Angeblich, so heißt es ja immer wieder, leben wir in postideologischen Zeiten. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des real existierenden „Sozialismus“ ist der Antagonismus jener Systeme Geschichte, jener Konflikt Kapitalismus versus Kommunismus. Doch die Behauptung von den postideologischen Zeiten stimmt nicht – auch wenn diese These erklären könnte, warum überall auf der Welt, auch bei uns in Deutschland, plötzlich wieder Nationalismen aufflammen: vielleicht um ein ideologisches Vakuum zu füllen? Weil wir Menschen uns ja schließlich orientieren wollen? Nein, es ist ein wenig komplizierter. Die Nationalismen sind vermutlich in erster Linie eine Reaktion auf die als bedrohlich empfundene Globalisierung. Denn es gab auch nach dem Ende des globalen Systemdualismus Ideologie. Geben wir ihr den Arbeitstitel Neoliberalismus. Anders ausgedrückt: der Glaube an den „schlanken Staat“, der sich raushält aus allem, was „die Märkte“ besser zu organisieren vermögen, und damit der Glaube an die Wirkungsmacht dieser Märkte.
Diese Lehre strahlte von Universität von Chicago weltweit aus. Als ihr geistiger Vater gilt der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman. Sie hatte mächtige Fürsprecher in Gestalt von Ronald Reagan und Margret Thatcher. In der Bundesrepublik kam sie ein wenig verspätet an, denn hier war ein Gesellschaftsmodell verankert, das „soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde und das sich trotz gewisser Probleme verbreiteter Beliebtheit erfreute. Hier war es vor allem Otto Graf Lambsdorff, der diesem Denken den Weg ebnete, indem er am Bruch der sozialliberalen Koalition von SPD und FDP und am Aufstieg von Helmut Kohl (CDU) zum Bundeskanzler maßgeblich beteiligt war. Seitdem heißt es auch in Deutschland: Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb! Um diese Entwicklung zu unterstützen, gründete der Arbeitgeberverband Gesamtmetall im Jahr 2000 die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Seitdem ist sozial, was Arbeit schafft, was die Wirtschaft, den Wettbewerb und die Bereitschaft zu wirtschaftsliberalen Reformen fördert. Unternehmerische Freiheit und Eigenverantwortung sind Werte dieser Ideologie. Seitdem wird auch in Deutschland der gesellschaftliche Reichtum nach oben umverteilt. Dass diese Ideologie nicht so sozial sein kann, wie sie behauptet, wird unter anderem daran immer deutlicher erkennbar, dass sie verbreitet Armut produziert. Sie bevorzugt und produziert einen Ideal-Typ, einen Gewinner, der sich durchzusetzen weiß.
Doch muss das so sein? Nein, gewiss nicht. Auch wenn die soziale Marktwirtschaft der 70er und 80er Jahre inzwischen weitgehend Geschichte ist, gibt es Ideen und Modelle, wie diesem Trend zu begegnen wäre. FR-Leser Sigurd Schmidt gab den Startschuss zu einer Debatte, die ich hier in mehreren Leserbriefen abbilde.
Eine Prise Neoliberalismus
„Welcher wirtschaftspolitische Handlungsrahmen sollte künftig – unter jedwelcher Regierung in Berlin – eine ungefähre Verbindlichkeit haben? Seit geraumer Zeit geistert ein Begriff durch die deutsche Presse: „Neue Soziale Marktwirtschaft“. Dieses Konzept wird bisher mit zum Teil großformatigen Anzeigen in die Öffentlichkeit eingespeist. Es fehlen aber zum Beispiel seitens maßgeblicher Wirtschaftswissenschaftler konkrete Stellungnahmen, worin sich eigentlich die „Neue Soziale Marktwirtschaft“ vom hergebrachten Verständnis von sozialer Marktwirtschaft (Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard) unterscheidet? Wird der sozialen Marktwirtschaft eventuell nur eine gute Prise Neoliberalismus beigemischt?
