Erinnern ist wichtig, doch wo bleiben Taten?

Derzeit gibt es viele Menschen, die befürchten, unsere Demokratie gehe vor die Hunde. Dann gibt es aber auch viele, die sich genau das wünschen. Die einen glauben: Besser können wir unser Zusammenleben nicht organisieren als mit der Demokratie. Die anderen glauben zu wissen: Es gibt bessere Wege als mit der Demokratie. Zumindest der Demokratie dieser Ausprägung. Da tut es vielleicht mal ganz gut, sich zu erinnern, dass uns Deutschen die Demokratie keineswegs in den Schoß gefallen ist.

Foto: Renate Hoyer

175 Jahre Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche! Was muss das für ein Gefühl des Aufbruchs gewesen sein damals! Nach Jahrhunderten des Feudalismus und der Unterdrückung. Im Jahr 1848 gipfelte eine Entwicklung, die man vor diesem historischen Hintergrund mit Fug und Recht als wegweisend bezeichnen kann, im ersten deutschen Parlament, eben jener Nationalversammlung. Diese demokratische Versammlung war blutig erkämpft und wurde bald darauf in Blut ertränkt. Die Verfassung, die von ihr erarbeitet wurde, hat gleichwohl die Verfassung der Weimarer Republik geprägt, ebenso unser Grundgesetz.

Damals haben überzeugte Menschen ihr Leben gegeben für die Idee von der Demokratie. Heute kämpfen Menschen, die nichts anderes kennen als die Demokratie, gegen die Demokratie. Warum?

Es ist keineswegs so, dass ich die Mängel der deutschen Form der Demokratie nicht sehen würde. Von diesen Mängeln sprechen unter anderem die Zuschriften, die unten folgen. In all den Jahren als FR-Blogger habe ich zahlreiche Diskussionen zu diesem Thema erlebt, das die Menschen nicht erst anlässlich des Paulskirchen-Jubiläums bewegt. Viele sehen die Gefahren für die Demokratie schon lange, und sie haben dabei die Wissenschaft auf ihrer Seite, die in der Ungleichverteilung von Reichtum und Bildung – und damit generell: Teilhabe – in diesem Land schon seit langem einen Sprengsatz für den sozialen Frieden erkannt hat. Da ist die Frage selbstverständlich nicht nur erlaubt, sondern im Sinne des Geistes der Demokratie sogar geradezu zwingend: Warum zieht die politische Klasse, die uns regiert und die wir wählen, nicht die nötigen Konsequenzen? Ist Deutschland am Ende gar eine „gelenkte Demokratie“?

Wie demokratisch ist Deutschland wirklich? Warum – nur mal so in den Debattenraum gefragt – gibt es keine Volksentscheide und Referenden? So was passiert zwar auf kommunaler Ebene, aber nur ausnahmsweise auch mal auf der Ebene eines Bundeslandes und nie auf Bundesebene. Zu diesem Thema hat die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff ein Buch geschrieben: „Die Angst vorm Souverän“ (FR-Rezension hier).

Das Misstrauen wächst. Es schlägt sich nieder in den Wahlergebnissen jener Parteien, die diese Form von Demokratie über Jahrzehnte getragen haben. Dieses Konzept war durchaus erfolgreich. Es hat lange Zeit sozialen Frieden produziert, die Grundlage für Prosperität und für eine Art von Gemeinsinn, aus der heraus Menschen erkennen, was für sie am besten ist. Auch wenn sie vielleicht nicht immer ihren Willen bekommen. Stichwort Kompromissfähigkeit – etwas, das verloren zu gehen droht, obwohl es zum Kern von Demokratie gehört.

