Es wurde ja nicht drüber gesprochen

Daniel Cohn-Bendit ist ein Protagonist der 68er-Generation, die Deutschland nachhaltig verändert hat – glücklicherweise. Würde ich jedenfalls sagen, vor persönlichem Hintergrund. Ob ich wohl sonst heute so friedlich und öffentlich anerkannt mit meinem Mann verpartnert wäre? Ob es die eingetragene Lebenspartnerschaft, die jetzt auf dem Sprung zur Gleichstellung mit der Hetero- Ehe ist, ohne die 68er überhaupt gäbe? Man darf zweifeln. Doch während bei uns in dieser Angelegenheit inzwischen, anders als in Frankreich, gesellschaftlicher Friede eingekehrt zu sein scheint, zeigt sich gerade jetzt, dass die 68er sich auch verirrt  haben. Die sexuelle Revolution war eben eine Revolution, soll heißen: Sie trieb auch befremdliche, abstoßende „Blüten“, sie übertrieb. Wie es wohl im Wesen von Revolutionen liegt.

Einvernehmlichen Sex, das dürfte Konsens sein, kann es nur unter gleichberechtigten, sich ihrer selbst bewussten Menschen auf Augenhöhe geben. Kinder sind Menschen in Entwicklung und können Erwachsenen gegenüber daher nicht gleichberechtigt sein. Gerade in der Frühgeschichte der Grünen und ihrer Protagonisten aber gab es Entwicklungen und Gruppen, die in dieser Hinsicht anders dachten. Die Grünen waren ein Sammelbecken verschiedenster Gruppen, die sich zu emanzipieren versuchten, darunter auch Pädophile. Sie kämpften für ihre Gleichberechtigung. Gut, dass sie gescheitert sind.

Daniel Cohn-Bendits Buch „Der große Basar“ erschien in Deutschland 1977  und wurde von „Zeit“ und „Spiegel“ damals freundlich rezensiert. Darin schrieb er darüber, dass es ihm mehrmals passiert sei, dass einige Kinder – er hatte als Kindergärtner gearbeitet – seinen Hosenlatz geöffnet und angefangen hätten, ihn zu streicheln. Das habe ihn vor Probleme gestellt. Aber wenn sie darauf bestanden, habe er sie gestreichelt. Im Klartext: Er schrieb über pädophilen Sex. Das ist ihm heute peinlich, und er sagt, es handle sich um Fiktion. Das Buch sei „unglaublich angeberisch“ und von dem Wunsch beherrscht, „immer noch einen draufzusetzen“. Er habe provozieren wollen. Man mag es ihm abnehmen – oder auch nicht. FR-Korrespondentin Inge Günther jedenfalls, die für uns aus Israel berichtet, hat bis 1983 mit Daniel Cohn in der Krabbelstube zusammengearbeitet, die sie auch gemeinsam gegründet haben, und nimmt „Dany le Rouge“ in diesem FR-Text in Schutz.

Ähnlich Arno Widmann und Christian Bommarius in der FR. Die Grünen wollen dieses Kapitel ihrer Parteigeschichte jetzt aufarbeiten und haben dazu den Politikwissenschaftler Franz Walter engagiert, der auch regelmäßig mit lesenswerten Gastbeiträgen in der FR vertreten ist.

Michael Rosin aus Schöneck schreibt mir zu diesem Thema:

„Ich finde es interessant welche Themen der beginnende Bundestagswahlkampf in die öffentliche Debatte spült. Die Angst der Konservativen und ihrer Begünstigten von den Fleischtöpfen vertrieben zu werden, zeigt sich in der Auswahl der Themen wie der politische Gegner angegriffen wird. Diesmal also die „die Grünen“ und die Pädophilie. Vor 30 Jahren haben sich die Grünen zu Thesen hinreißen lassen, die schon einige Zeit danach aus den eigenen Reihen wissenschaftlich hinterfragt und widerlegt wurden. Ich finde es bemerkenswert wie sich die Grünen mit dem Thema auseinandergesetzt haben und dies auch glaubwürdig vertreten. Sie geben zu das es ein Fehler war und bitten öffentlich um Abbitte. Obwohl niemand persönlich jemals gerichtlich belangt wurde soll eine unabhängige Untersuchung beauftragt werden. War da nicht auch mal etwas mit wirklichem Missbrauch in der katholischen Kirche und einer Untersuchung die aber dann doch nicht so gewollt weil nicht kontrollierbar wieder abgesagt wurde….. Und die Partei bei der man nie weiß welcher Verwandte ähh welche Leiche als nächstes in deren Keller entdeckt wird spricht von widerwärtig. Das ist peinlich und leicht zu durchschauen. Anstatt mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen sollten die anderen vier Finger lieber mal zum Ausmisten des eigenen Saustalls benutzt werden. Der Bundestagswahlkampf zeitigt auf welchem geistigen Niveau manche politischen Vertreter wandeln.“