Folgendes kann gemutmaßt werden: in der postindustriellen Gesellschaft (Raymond Aron) haben sich die Produktionsformen gravierend geändert. Die heutige hochgradig arbeitsteilige Marktwirtschaft basiert auf neuen Organisationsprinzipien, auch im Rahmen neuer, etwa europäischer, Rechtsverhältnisse. Start-ups und Fin-Techs treten neben den – stark nach Größen gegliederten – Mittelstand und die sehr großen Unternehmen (Aktiengesellschaften) bauen sich ständig um. Dabei wandelt sich die Rolle der Gewerkschaften beträchtlich. Die gesamte Wirtschaft wird von IT-Architektur durchzogen (Digitalisierung). Vor allem verändert die galoppierende Globalisierung die Handlungsparameter der nationalen Volkswirtschaften.
Insgesamt lässt sich sagen, dass qualitatives Wachstum (also nachhaltiges Wachstum) immer stärker gegenüber rein quantitativem Wachstum zur Geltung gelangt. Wir befinden uns definitiv im ökologischem Zeitalter, auch wenn die Durchsetzung weltweiter Standards so schwer fällt. 2008 hat mit der großen Finanzkrise tiefe Spuren hinterlassen. Der Finanzkapitalismus versucht letztlich, die Realwirtschaft zu überwinden und muss deshalb eingehegt werden. Ein sozial konsistentes, ökonomisch-ökologisches Modell neuen Wirtschaftens ist noch nicht in Reinform konzipiert.
Hinsichtlich der Anpassung der Produktionsverhältnisse an die neuen Produktivkräfte (dieser Marxsche Denkansatz hat nach wie vor modellartig Gültigkeit) stellt sich die Frage, ob nicht der Genossenschaftsgedanke (Raiffeisen, Schultze-Delitzsch) eine Renaissance auf breiter Front erfahren sollte? Denn Tatsache ist, dass die gesamte Breite der Interessen der heutigen Bevölkerungen und Konsumentenschaft in den postindustriellen Gesellschaften von den Angebotsleistungen anonymer Kapitalgesellschaften nicht immer befriedigend abgedeckt wird.“
Sigurd Schmidt, Bad Homburg
Das Finanzkapital ist nicht mit Wert unterfüttert
„Sigurd Schmidt beschäftigt sich in seinem Leserbrief mit der neuen sozialen Marktwirtschaft, die seit geraumer Zeit „in die Öffentlichkeit eingespeist“ werde. Herr Schmidt fragt, ob „der sozialen Marktwirtschaft eventuell nur eine gute Prise Neoliberalismus beigemischt“ werde.
Offensichtlich ist es Schmidt entgangen, dass seit 2000 eine gleichnamige Initiative mit dem Namen INSM als Propaganda-, Lobbyorganisation und Braintrust tätig ist, initiiert und finanziert vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Das Verständnis der neuen sozialen Marktwirtschaft stellt sich als entfesselter marktliberaler Kapitalismus. Da das nicht jedermanns Sache ist, gibt es die gleichnamige Propaganda-Abteilung. Und da steckt natürlich mehr als eine Prise neoliberalistische Ideologie dahinter. So harmlos, wie Schmidt fragt, ist es nicht.
Er fragt im Weiteren, was das Neue in den alten Schläuchen sei und verfällt dabei u.a. auf den Anglizismus FinTechs. Die deutsche Übersetzung „Finanztechnologie“ sei kurz umschrieben: Bankgeschäft ohne Lizenz. Darin liegt wohl nichts Gutes, gelingt es der Gesellschaft doch bereits nicht, das herkömmliche Finanzkapital im Sinne des Gemeinwohls zu regulieren. Spätestens seit den 1990er Jahren dominiert das Finanzkapital den realwirtschaftlichen Bereich und übertrifft ihn in Bezug auf die Akkumulation um ein Vielfaches. Problematisch daran ist, dass das Finanzkapital nicht mit Wert unterfüttert ist (siehe Robert Kurz, „Geld ohne Wert“, Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle, „Die große Entwertung“). Dass dem so ist, konnte man 2008 sehen, als die Marktwirtschaft ins Schlingern kam.