Wenn jetzt immer mehr Menschen auftauchen, die sich in der deutschen Spielart von Demokratie nicht mehr wiedererkennen, dann ist wohl schon vor einer ganzen Weile etwas schiefgelaufen, was sich jetzt erst zu erkennen gibt. Für viele Linke ist der Buhmann längst ausgemacht: Gerhard Schröder und seine „Agenda 2010“. Doch so weitreichend Schröders Hartz-Gesetze auch waren – der SPD-Bundeskanzler schwamm nur auf einer Welle. Das macht die Sache nicht besser, aber so betrachtet lenkt die Fokussierung auf Schröder vom eigentlichen Problem ab. Die Welle, auf der er ritt, war bereits Jahrzehnte vorher aufgetaucht. Ihre Ausprägung hieß in Großbritannien „New Labour“, zuvor hatte Margret Thatcher für Ideen gefochten, die die Demokratie mittelfristig unterhöhlten. Sie tat dies praktisch Arm in Arm mit US-Präsident Ronald Reagan. Man nannte ihre Politik Thatcherismus oder auch Neoliberalismus, die dahinterstehenden Ideen hören auf den Namen „Neue klassische Makroökonomik„. Auch in den USA sind derzeit die Folgen dieser desaströsen Politik zu besichtigen, aus denen, wie wir angesichts des Auftauchens von politischen Figuren wie Donald Trump sehen können, tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie erwächst. Deutschland ist nicht allein damit. Aber das viel besprochene „Prekariat“ bleibt bisher stumm. Abgesehen von Exzessen in den „sozialen Netzwerken“. Hier lauert tatsächlich eine weitere, bisher unterschätzte Gefahr für die Demokratie.

Schröder war ein Wellenreiter. Niedriglohn haben andere vorgemacht. Naomi Klein hat in ihrem Buch „Schockstrategie“ breit die dahintersteckende Ideologie analysiert, die zur Gefahr für die Demokratie wird. In Kürze: Die Freiheit der Märkte steht; Märkte können alles am besten regeln, behauptete der Urheber dieser Idee, Nobelpreisträger Milton Friedman. Seine „Chicago Boys“, wie Klein sie nennt, exerzierten das Rezept von der Entfesselung der Märkte nach dem Putsch gegen Allende in Chile. Demokratie und ihre Durchsetzung spielten, dabei keine Rolle, folgt man Klein.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich des Jubiläums der Nationalversammlung in der Paulskirche eine Rede gehalten, die vielen ins eine Ohr hinein- und aus dem anderen sogleich wieder hinausgeglitten ist. Das sollte nicht dazu verleiten, die Bedeutung des Moments zu verkennen. Demokratie ist nicht selbstverständlich. Man darf Folgendes als gesichert betrachten: Autoritäre Systeme – also Monarchien, Diktaturen, Theokratien und all die anderen, welche die Menschheit im Lauf ihrer Geschichte bereits ausprobiert hat – sind keine Alternative zur Demokratie. Die Demokratie hat im Gegensatz zu diesen Systemen einen Vorteil: Sie kann sich von innen heraus erneuern durch die Kraft und die Ideen der Menschen, die sich einbringen. Das ist die eigentliche Botschaft des Paulskirchen-Jubiläums.


Hinweis: Dieser Text ging am 23.5. online. Sein Schluss wurde am 24.5. überarbeitet und vervollständigt.

Die Gleichheit ist ein leeres Versprechen

„Die Gleichheit vor dem Gesetz war eine revolutionäre Errungenschaft – aber sie blieb für viele ein leeres Versprechen, weil tiefe soziale Ungleichheit das Land … prägte“, analysiert der Bundespräsident das frühe Scheitern der Demokratie in Deutschland. Diese zentrale Erkenntnis bezog sich wahrscheinlich auf die Weimarer Republik, in der das soziale Elend der ausbeuterischen Massenbeschäftigung und eine zutiefst ungerechte Wohlstandsverteilung den Weg in die Hitler-Diktatur bereitete.
Was allerdings irritiert: Heute ist die „Gleichheit vor dem Gesetz“ wieder „ein leeres Versprechen“. 30 Jahre neoliberaler Umbau haben erneut eine „tiefe soziale Ungleichheit“ zwischen einer überreichen kleinen Minderheit und einer großen Mehrheit geschaffen, die nicht mehr weiß, wie sie aus ihren Minirenten und Kleineinkommen die horrenden Mietsteigerungen, die dreisten Preisaufschläge auf Energie und Lebensmittel und die jetzt wieder drastisch angehobenen Zinsen bezahlen soll. Lapidar dazu nur ein Satz: „Die Geschichte der Demokratie ist keine gradlinige Erfolgsgeschichte. Ihre Schattenseiten verdrängen wir nicht.“ Doch, genau das tut Herr Steinmeier, gehörte er doch zu den „Architekten“ der Agenda 10 mit ihrer „Liberalisierung der Arbeitsmärkte“, mit der Schaffung zigtausender Mini- und Medijobs, Zeitarbeit und vorprogrammierter Altersarmut. Auch die Privatisierungen u.a. der großen öffentlichen Wohnungsbestände mit nachfolgender Mietenexplosion und die „Modernisierung der Steuergesetze“, die Verlagerung der Steuerlast von den hohen Einkommen, Gewinnen und Kapitalerträgen auf die unteren und mittleren Einkommen hat, er als langjähriges Kabinettsmitglied maßgeblich mitgestaltet. Deshalb ist es kein Zufall, dass immer nur von „Freiheit“ als dem maßgeblichen Merkmal echter Demokratie die Rede ist. Und davon, dass „Demokratie und Liberalismus“ zusammengehören.
Was aber vor allem gelernt worden sein sollte ist doch dies: Demokratie und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. Und dass die soziale Kluft nicht zu groß werden darf. Dass es keine Privilegien und Instrumente geben darf, die den Reichtum einer kleinen Minderheit aus der Arbeit und den Einkommen der großen Mehrheit in immer extremere Dimensionen steigern, wie dies heute wieder der Fall ist.
Der heilige Ort der Paulskirche hätte mehr Ehrlichkeit und einen echten Demokraten verdient gehabt.