Ute Plass aus Worms:

„Mein Eindruck bei dieser Debatte ist, dass nicht wenige Empörte fast genüsslich die Person Cohn-Bendit demontiert sehen wollen und dafür scheint ihnen so ziemlich jedes Mittel recht. Mit viel Schaum vor dem Mund wird sich hinter Kindeswohl und Kinderschutz verschanzt, um auf den bösen Feind leichter eindreschen zu können . All diesen so vermeintlich aufgeklärten Sauber-Denkern sei anempfohlen sich mit den repressiven Erziehungsmethoden und der schwarzen Pädagogik der Vor/Nachkriegszeit zu befassen, für deren Abschaffung sich Frauen und Männer aus der sog. 68er Bewegung engagiert haben. Zu diesen Engagierten gehörte auch ein Daniel Cohn-Bendit. Dass seine großspurigen, wie unausgegorenen Äußerungen über “die Erotik des Kindes”, die er vor fast vier Jahrzehnten von sich gab, in unseren heutigen Ohren unerträglich klingen, geben jedoch niemandem das Recht Cohn-Bendit eine Art von Pädophilen-Stempel aufzudrücken. Die das versuchen, verkennen, dass unser heutiges Verständnis für Kinderschutz und Kinderrechte dem revoltierenden Zeitgeist der 68er Jugend mit zu verdanken ist. Wie mit “den Sünden” dieser Jugend umgegangen wird, spiegelt auch den Reifegrad einer heutigen Gesellschaft wider!“

Sonja Pasch aus Frankfurt:

„An zentraler Stelle druckt die Rundschau unter dem durchaus doppeldeutigen Titel „Der Kinderfreund“ eine wortreiche Apologie für den wegen seiner Mißbrauchs-Schilderungen in die Kritik geratenen Daniel Cohn-Bendit. Eine Zeitzeugin spricht ihn von jeglichem Mißbrauchs-Verdacht frei mit den Argumenten, dass erstens Cohn-Bendit von den Kindern sehr geliebt wurde und zweitens sie selbst nichts von sexuellen Übergriffen bemerkt habe. Wer sich jemals mit dem Thema sexueller Gewalt an Kindern beschäftigt hat, weiß, dass beide Feststellungen durchaus typisch für solche Gewalttaten sind. Um nicht mißverstanden zu werden: ich behaupte nicht, dass Cohn-Bendit die sexuellen Übergriffe gegenüber Kindern, die er in seinem „Großen Basar“ beschreibt, tatsächlich begangen hat. Fest steht aber: Cohn-Bendit gebraucht bei seinen Schilderungen eine Sprache, die geistige Brandstiftung beinhaltet: „Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen. [. . .] Es ist mir mehrfach passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. […], wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt.“ Das Opfer wird hier sprachlich zum Täter gemacht: fünfjährige Mädchen werden als sexuell reife Frauen, die einen damals Achtundzwanzigjährigen zum Sex verführen, dargestellt, der Täter wird als Manipulationsobjekt der Opfer suggeriert – eine komplette Verdrehung des tatsächlichen Sachverhaltes bei sexuellem Mißbrauch und eine suggestive Entlastung für alle Täter. Auch im „Pflasterstrand“, für den Cohn-Bendit damals als presserechtlich Zuständiger zeichnet, tauchen in den Siebziger Jahren mehrfach Artikel auf, die sexuelle Gewalt von Erwachsenen an Kindern verharmlosen, ja verherrlichen. Cohn-Bendit hat das nie geschadet, er war und ist ein erfolgreicher Politiker. Ich wünschte auch nur einen Bruchteil des Mitleids, das ihm in Inge Günthers Artikel entgegengebracht wird, den Opfern sexueller Gewalt. Einer Zeitung, die den großen Verdienst hat, den Mißbrauchs-Skandal an der Odenwaldschule öffentlich gemacht zu haben, ist ein solcher Artikel nicht würdig.“

Manfred Stibaner aus Dreieich:

„Wird es Euch nicht langsam peinlich bei dem wöchentlich ein- oder zweimal wiederholten Versuch, die alten Ausrutscher mancher Grünen in Richtung Pädophilie zu beschönigen? Es reicht, wenn Herr Cohn-Bendit das als „Provokation“ zu relativieren versucht. Es war damals unsäglicher Mist, und es ist heute nicht besser – gerade im Licht der Aufklärung der Missbrauchsfälle etwa in der Odenwaldschule durch die FR. Mit diesem Thema spielt man nicht. Nun kann man ja sagen „das ist bald 40 Jahre her – lasst es ruhen“. Meinetwegen, aber dann lasst auch die Beschwichtigungen dazu sein.“

Mathias Fuchs aus Hochheim a.M.