In der Folge hat Stephan Schulmeister (Wiener Ökonom) überlegt, Realkapital und Lohnarbeit gegen das Finanzkapital zu verbünden (u.a. in der FR). M.E. würde das die Überakkumulation nicht stoppen. Gleichwohl beschreibt Schulmeister anschaulich das Problem. Davon ist Herr Schmidt noch reichlich entfernt, wenn er die zunehmende Diskrepanz zwischen Real- und Finanzkapital mit einer Prise Neoliberalismus verwechselt.“
Wilfried Jannack, Hannover
Genossenschaften zur Eindämmung der Macht der Konzerne
„Es wird immer dringender, den Konstruktionsfehler unserer Demokratie, die Freistellung der Wirtschaftsmacht von jeglicher demokratischen Kontrolle, zu korrigieren. Das Wiederaufgreifen der Genossenschafts-Idee ist dazu bestens geeignet, Ministerin Barley ist der gleichen Meinung (siehe FR vom 16.3.18, auch internet). Würde man z. B. Banken und Versicherungen per Gesetz, wenn nötig auch unter Zuhilfenahme des Art.15 GG (Enteignung), zwingend diese Gesellschaftsform vorschreiben, wäre ein erster Schritt getan. Als nächstes käme dann eine Demokratisierung der Aktiengesellschaften an die Reihe. Eigentlich hat eine AG eine Struktur, die demokratische Züge trägt: Die Hauptversammlung (das Volk) wählt einen Aufsichtsrat (das Parlament), der dann den Vorstand (die Regierung) einsetzt und kontrolliert. Nur leider dominieren Großaktionäre und Banken in Vertretung von Einzelaktionären die Hauptversammlung und bestimmen den Kurs. Die Arbeitnehmervertreter sind im Aufsichtsrat gegenüber den Anteilseignern und den leitenden Angestellten in der Minderheit, weil der Vorsitzende – immer ein Vertreter der Aktionäre – bei Stimmengleichheit entscheidet.
Entsprechende Änderungen am Aktiengesetz (Beschränkung des Stimmrechts in der HV auf fünf Prozent, verstärkte Ausgabe von Mitarbeiteraktien, Verbot der Übertragung des Stimmrechts auf andere) und des Mitbestimmungsgesetzes (der Aufsichtsrat tagt firmenöffentlich, Besetzung des Aufsichtsrats nach Wahlergebnis in der HV) könnten dann die Eindämmung der Macht der Konzerne weiter vorantreiben.“
Peter Bläsing, Bonn
Kapitalinteressen vor Bürgerwohl
„Der Antwort von Herrn Jannack auf den Leserbrief des Herrn Schmidt stimme ich voll zu. Zuerst zu den Fintechs. Sie sind Unternehmen, die der Finanztechnik dienen, Beispiel Paypal. Mit dem Finanzkapital haben sie rein gar nicht zu tun. Das macht sich nämlich jetzt in unserer Politik unter dem ebenso hübschen wie nichtssagenden Begriff des Neoliberalismus breit. Ist aber nichts anderes als der ganz normale (Finanz-) Kapitalismus pur. Und das wiederum bedeutet kurzgefasst: Kapitalinteressen vor Bürgerwohl. Nach der schon lange propagierten Prämisse: Wenn es dem Kapital immer besser geht, geht es auch den (meisten) Bürgern etwas besser. Und da diese wegen ihrer mangelhaften politischen Bildung gar nicht merken, dass damit auch ihre Gesundheit und die demokratische Kultur (die Politik ist eigentlich dem Bürger und nicht der Wirtschaft verantwortlich) den Bach runtergeht, wählt sie auch immer die gleichen Politikertypen. Wäre es anders, hätte ein Kandidat Merz nicht nur knapp die Mehrheit zum Vorsitzenden der CDU verpasst. Jetzt soll er sogar als Kanzlerkandidat aufgebaut werden. Ein im Sinne der Kapitalinteressen sicher tüchtiger Mann, der allerdings wie kaum ein anderer für diesen Neoliberalismus steht. Auch dies ein Zeichen dafür, wie eine noch immer große Volkspartei ihre demokratischen Verpflichtungen verkauft. Sie gibt nämlich so zu erkennen, dass sie sich den Interessen des Wirtschaftskapitals (Effizienz, Arbeitsplätze, Niedriglohn) eher noch näher fühlt als bisher. Wir Bürger bleiben weiter die – ausgemusterten – Bauern dieses Schachspiels.“