Heidger Brandt, Emkendorf

Wir brauchen keine Untertanen

Bascha Mika schreibt in ihrem Kommentar, dass das die Restauration siegte, dass die demokratischen Bemühungen blutig niedergeschlagen worden seien, wobei aber auf Seite 1 steht „es war der Moment, es war das Jahr, als aus Untertanen Staatsbürger wurden“ (Zitat aus der Rede Steinmeiers). Die Aussage Steinmeiers ist historisch zu korrigieren, was die Kommentatorin mit ihren Feststellungen ja auch schon unternimmt. Wenn die Aussage Steinmeiers stimmt, warum hat Heinrich Mann dann 1914 seinen Roman „Der Untertan“ veröffentlicht? Doch nicht, um an vergangene Zeiten zu erinnern, sondern um aktuelle Zustände zu kritisieren. 66 Jahre nach der Paulskirchenversammlung. So wichtig es ist, an all die demokratischen Bemühungen zu erinnern, die es in Deutschland gegeben hat, noch wichtiger ist es aber, „untertänige“ Strukturen aufzudecken (Bsp. der vor einigen Tagen veröffentlichte Bericht über Polizeigewalt), zu kritisieren und, wenn möglich, zu beseitigen.

Rüdiger Erdmann, Pattensen

Demokratie und Gerechtigkeit sind nicht zu trennen

„Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, sagte Michail Gorbatschow im Angesicht der abgewirtschafteten sozialistischen Diktatur in seiner Heimat UdSSR. Dieser Satz ist zeitlos und betrifft alle Menschen. Jederzeit und überall muss die Demokratie verteidigt werden, denn sie ist jederzeit und überall von schierer Machtgier bedroht.
In den marktradikalen Ländern wie dem unseren droht ihr die Vernichtung durch das Geld und Gut der zu Reichen. Denn sie können mit ihrem Vermögen zu viel Einfluss nehmen auf die politischen Entscheider. Mit schlimmsten Folgen für die Regierten: Tödliche Armut. Nicht mehr rückgängig zu machende menschengemachte Heißzeit für unzählige zukünftige Generationen. Und Abwesenheit von Demokratie. Deshalb sollten Lobbyisten mit einem Berufsverbot belegt werden. Ich sehe das sehr radikal. Und die Reichen sollten nicht zu reich werden dürfen.
It’s the money, stupid, um den US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton zu verballhornen, es ist das zu viele Geld der ganz Wenigen, was die Demokratie und die Lebensgrundlagen zerstört.

Ralf-Michael Lübbers, Marienhafe

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9 Kommentare zu “Erinnern ist wichtig, doch wo bleiben Taten?

