag es gegeben haben, bis sie diese Meinung dem gütigen Gott abgerungen hatten ?

  7. Das Zölibat ist eigentlich etwas Ähnliches wie der Anspruch der katholischen Kirche nach Vergewaltigung einer Frau, nur umgekehrt; in dem Fall werden Männer gezwungen, ihre sexuellen Bedürfnisse zu unterdrücken. Tun sie zwar mehrheitlich nicht, was zu verstehen ist, aber es wird nicht öffentlich, weil sie ja ihr eigenes Rechtssystem haben. Das kann doch nicht wahr sein!!!
    Nicht wahr sein kann, dass die Oberen der katholischen Kirche nicht merken, dass sie auf dem falschen Pfad laufen, unglaubwürdig sind und lieber verschwinden sollten.

  8. Rabulistik ist Wortklauberei, Spitzfindigkeit, und die Grenze zur Irreführung ist nahe. Diesen Begriff benutzt Bascha Mika in ihrer Kolumne, um das Ringen katholischer Bischöfe um die „Pille danach“ zu beschreiben. Frau Mika, wie sehr betrübt mich Ihre Kolumne, wenn Sie urteilen, dass dieses Ringen als „gemein“, „spitzfindig“ und „rechthaberisch“ zu bezeichnen ist. In dieser Frage geht es um das Wahre und Ganze unserer europäischen, christlichen Werte und nicht um Spitzfindigkeiten alter Bischöfe oder gar der Kirche im Ganzen.

    Hier geht es darum, ob unsere Gesellschaft die im Artikel 1 unserer Verfassung aufgehobene und zu verteidigende Würde jedes Menschen achtet. Diese Würde wird im Kern verletzt, ja total zerstört, wenn ein Mensch getötet wird. Darum und nur darum geht es beim Abwägen, welche Pille zulässig und welche nicht zulässig ist. Dieses Zulassen ist nicht der Beliebigkeit irgendeines Menschen anheimgestellt.

    Die höchste Würde des Menschen, sein Leben, ist ein Absolutum und kann nicht mal so, mal so geachtet werden. Es ist die Natur des Menschen, dass er ein Recht auf Leben hat. Es ist wohl auch zu beachten, dass eine vergewaltigte Frau großes Leid erfährt und der Fürsorge bedarf, auch der Fürsorge kirchlicher Krankenhäuser, also die christliche Nächstenliebe erfahren muss. Wenn aber eine befruchtete Eizelle durch die Untat entstanden ist, dann ist – auch wenn wir noch so sehr das Leid der Frau beklagen – ein Leben entstanden. Es ist ein Leben entstanden mit all seinen Möglichkeiten, die das Leben beinhaltet. Dieses Leben wird dann durch die „böse“ Pille zerstört. Es wird ein ungeborenes Leben zerstört.

    Wer will sich anmaßen, das Leben eines Menschen gegen das Leid einer Frau abzuwägen? Töten ist in jedem Fall ein bewusst herbeigeführter Akt, der die fundamentale Würde jedes lebenden Menschen total zerstört. Das Leid der Frau muss aufgehoben werden in der Barmherzigkeit unserer Gesellschaft, die unter dem Fehlen dieser wahrlich leidet. Wir dürfen aber nicht zum Wohle einer leidenden Frau ein anderes Leben bewusst durch eine Pille danach töten. Dies wäre eine ungeheuerliche Anmaßung und ein Aufbrechen der allerletzten Tabus unserer Werteordnung. In der Tat, Frau Mika, „Abtreibung bleibt Abtreibung“, auch wenn sie zum Wohle einer Frau durchgeführt wird. Tötung bleibt eben Tötung. Das besagt das Naturrecht, die Würde des Menschen, der Artikel 1 unserer Verfassung, der Kern unserer Werteordnung. Schade, dass Sie sich um dieses Nachdenken gedrückt und sich der Polemik der letzten Tage und Woche angeschlossen haben und die Tiefe des Problems in das hektische Tagesgelaber des Boulevards hinabgezogen haben.

    Veröffentlicht in der FR vom 26. Februar auf der Meinungsseite als „Einspruch“, hier nachträglich eingefügt von Bronski