„Nach der Lektüre Ihres Artikels war ich sehr irritiert. Herr Bommarius, würden Sie Ihr Fazit auch gegenüber einer Person äußern, die als Kind von einem Erwachsenen zur egoistischen Befriedigung sexueller Bedürfnisse missbraucht wurde? Genau in dieser Form äußerten sich die Forderungen, die Sie in ihrem Artikel thematisieren.
Zwar führen Sie einen ablehnenden Standpunkt gegenüber Pädophilie auf, doch gehört meiner Auffassung nach ein abschließender Punkt dahinter – keine politische Philosophie, die in einem „Recht auf Irrtum“ mündet. Sie betreten damit eine ganz andere Ebene, eine weitaus abstraktere und äußerst wenig empathische, die im Kontext sexuellen Missbrauchs sehr irritiert.
Ungeachtet dieser polemisch erscheinenden Argumentation stellen pädophile Handlungen weit mehr als einen Irrtum dar.“

Margot Neubauer aus Frankfurt:

„Soso, da ist also der Artikel von Inge Günther der FR nicht würdig, und Frau Pasch schlägt einen Bogen von Inge Günther, die nichts bemerkt haben will, zu Cohn-Bendit, von dem sie nicht sagen will, dass er sexuelle Übergriffe „tatsächlich begangen hat“, bis dahin, dass Inge Günther argumentiere, wie es typisch ist, und dass sie einen Bruchteil des Mitleids den Opfern sexueller Gewalt entgegenbringen solle, und kommt zu dem Schluss, dass der Artikel insgesamt der FR nicht würdig ist! Ja, geht‘s noch? Welchen Opfern denn? Soweit ich weiß gibt es bei Cohn-Bendit keine Opfer!
Inge Günther beschreibt also ihr Erleben damals, Cohn-Bendit distanziert sich von seinen damaligen Äußerungen. Es melden sich keine Opfer von Cohn-Bendit, die Eltern haben seinerzeit eine Stellungennahme für Cohn-Bendit veröffentlicht – nichts davon wird zur Kenntis genommen! Cohn-Bendit hat damals provoziert, hat den Bürgerschreck gegeben. Denn schon damals wurde das, was mit der freien, der antiautoritären Erziehung impliziert war, verteufelt. Was sich in den Schulen, Heimen und Familien abspielte war das Non plus ultra, „weil wir auch so erzogen wurden“ – was bekanntlich zu Duckmäusern und autoritären Charakteren geführt hatte.
Das Problem ist, dass das Ausmaß, was Kinder erleiden mussten, bis hin zu Verletzungen, Vergewaltigung und Tod, gar nicht bekannt war, es wurde ja nicht darüber gesprochen!. Auch deswegen konnte Cohn-Bendit so naiv provozieren. Erst die Informationen und dann die Auseinandersetzungen mit „Stadtindianern“, Pädophilen, Päderasten machte klar, dass es Probleme gibt noch jenseits unseres eigenen Erlebens in Elternhaus und Schule mit Schlägen und Unterdrückung. Für uns war zunächst schlimm genug, am eigenen Leib zu erleben, was der Film „Das weiße Band“ so eindrücklich schildert!
Die Kampagne, die Anfeindungen führen dazu, dass kein Mann sich traut Erzieher zu werden, Kinder auch mal in den Arm zu nehmen.
Und last but not least haben wir Wahlkampf. Herr Dobrindt und Co. haben Angst, Teile der bürgerlichen Mitte an die Grünen zu verlieren – da kommt das doch gerade recht!“

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7 Kommentare zu “Es wurde ja nicht drüber gesprochen

  1. Was mich in dem Zusammenhang nur wundert, ist die Treue der CDU/CSU zur katholischen Kirche. Nach Dobrindts Logik wäre doch der Papst der Vorsitzende einer schwulen Kinderficker-AG. Oder sollte diese besondere Nachsicht gegenüber der Kirche vielleicht daran liegen, dass die rkK zugunsten der CDU/CSU auf eine eigene Partei verzichtet?