  1. Nein, ich bin weder ein Strukturkonservativer noch ein wertkonservativ orientierter Sozialdemokrat. Ganz im Gegenteil. Mit meinen Positionen lag ich in der Sozialdemokratie, der ich erstmals am 12. Oktober 1970 als fünfzehnjähriger beitrat, oft in der Minderheit. Ich befürchtete schon als sehr junger Mensch, dass diese Demokratie eines Tages nicht über ausreichende Resilienz verfügen könnte, um sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen. Denn ich halte diese parlamentarische Demokratie trotz vieler Mängel und Fehlentwicklungen für unverzichtbar. Diejenigen haben Unrecht, die diese hierzulande bestehende Staatsform für falsch und irgendwie unecht halten. Mit Blick auf das Jahr 1848 und die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche muss noch einmal darauf hingewiesen werden wie viele Menschen für Freiheit und Demokratie gestorben sind und wie beflügelnd die Ideen von 1848 auf unsere heutige Verfassung gewirkt haben. Richtig ist, dass Demokratie ihre Vollendung nur durch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit erfährt. Die Voraussetzung für das Erreichen einer solidarischen Gesellschaft ist jedoch die Existenz der im Grundgesetz festgelegten bürgerlichen Freiheitsrechte. Ohne deren Existenz wäre es nämlich schlicht und ergreifend nicht möglich wirkungsvoll für eine soziale Reformpolitik zu kämpfen. Die Tatsache, dass die bräunlich bis braun schimmernde AfD leider nicht nur im Osten sondern auch in der alten Bundesrepublik erschreckend großen Zulauf erhält bestärkt mich in meinem Engagement gegen Rechts.

  2. Moin zusammen,

    ich möchte behaupten: Fast alle hier in diesem Forum regelmäßig diskutierten Probleme haben ihre Hauptursache im entgrenzten Markt. 

    Sei es das voraussichtliche Hauptproblem, die menschengemachte Heißzeit. Seien es nationalistische, rassistische, mörderische Diktatoren, solche mit und solche ohne Zugang zu Atomwaffen. (Ich meine das ernst und erkläre es unten.) Sei es die Ausbeutung von Mensch und Tier. 

    Der euphemistisch als Neoliberalismus bezeichnete entgrenzte radikale Markt hat nur eine einzigste (kein Rechtschreibfehler) Funktion: Er soll die Superreichen reicher machen auf Kosten aller anderen. That’s it. Punkt. Dabei behauptet er das Gegenteil. Und führt Wissenschaftler (Wirtschaftswissenschaftler, also Geisteswissenschaftler, also keine Naturwissenschaftler) als Kronzeugen an. „Der Markt“ soll alles regeln können. Politik. Wirtschaft. Individuelles Verhalten. Bildung. Medizin. Sex. Essen. Trinken. Alles. Und er soll es besser können als die Menschen untereinander. Nichts soll ihn regeln, den Markt. Er soll frei sein. Dann gehe es allen gut. Und immer und immer besser. Trickle-down-Theorie. Und wenn sie nicht gestorben sind,  die mit dieser Methode zunehmend reicher werdenden Superreichen, dann werden sie auf ihren Yachten und in ihren Jets und auf ihren Partys so unglaublich motiviert sein, ihre sagenumwobene Intelligenz und Kreativität und …was man halt so erbt, wenn man gut erbt dafür zu verwenden,  alle Menschen und Pflanzen und sogar Steine wohlhabend und glücklich zu machen, also wenn die Party denn mal unterbrochen ist. Nur: dafür müssen sie halt immer reicher werden, immer mehr bekommen, sonst funktioniert das nicht mit ihrer altruistischen Kreativität. 

    Wer’s glaubt…

    Ich bin kein Anhänger der Planwirtschaft à l’UdSSR. Sie hat über Jahrzehnte vortrefflich bewiesen, daß sie nicht funktioniert und außerdem die Menschenrechte mit Füßen tritt. Aber die reine ungezügelte Marktwirtschaft führt auch ins Unglück, und zwar nachhaltigst und mit mehr als Lichtgeschwindigkeit. Zuletzt konnte man das gut in Norditalien erkennen. Überschwemmung nach Dürre. Und in Kanada brennt’s wieder.

    Welches utopische Konzept könnte denn nun funktionieren? Was soll man jetzt noch ausprobieren,  trial and error? 