  9. Wenn Frau Mikas Kolumne betrübt, sollte Herrn Müthes „Einspruch“ Besorgnis erregen. Zuerst muss man das zurechtstutzen, was von ihm den Bischöfen zugedacht wird: Unsere Werte sind weder christlich noch notwendig europäisch. Unsere Werte orientieren sich am Grundgesetz und an den unveräußerlichen Menschenrechten, die keiner Person genommen werden können und deren Erfüllung jedem zusteht. Diese zu deuten, steht den Bischöfen nicht zu. Dazu haben sie weder Kompetenz, wie die Erfahrung zeigt, noch Mandat. Kein religiöses Recht verpflichtet in der Bundesrepublik irgendwen, irgendetwas zu tun oder zu unterlassen. Das Grundgesetz stützt sein Recht nicht auf ein göttliches Argument, und die Menschenrechte haben sich seit den ersten Bestrebungen gegen göttliches Recht behaupten müssen, siehe die Memminger Artikel.
    Die Weise, wie die Bischöfe in ihre Positionen innerhalb der Kirche gelangen, ist mir suspekt und ich hoffe, manch anderem auch. Werte werden in der Öffentlichkeit diskutiert und man ist gut beraten, Leuten mit Misstrauen zu begegnen, denen Gottes Wahrheit offenbart wurde, die Gottes Plan in allem, somit natürlich auch in ihrem eigenen Leben sehen und in ihrer Kirchenposition ein göttliches Mandat wissen. Ein göttliches Mandat hatten vor einigen Jahrhunderten auch Könige, die erst nach viel zu langer Zeit von ihrem Hof gejagt wurden.
    Die im GG erwähnte Würde des Menschen ist wohl, ein Leben zu führen, in dem die elementaren Bedürfnisse realisiert werden und die schönen Erlebnisse die negativen überwiegen. Ersteres muss durch den Staat sichergestellt werden. Letzteres ist die dem Einzelnen zustehende eigene Bewertung seines Lebens. Ohne diese freie Bewertung des Einzelnen geht es nicht. Die Menschenwürde ist aber erst bei Personen vorhanden, die eine Form von Bewusstsein für Freude und Leid haben. Wo das Bewusstsein noch fehlt, kann keine Menschenwürde sinnvoll gewahrt werden. Erst wenn ein Bewusstsein sich ausbildet, tritt eine Abwägung zwischen dem Leid des Fötus und dem Leid der Mutter oder der Eltern ein. Die Debatte ist jedoch nicht, was für Rechte ein Embryo ohne Bewusstsein hat, sondern sollte eher sein, wie wir die Rechte von allen leidensfähigen Lebewesen schützen können.
    Herr Müthe stellt direkt danach die Frage, wer sich anmaßen wolle, das Leid abzuwägen. Die offensichtliche Antwort ist, dass natürlich nur die betroffene Frau abwägt. Sie kann sich so oder so entscheiden, aber was sie für sich beschließt, ist ihre Entscheidung, die dann auch richtig ist. Und wenn die Entscheidung ist, eine Abtreibung zu beschließen, ist von uns sicherzustellen, dass jeder Arzt dies fachgerecht tut. Die Frage ist aber auch merkwürdig formuliert, denn sie betrifft das „Leben eines Menschen“ gegen das „Leid einer Frau“. Eine Wortwahl, die mir nicht auf der Zunge gelegen hätte. Wenn wir über Menschenrechte reden, geht es um das Leid von Menschen, was die genauere Formulierung gewesen wäre. So gibt es eine Andeutung, die mir nicht passt und die an die Aufzählung in den Zehn Geboten erinnert, die lautet „Frau, … Rind, Esel“.
    Wenn mir männerorientierte Lebensschützer das Leben als Geschenk anpreisen, so lehne ich ohne großen Dank ab. Die Nahtod-Erfahrung, die man beim Prüfen ihrer Argumente hat, lässt einen gruseln. Der richtige Schrecken kommt aber, wenn sie versuchen, ihre Scheinargumente auf alle unsere Lebensbereiche auszuweiten. Das Leben ist kein absolutes Recht, womit wohl eher Pflicht gemeint ist, sondern jeder hat das Recht, den Wert seines Lebens für sich zu bestimmen. Auch wenn ich mich durch mein Geschlecht niemals in der erbarmungswürdigen Situation einer vergewaltigten, dadurch schwangeren Frau wiederfinden werde, die von Dritten unter Druck gesetzt wird, so werde ich sie verteidigen. Aber nicht nur dort lehren uns diese Menschen das Fürchten, sondern auch in Fragen des medizinischen Fortschritts oder beim selbstbestimmten Sterben. Sollte ich irgendwann durch Alter oder Krankheit in meinen geistigen Fähigkeiten so eingeschränkt oder von Schmerzen erfüllt sein, dass mir ein von angenehmen Dingen erfülltes und damit würdevolles Leben nicht möglich ist, so verbitte ich mir, zur Wickelpuppe eines Altenpflegers mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zu werden oder dem Seelenheil einer Heimleiterin mit religiösen Wahnvorstellungen zu dienen. Manche Geschenke kann man doch ablehnen.