    Aber eigentlich hat Bronski schon alles gesagt:
    „Daniel Cohn-Bendits Buch “Der große Basar” erschien in Deutschland 1977 und wurde von “Zeit” und “Spiegel” damals freundlich rezensiert.“ (Bronski)

    Der aufgeklärte Teil der Gesellschaft war sich damals darin einig, dass eine Kultur, die unfähig war, das III Reich zu verhindern, komplett auf den Prüfstand gehörte. Auch die, denen das nicht bis ins Bewusstsein vorgedrungen war, waren in der Weitergabe dieser Kultur, in der sie selbst aufgewachsen waren, so unsicher, dass sie damit die „68er“ schufen.

    Was allerdings in meinen Augen einen falschen Zungenschlag hat, ist das Loblied auf den Irrtum. Es sollte ein Loblied auf die Freiheit werden. Die allerdings ermöglicht den öffentlichen Irrtum in Gedanken, dessen Diskussion den Irrtum in der Tat zu verhindern hilft.

  2. Was DCB geschrieben hat, wird etwas zu wenig gewürdigt. Es handelt sich zunächst der Form nach mitnichten nur um eine Phantasie, sondern um ein Geständnis. Damals hatte so ein Geständnis keine strafrechtlichen oder uahc nur rufschädigenden Folgen, zumindest bei der grünen Klientel. Nachdem sich das geändert hat, hat er es jetzt widerrufen. So lange sich keins der geschädigten Kinder meldet, sind wir in dubio. Wer will, pro reo. Aber das hat sich bisher auf dem Gebiet fast immer als falsch erwiesen. Seine politische „Leistung“ besteht für mich vor allem darin, sich nach seinem Treiben als le rouge vor der französischen Justiz gerettet zu haben und danach mit Fischer den Grünen die gewaltfreie Seele abzukaufen, Deutschland für den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien progandistisch aufbereitet zu haben, damit dem Neo-Militarismus Bahn zu brechen, statt dem Sozialismus, wie uersprünglich angedacht. Zuletzt hat man ihn, außer beim Widerruf seines pädosexuellen Geständnisses dabei ertappt wie er Waffen für die Aufständischen in Syrien gefordert hat, was nicht mit dem übereinstimmt, was die Grünen den Bundesbürgern vor der Wahl eigentlich erzählen wollen.

  3. Schön – nehmen wir einfach mal an, daß diese Buchzitate dem Herrn Cohn-Bendit damals nur so als „Provokation“ rausgerutscht sind und die dort dargestellten Handlungen quasi frei erfunden waren: was aber trotzdem davon bleibt ist die Wirkung auf pädophile Leser dieses „damals freundlich rezensierten“ Werkes. Jeder tatsächliche Kinderschänder kann sich schließlich darauf berufen, daß seine Gedankenwelt auch von anderen wohlwollend bewertet wird. Und damit sind wir bei dem Zusammenhang zwischen fragwürdigen Zitaten und realem Geschehen – und diesen übersehen Ihre wohlwollenden Kommentatoren geflissentlich.

    Und noch etwas: es ist ja wohl keine ganz neue Erkenntnis daß kleine Kinder alles Mögliche anfassen müssen. Da von Hosenlatz öffnen zu reden und von „kleinen Mädchen von fünf Jahren die schon gelernt hatten, mich anzumachen“ ist sowas von daneben daß es gescheiter wäre, darüber den Mantel des Schweigens zu legen.

  4. So wie der Mensch die Chance hat sich weiter zu entwickeln, sich zu hinterfragen und seine Glaubensbekentnisse tagtäglich auf den Prüfstand zu stellen, hat er auch die Möglichkeit gar nichts zu tun und einfach in den Tag zu leben oder seine Verantwortung für sich selbst abzugeben an seine Ängste, seinen Neid, seine Trauer, Wut und was noch so alles unreflektiert in einem schlummert.
    Es ist schade zu beobachten wieviele Menschen lieber über andere sprechen, sich als Richter generieren und Urteile fällen und dabei so empathielos so hart und kalt wirken.
    Was würden diese Menschen wohl anstellen hätten sie die Macht über Leben und Tod bzw. die Macht ihre Wut, ihren Hass oder ihre Allmachtsphantasien auszuleben.

    Frau Plass manche waschen ihre einstmals feministisch angehauchte dreckige Wäsche schön opportun nun mit Hilfe des damaligen „Feindesblattes“ an den deutschen Stammtischen.
    Da zeitigt die Gegenwart welches Kind man in der Vergangenheit schon war.

  5. Michael Rosin, ich liebe dich für diesen wunderbar treffenden Eintrag!!! Den ich am heutigen Morgen in der Rundschau gelesen habe. It made my day!

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