    Och, da gibt es in nicht allzu ferner Vergangenheit eine Methode, die jahrzehntelang bewiesen hat, daß sie funktioniert.  Soziale Marktwirtschaft hieß das damals, 1900 und zerquetschte Jahre nach der (mutmaßlichen) Geburt von Jesus Christus.  (Bitte nicht verwechseln mit dem Orwell-Sprech „neue soziale Marktwirtschaft“.) Die echte soziale Marktwirtschaft reicht heutzutage allerdings nicht mehr alleine aus. Etwas muß hinzugefügt werden, was auch schon mal in Ansätzen funktioniert hat: Öko! Also eine ökosoziale Marktwirtschaft. Das ist alles, was wir brauchen…

    Am Schluss möchte ich anmerken,  daß der Sch Neoliberalismus nicht nur Zahnkaries verursacht (in Zusammenarbeit mit Streptokokkus mutans), sondern auch Diktatoren gebiert und am Leben erhält wie diesen mörderischen Putin oder den nicht minder verbrecherischen Augusto Pinochet. Den neoliberalen Chicago-Boys kommt es nur und ausschließlichst darauf an, Profit zu machen. Dafür zerfleddern sie Staaten wie die Post-Sowjetunion, Chile, Irak. Sie zerstören die Infrastruktur. Nein, sie zerstören sie nicht mit Panzern und Bomben, sondern sie lassen sie verrotten, links liegen. Putin wäre kein Diktator geworden,  hätte nicht Syrien und die Ukraine und Staaten in Afrika angegriffen, hätten die westlichen Regierungen Michail Gorbatschow in seiner Vision eines sozialdemokratischen Post-Rußlands unterstützt. Die Welt heute wäre eine andere gewesen, wenn nicht die Marktradikalen sich durchgesetzt hätten. Sie wäre besser gewesen. (Übrigens auch mit weniger Zahnkaries und Übergewicht, weil die Lobbyisten sich nicht hätten durchsetzen können, soviel Werbung für ein so schädliches Produkt wie Zucker laufen zu lassen.)

    Mein Appell: Laßt uns (auch) immer wieder über das äußerst schädliche System Neoliberalismus diskutieren. Wenn man viele der wichtigsten Probleme lösen will, ist eine nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten gestaltete Marktwirtschaft und eine one man (/one woman one andere gefühlte Geschlechter) one vote-Demokratie DIE zentrale Schraube. 

    Ich möchte das mit dem Kern-und den Randproblemen am Schluss erläutern. 

    Ich war heute zum ersten Mal in dieser Saison im Freibad. Man kann darüber diskutieren, daß das Wasser ziemlich kalt war. Die Preise ziemlich hoch. Warum vor 10 Jahren kein Passiv-Bad gebaut wurde. Kein einziges PV-Modul angebracht. Wie letztes Jahr Energiesparlampen eingedreht sind statt LED. (Ich rede vom Auricher de Baalje.) Das sind Randprobleme. Der Besuch eines Freibades lohnt sich nur und funktioniert nur, wenn man schwimmen kann und wenn man sich den Eintrittspreis leisten kann. Das ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, quasi Kernkompetenzen. An der genug Geld und schwimmfähig -Schraube muß man drehen, um überhaupt über Freibadbesuche nachdenken zu können. Die anderen Schläuchen sind Verfeinerungen.

  3. Das Thema Demokratie im Zusammenhang mit Marktradikalismus ist mir mega wichtig, deshalb möchte ich meinen Diskussionsbeitrag noch ergänzen.

    Wenn man Marktradikalismus für die Ursache verschiedenster existentieller Probleme hält (wie ich das tue), dann sollte man Lösungsvorschläge diskutieren.

    Ich werfe mal in den Raum:

    Geld darf keinen Einfluss auf Politik haben. Deshalb muß der Lobbyismus abgeschafft werden (wie in meinem Leserbrief schon erwähnt).

    Linke Parteien wie die SPD und die Grünen müssen linke Politik machen wollen. Linke Politik bedeutet Umverteilung der Vermögen von oben nach unten. Wenn linke Parteien sich dafür nicht einsetzen, sind sie nicht links (sozialdemokratisch/grün). Die SPD muss wieder resozialdemokratisiert werden, und zwar offensichtlich von unten (von den einfachen Mitgliedern) angestoßen. Es kann doch nicht so schwierig sein, soziale und asoziale Politik auseinander zu halten. Revolution von unten! Die Grünen sollten zugeben, daß die Agenda 2010-Politik asozial war. (Ich erinnere mich gut an den Spruch, sozial sei was Arbeit schaffe. Egal wie schlecht bezahlt, egal wie anstrengend diese Arbeit ist, Hauptsache Arbeit? Ganz klar neoliberal und nicht links. Links ist Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Sozialversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenze, Bürgerversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenze. Um Helmut Kohl zu zitieren (mache ich nicht oft): Entscheidend ist, was hinten rauskommt (bezog sich damals auf Autoabgase und Katalysatoren. Für Sozis bedeutet das: Entscheidend ist, ob am Ende einer sozialdemokratische (Mit-)Regierung die Armen reicher und die Reichen ärmer geworden sind. Ist doch nicht so schwer zu kapieren, liebe Sozialdemokraten!