Der Argumentation in den Lesebriefen von Herrn Bläsing und Herrn Gratz kann ich einiges abgewinnen. Werden hier doch wenigstens Ansätze erkennbar, welche Wege aus der Sackgasse möglich wären. Oder, anders ausgedrückt: aus dem Dilemma zwischen den Ungeheuern Skylla und Charybdis, Neoliberalismus und Nationalismus.
Was mir noch fehlt:
Die (sehr zurückhaltend ausgedrückt) die Schattenboxkämpfe zwischen den beiden scheinbaren „Alternativen“ in ihren verschleiernden und verdummenden Absichten zu entlarven, wo sie doch im Prinzip auf das Gleiche hinauslaufen, wie etwa an der Umweltproblematik zu erkennen ist: auf gnadenlose Ausplünderung des Planeten im ausschließlich eigenen egoistischen Interesse. Und daran, dass diese vermeintlichen Gegensätze, in der Missgestalt eines Donald Trump etwa, auch eine Symbiose eingehen können. Die wohl schlimmste aller „Alternativen“, die in Wirklichkeit nie welche waren.
Momentan gibt die öffentliche Hand sehr viel Geld dafür aus, AI (artificial intelligence) für die kommerzielle Nutzung zu erschließen. Von der Bundesregierung finanziert, werden allerorten an den Hochschulen anwendungsorientierte Professuren eingerichtet mit dem einzigen Zweck, im Wettbewerb mit den USA und China zu bestehen. Es gibt also durchaus äußerst massive Eingriffe des Staates in das Marktgeschehen. Offen bleibt allerdings, ob dessen Engagement die erhofften Früchte trägt. Wenn es so einfach wäre, hätten gewiss schon andere sich längst von der Marktwirtschaft verabschiedet und würden planwirtschaftliche Strategien verfolgen. Die AI ist quasi die Nagelprobe dafür, inwieweit hoheitliches Handeln überhaupt noch von Bedeutung ist. Verliert die deutsche Volkswirtschaft in der gegenwärtigen Auseinandersetzung den Anschluss, helfen auch keine Klagen über den angeblich so inhumanen Neoliberalismus, zu dem sich die Eliten der Welt mutmaßlich verschworen haben.
Es gibt eine Aussage die wenig diskutiert wird aber völlig klar ist. Für das funktionieren von der Wirtschaft kann die Verteilung des Kapitals nicht egal sein.
Nachdem inzwischen ein weiterer FR-Leser, Hans-Jürgen Gratz aus Friedrichsdorf Ts., auf meinen Leserbrief in Sachen „Unterschied zwischen ‚Sozialer Marktwirtschaft‘ im Erhardschen Sinne und ‚Neuer Sozialer Marktwirtschaft (INSM)'“ reagiert hat, möchte ich noch einmal mein thematisches Anliegen etwas intensiver verdeutlichen. Schon der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ ist ein Begriff von nur ungefährer Reichweite, dessen konkreter Inhalt in den Parlamenten im politischen, streitigem Diskurs jeweils ganz aktuell ausbuchstabiert werden muß. Die Sozialverpflichtetheit der Marktwirtschaft bedeutet, daß diese eine dienende Funktion ausfüllen muß, Wirtschaften also nicht zum Selbstzweck werden darf. Einer Ökonomisierung und In-Waren-Verwandlung der gesamten Lebenssphären muß entschlossen entgegen gewirkt werden.