  10. @ Ursula Samman (#5), Philipp Hinske (#9)

    Auch wenn, reisebedingt, schon einige Zeit verflossen ist, hier noch einige Überlegungen zu den m.E. sehr bedenkenswerten Beiträgen von Ursula Samman und Philipp Hinske.
    Auch meine Frau hat unser erstes Kind in einem katholischen Krankenhaus entbunden, und mir war alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass im Ernstfall ihr Leben für das „werdende Leben“ geopfert würde. Erinnerungen an meine Kindheit kamen hoch.
    Kriegsbedingt erst mit 2 Jahren getauft, hat die Frage mich schon sehr früh beschäftigt, was denn mit Kindern passiert, die sterben, ohne getauft zu sein. Die katholische Antwort, dass deren Seelen ohne das Taufsakrament eben nicht in den „Himmel“ kommen können, war höchst beängstigend. Verstärkt wurde dies durch ein „Lehrbeispiel“ des Priesters bei der Vorbereitung auf die Erstkommunion, nach dem ein Mädchen am Altar tot umfiel, das ausprobieren wollte, wie es wäre, die Kommunion zu empfangen, ohne „im Stand der Unschuld“ zu sein. Für mich hat es fast fünfzig Jahre gebraucht, um mir die Wunden in Form eines Romans von der Seele zu schreiben.
    Soviel dazu, wie Ausrichtung auf ideologisches Denken Empathie mit anderen Menschen verhindert und zu welchen brutalen Umgangsformen sie – ungewollt – führen kann. Was zählen die Ängste eines Kindes, das sich allein gelassen fühlt, was die einer vergewaltigten Frau, wo ideologisch bedingte Interessen im Spiele sind? – Das alles scheint längst überholt, doch man braucht nur einen Herrn Lohmann in den verschiedenen Talkshows zu hören, um zu begreifen, dass es keineswegs ein Problem von gestern ist. Die Vorgänge von Köln belegen dies.
    Philipp Hinske konkretisiert, was ich in meinem Beitrag „anmaßende Grenzüberschreitung“ nannte, nämlich die naiv-biologistische Definition von „Leben“ als Begründung eines ganzen Moralgebäudes, ausgehend von einem ebenso naiven Verständnis von menschlicher „Seele“:
    „Die Menschenwürde ist aber erst bei Personen vorhanden, die eine Form von Bewusstsein für Freude und Leid haben. Wo das Bewusstsein noch fehlt, kann keine Menschenwürde sinnvoll gewahrt werden.“
    Ich kann dem nur voll und ganz zustimmen. Ich möchte nur hinzufügen, dass Menschenwürde auch nicht sinnvoll gewahrt werden kann, wo sie – ob religiös oder sonst wie bedingt – einem vorneweg bestimmten Verständnis von „Leben“ und „Lebensschutz“ untergeordnet wird.
    Bezüglich des Problems, von welchem Zeitpunkt an die Organentnahme Gestorbener ethisch zulässig ist, wird intensiv und widersprüchlich diskutiert, wie das Ende eines Lebens definiert werden könne. In den meisten Ländern gilt neben dem Hirntod auch der Herztod als zulässiges Kriterium, obwohl sich beide Kriterien als keineswegs zuverlässig erwiesen haben. Besonders bei Herztod muss von der Gefahr ausgegangen werden, dass Menschen, die noch zu Bewusstsein kommen könnten, in medizinischem Interesse getötet werden.
    Ich habe noch nirgendwo gehört, dass sich die katholische Amtskirche hier als „Lebensschützer“ hervorgetan oder sich dem Problem überhaupt gestellt hätte. Was mit der „Seele“ solcher Menschen geschieht, an solcher Klärung scheint keinerlei Interesse zu bestehen – im Unterschied zur „beseelten“ befruchteten Eizelle. Im deutlichen Kontrast mit der von ihr gepredigten und von Herrn Lohmann lauthals vorgetragenen „Moral“ sind Sterbende wohl keine Klientel, derer sich anzunehmen im eigenen ideologischen Interesse steht.
    Der barmherzige Samariter, der sich am Leid und an der Not anderer Menschen orientiert – gleich welcher Zughörigkeit und welchen Bekenntnisses – der hat in dieser „christlichen“ Kirche eben keine Chance gegenüber dem Pharisäer, der sich selbstgerecht an die eigene Brust schlägt und betet: „Herr, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie jene…“

  11. Wie leicht Herr Hinske sich seine Replik auf meine Kritik an seiner bewusstseinszentrierten Argumentation (FR 7.3.13) in der heutigen FR v. 14.3. macht, finde ich enttaeuschend, wenn ich fuer sein klares Bekenntnis zur Position Peter Singers auch dankbar bin. Deren fatale Konsequenzen, von denen ich sprach, betreffen nicht Hinskes wohlfeiles Beispiel der Schlafenden, sondern das vermeintliche Recht auf Kindstoetung und „Euthanasie“ an geistig Schwerbehinderten mit dem Argument, es mangele ihnen an (Selbst-) Bewusstsein und deshalb an Menschenrechten. Leider verschweigt Herr Hinske diese Kehrseite seiner Selbstbestimmungs-Emphase und damit den Kernpunkt meiner Anfrage, wer „Bewusstsein“ definieren koenne oder duerfe. Anders als er unterstellt, ist mir aus den genannten Gruenden der Unterschied der Zustaende vor und nach dem Bewusstsein gerade nicht klar. Dieserueberhebliche Hang zur Vereinfachung der Probleme ist mir schwer ertraeglich.
    Klaus Wolper, Hamburg

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