  4. Kern- und Randprobleme. Das Freibad oben war glaube ich nicht das ideale Beispiel. Deshalb ein anderes Thema. DDR.

    Ich bin in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen und war nur einige wenige Male an der Zonengrenze und in der DDR. Trotzdem habe ich recht, wenn ich sage: Randproblem war Mauer, Schießbefehl, Slbstschußanlagen, Stasi, keine Meinungsfreiheit, Todesstrafe (später Gott sei Dank abgeschafft), Trabbi-Stinker, Versorgungsmängel…

    Das Kernproblem war Diktatur des Proletariats (eigentlich überhaupt Diktatur). Mit der Wende wurden viele der Probleme auf einmal gelöst. Das war die zentrale Schraube. “ Willy! Willy“(Brandt, nicht Stoph). „Wir sind das Volk“.

    „Der Markt kann alles regeln“ ist das Kernproblem heute. Denn der Markt kann nicht alles regeln.

  5. zu @ Ralf-Michael Lübbers
    Sie setzten Neoliberalismus und einseitige Politik für das Kapital gleich. Ich denke das ist nicht so. Die Parteien die in D. am lautesten Marktwirtschaft schreien wollen diese am wenigsten. Ich denke schon das Marktwirtschaft der beste Ansatz ist. Es braucht dazu aber neutrale und auch soziale Regel. Als Bespiel möchte ich nennen das Habeck jetzt ab 2025 flexible Stromtarife eingeführt hat. Das ist ein großer Schritt in die Richtung Marktwirtschaft in den Strommarkt zu bringen. Angebot und Nachfrage werden dann hoffentlich regeln wie teuer Strom ist. Das ist gut so und hätte schon vor 10 Jahren gemacht werden müssen als es technisch möglich war. Das haben aber Partien verhindert die am lautesten immer Marktwirtschaft schreien. In Wirklichkeit ging es immer darum die Interessen des Kapitals zu schützen. Das ist das Problem. Ob Marktwirtschaft es regeln kann probieren wir ja gar nicht. Das ist nur vorgetäuscht. Es gäbe heute schon eine völlig andere Energiepolitik wenn man den Markt marktwirtschaftlich machen lassen würde. Natürlich müsste die Steuerpolitik auch neutral und sozial sein

  6. Moin Herr Büge/“Bronski“,

    sehr hübsch und aufgeräumt, das neue Forum 🙂

    Moin „hans“,

    Sie schreiben: „Ich denke schon das Marktwirtschaft der beste Ansatz ist. Es braucht dazu aber neutrale und auch soziale Regel.“

    Der Markt kann nicht alles regeln. Zum Beispiel muß garantiert sein, daß Güter und Dienstleistungen der öffentlichen Daseinvorsorge für jeden in ausreichender Menge und Qualität vorhanden sind.

    Der Markt kann viel regeln. Das funktioniert aber nur, wenn er nach demokatisch zu entscheidenden sozialen und ökologischen Gesichtspunkten eingehegt wird (wie Sie es oben beschreiben). Umgekehrt bewirkt ein ungeregelter („freier“) Markt, daß Reiche immer reicher und mächtiger werden (z.B. via Lobbyismus).

    Demokratisch zu entscheiden, welche sozialen und ökologischen Gesichtspunkte gelten sollen, bedarf zwingend, daß Geld keinen Einfluß nehmen darf auf politische Entscheidungen. Das ist, was momentan am „schiefsten“ läuft. Reiche können zum Beispiel via professionelle Lobbyisten mehr Einfluß auf Politiker nehmen als Ärmere und sie können deshalb ihre Interessen besser durchsetzen als Ärmere. (Mit „Ärmere“ meine ich die unteren 99 %, also fast jeden der hier lesenden und schreibenden Teilnehmer.)