Der Begriff Neoliberalismus leitet sich ursprünglich aus der Chicagoer Schule rund um Milton Friedman ab. Eine andere Ausdrucksweise für Neoliberalismus ist heute Deregulierung. Es gibt nicht wenige Mitbürger, die den Begriff Neoliberalismus rundweg ablehnen bzw. mit ihm nichts anzufangen wissen und die sagen, es gäbe nur den Liberalismus schlicht als solchen. Neoliberalismus läßt sich aber auch nicht gleichsetzen mit dem „normalen Finanz-Kapitalismus pur“ (H.-J.Gratz) – Vereinfacht gesagt, meinen die Vertreter auch der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)“,daß man den Marktkräften mehr vertrauen sollte als staats-interventionistischen Maßnahmen der Wirtschaftpolitik. Sowohl Herr Jannack wie Herr Gratz lassen in ihren Leserbriefen eine nicht nur untergründige Totalkritik an der Marktwirtschaft (die im Kern ja Geldwirtschaft ist) mit ihren notwendigen Freiheitsräumen erkennen. Die Formulierung: „ Kapitalinteressen würden vor dem Bürgerwohl bedient“, ist uralt marxistisches Denken. Schon der Begriff Kapitalismus ist weitgehend polemisch. Im Grunde sind alle Kritiker der Marktwirtschaft Kritiker der Geldwirtschaft als solcher. Bei Marx heißt es: Der Gebrauchswert wird im Zuge der Entwicklung zum vollentfalteten Kapitalismus in reinen Tauschwert umgewandelt. Eine Rolle bei der – auch nur ungefähren – Ausdeutung des Begriffes Neoliberalismus spielt auch, ob man weiterhin Kreditgeld, also Geld- und Kreditschöpfung akzeptiert bzw. als dem Wirtschaftswachstum förderlich hält oder ob man ein Vollgeld fordert, also Geld, das volkswirtschaftlich (wie früher durch Gold) voll unterlegt ist.
Den geschätzten LB-Verfassern Jannack und Gratz möchte ich noch erwidern, daß die weltwirtschaftliche VWL keine Barmherzigkeitsveranstaltung der christlichen Kirchen ist. Handel ist IMMER Wandel. Ob Ökonomie funktioniert oder nicht (sie funktioniert z.B. gegenwärtig im Einparteiensystem der VR China ziemlich gut), richtet sich überhaupt nicht nach Wünschbarkeitskriterien. Die Wirtschaft hat der Gesellschaft zu dienen, ja, dies ist völlig richtig, aber eben nur ein frommer Wunsch, wenn es um die praktische Umsetzung geht!
Stephan Hebel heute in der FR: „Verschleiern und diffamieren“ eine kluge Analyse darüber geliefert, wie die Wahl bestimmter Begriffe die gesellschaftliche Athmosphäre prägt und auch vergiften kann. Der Begriff „Kapitalismus“ ist die rhetorische „bazooka“, mit der man quasi auf Spatzen schießt. Den anderen geschätzten Leserbrief-Kollegen sei anempfohlen, anstatt Karl Marx Georg Simmel zu lesen. In der Geistesmacht steht Simmel ganz weit über Marx!
Der gestern veröffentlichte Risikobericht des Weltwirtschaftsforums (World Economic Forum, WEF) fällt in diesem Jahr besonders düster aus. Im Vorwort schreibt WEF-Präsident Brende davon, dass die Welt drauf und dran ist, schlafwandelnd in die historisch vielleicht tiefste Krise zu stürzen. Zwar gäbe es momentan einen enormen Bedarf für einen kollaborativen Ansatz, um die globalen Herausforderungen zu meistern. Viel Hoffnung jedoch besteht nicht, dass eine Zusammenarbeit in solch einer Frage jemals zustande kommt, die entscheidend ist für das Überleben der Menschheit. Angesichts dessen ist es erlaubt, Zweifel daran zu haben, warum hier im Blog etwa von hans für eine andere Verteilung des Kapitals plädiert wird, ohne dabei den Kontext anzugeben. Oder wenn von Sigurd Schmidt eine Ökonomisierung der Lebenssphäre befürchtet wird, die es vermeintlich abzuwehren gilt; wobei der Kern der politischen Auseinandersetzung offensichtlich ein ganz anderer ist und eine auf Rosa Luxemburg rekurrierende Diskussion einer so genannten „inneren Landnahme“ (Lutz, B.: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/New York, 1989, S. 214) in dieser Hinsicht völlig verfehlt ist. Mithin kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht wenige in existenziellen Angelegenheiten selbst noch im Jahr 2019 weit über ein Vierteljahrhundert später immer noch die Debatten zu Beginn der 1990er Jahre führen.
@ all
Ich möchte hier einen profunden Artikel aus der FAZ verlinken, der den Titel trägt: „Der Neoliberalismus wird achtzig“. Man könnte meinen, wie sich doch die Zeiten von vor achtzig Jahren und heute ähneln.
https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/neoliberalismus-wird-achtzig-geboren-aus-dem-geist-der-krise-15733799.html
@ Matthias Aupperle
Den von Ihnen verlinkten FAZ-Artikel kannte ich schon. Für diejenigen Blogger, die sich der dort erwähnten marxistischen Lesart des Neoliberalismus bedienen, möchte ich ergänzend Karl Marx zitieren, der in einer Antwort an die Redaktion des „Sozialdemokrat“ (Nr. 37 v. 13. September 1890) einst sagte: „ich weiß nur dies, daß ich (i. Org. kursiv) kein ‚Marxist‘ bin“. Auf wen sich die marxistischen Kritiker des Neoliberlismus berufen, müssten sie demnach noch offenlegen. Karl Marx jedenfalls scheidet als Referenz aus.
In welch völlig falscher Frontstellung die Kritiker des Neoliberalismus ihre Kampfbegriffe in Anschlag bringen, tritt vor allem dann zutage, wenn man etwa einen Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) selbst zu Wort kommen lässt. So veröffentlichte beispielsweise erst gestern die Ludwig-Erhard-Stiftung auf ihrer Internetseite einen Essay des Münsteraner VWL-Professors van Suntum, der mit der Politik der Ära Merkel hart ins Gericht geht. Dessen zentrale Aussage lautet: „Merkel hat in ihrer Amtszeit nicht weniger als die deutsche Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit zerstört“. Von einer Vorherrschaft des Neoliberalismus, wie so oft behauptet wird, kann demnach keine Rede sein. Im Gegenteil. Van Suntum fährt fort: „Der Merkelantismus kann … als später Sieg des Sozialismus gesehen werden“. Insofern stellt sich schon die Frage, weshalb immer noch davon gesprochen wird, dass der Neoliberalismus sogar das Denken präformieren würde.
Man muss kein Marxist sein, um Unbehagen am Kapitalismus zu empfinden, wie Sigurd Schmidt meint. Er möchte das K-Wort nicht hören, wer es benutzt, der steht bereits im Verdacht, ein Marxist zu sein. Unsinn ist Schmidts Aussage, der Satz „Kapitalinteressen würden vor dem Bürgerwohl bedient“ sei uraltes marxistisches Denken. Zuallerallererst ist das Alltagserfahrung. Dass die Menschen den Marktkräften so wenig vertrauen wie der Planwirtschaft ist augenscheinlich.
Wie Gebrauchswert in Tauschwertwert umgewandelt wird, bleibt ein Geheimnis von Herrn Schmidt, mit seinem Schreckgespenst Marx hat das nichts zu tun.