    Wie ich schon mal erwähnte, bin ich in der Bundesrepublik aufgewachsen. Ich kenne „DDR-Verhältnisse“ also kaum aus eingener Anschauung. Ich denke aber, daß viele DDR-Bürger wußten, daß in ihrem System (!) etwas schief läuft, vor allem im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland und den anderen westlichen Staaten. Heutzutage merken viele Menschen auch, daß in unserem Land und in der Welt „etwas schiefläuft“, aber sie sehen nicht den Systemfehler dahinter. Das Gesundheitssystem ist schlecht finanziert. Dann muß man mehr Geld reinstecken. Marode Infrastruktur. Bei weitem absolut nicht ausreichender Klimaschutz. Da muß man ein bißchen PV an die Autobahnen bauen. Keine Kita-Plätze. Mehr Geld investieren. Und alles wird gut.

    Der Systemfehler dahinter, warum die Zukunft kriminalisiert wird, warum die FDP so stark ist, warum die SPD nicht sozialdemokratisch handelt, der Systemfehler dahinter ist die Ideologie, daß der freie Markt alles am besten regeln könne, je freier, desto besser. Daran glaubt nicht nur die FDP (die „darf das“, wenn ich das mal so formulieren darf), daran glauben auch viele Grüne und SPD-Mitglieder. Und das ist das Problem. Der Hegemon Neoliberalismus/asoziale Marktwirtschaft.

  7. Ups, ich hatte Absätze reingemacht. Wo sind denn die geblieben? Oder fehlen die nur in der Vorschau? Das ist jetzt nur eine kurze formale Frage, die nicht veröffentlicht zu werden braucht…

  8. Bei aller berechtigten Freude und Feierlaune anlässlich „175 Jahre Nationalversammlung“ in diesem Jahr darf nicht vergessen werden, dass nicht alle Menschen und Schichten, gesellschaftlichen Gruppen und kirchlichen Strömungen im Revolutionsjahr 1848 im Boot der Demokratie- und Freiheitsbewegung saßen. Gerade die von Armut und Vere-lendung Betroffenen fanden keine große Lobby, obwohl die soziale Not im Zusammenhang mit dem Beginn der Industrialisierung in Deutschland ab 1830 rapide zunahm.
    Zum Teil durfte diese Schieflage mit der Zusammensetzung der Delegierten in der Paulskirche zusammenhängen. Denn bei den Volksvertretern dominierte das Bürgertum – Ärzte und Anwälte, Beamte und Akademiker. Und auch wenn 39 Abgeordnete von Beruf Pfarrer waren, fanden Notleidende und Gescheiterte, verwaiste Jugendliche und schwerkranke Alte wenig Gehör, weder im Plenarsaal der Paulskirche noch im sozial erstarrten Christentum der Zeit.
    Deshalb rief der politische Frühling 1848 einen zweiten Frühling im Herbst hervor: den ersten Deutschen Evange-lischen Kirchentag. Die – aus ihrer Sicht – Verfehlungen der Revolution ließen konservativ gesinnte Protestanten eine Versammlung „evangelischer Männer“ noch im gleichen Jahr ins Leben rufen. Der „Kirchentag“ im September 1848 entstand also zum Teil als eine Reaktion auf die revolutionäre Paulskirchenversammlung. Auf dem Kirchentag in Wittenberg hielt der Theologe Johann Hinrich Wichern eine wegweisende Rede, die zur Gründung der Inneren Mission führte: die Geburtsstunde der organisierten Diakonie.
    Zusammen mit anderen Gruppen und Vereinen bemühte sich die Innere Mission im 19. Jahrhundert um eine Professionalisierung der diakonisch-sozialen Arbeit, etwa in der Kinder- und Jugendhilfe, Krankenpflege und Gefangenenfürsorge. Dabei nahm sie eine Vorreiterfunktion ein – noch lange bevor der Staat oder die Gesellschaft hier stärker Verantwortung übernahmen.
    So wie die Delegierten der Nationalversammlung auf dem großen Wandgemälde des Berliner Malers Johannes Grützke in der Frankfurter Paulskirche als ein ewiger, endlos im Kreis ziehender „Zug der Volksvertreter“ dargestellt sind, entwickeln sich Demokratie wie Diakonie auch heute weiter – ein fortlaufender Prozess, stets in Bewegung, einem noch unsichtbaren Ziel entgegen.

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