Bei der ‚Ausdeutung des Neoliberalismus‘ – was immer das ist – kommt Sigurd Schmidt auf das Vollgeld zu sprechen. Vollgeld heißt, nur Geld mit Golddeckung ist Geld. 1973 haben die USA als letztes Land die Golddeckung aufgeben müssen. Die Geldmengen – exponentielles Wachstum – waren den weltweiten Goldbeständen entwachsen. Den Goldstandard wieder einzuführen dürfte schwieriger werden, als die Zahnpasta in die Tube zurückzukriegen. Neoliberalismus bedeutet auch, dass viel mehr Geld da ist als realwirtschaftlich nötig.
Die ‚weltwirtschaftliche‘ VWL sei keine Barmherzigkeitsveranstaltung, schreibt Schmidt. Nein, VWL ist in ersterLinie Legitimationswissenschaft für das Bestehende. Gegen Kritik muss sie sich immunisieren. Der Versuch, sich im Rang einer (Natur-)Wissenschaft zu etablieren, ist krachend gescheitert. Gern greifen professorale Fachvertreter den Mindestlohn an, gern bei der alleinerziehenden Friseurin im Osten. Wenn eine britische Oma fragt, wie das 2008 passieren konnte, so schauen sie stammelnd auf ihre Schuhe (Oma = Elisabeth II.).
Schmidt schreibt im Folgenden, es sei ein frommer Wunsch, dass die Wirtschaft der Gesellschaft zu dienen habe. Dieser Meinung sinddie meisten Menschen nicht. Um das schlimme K-Wort abzuwehren, zieht Schmidt Stephan Hebel (FR) heran. Der ist aber durchaus als Kapitalismuskritiker bekannt.
Dem Vorschlag Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ wahrzunehmen, schließe ich mich gerne an, zumal doch die Marxisten Ernst Bloch und Georg Lukács bei Simmel studiert haben. Inhaltlich: Simmel geht genau wie Marx bei seinen Geldbetrachtungen von den vermittelten Beziehungen der Menschen aus, von den gesellschaftlichen Verhältnissen.
In der Folge hat Sigurd Schmidt andere Blogbeiträge ausgelöst, die ihm nun auf die Füße fallen. Van Suntum – von Jutta (?) eingeführter – Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ist auch bekannt für seine gelegentliche Nähe zur AfD und deren Zerfallsprodukten. Mit van Suntum schließt sich der Kreis von Neoliberalismus zum Rechtspopulismus. Mit Freiheitskonzepten wie z.B. dem von John Stuart Mill hat das nichts zu tun. Angeblich sei der Neoliberalismus (Hayek, von Mises, …) vor 80 Jahren angetreten, den Liberalismus vor den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu retten. Wo endet diese Erneuerung heute? Als Kehrseite der Münze Rechtspopulismus.
Wilfried Jannack, 19. Januar 2019 um 12:34
„Nein, VWL ist in erster Linie Legitimationswissenschaft für das Bestehende.“
Endlich mal ein Beitrag, bei dem man als Laie nicht den Eindruck hat, versehentlich in ein VWL-Colloquium geraten zu sein, aus dem man sich gefälligst heraus zu halten habe. Der sich doch damit zufrieden zu geben habe, es ausbaden zu dürfen, wenn die schöne Theorie auf dem Experimentierfeld der Gesellschaft (wie Sie so schön sagen) mal wieder „krachend gescheitert“ ist. Und während der kluge VWL-Theoretiker sich dann mit einem achselzuckenden „Sorry – Pech gehabt“ zurücklehnt, hat nicht nur die Oma, von der Sie sprechen, als Folge dessen, was der verbockt hat, an Ihrer Existenz zu knabbern.
In dem Sinne entspricht Ihre Aussage auch genau meinem Eindruck.
Wobei ich hinzufügen möchte, dass mir vor allem das Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit fehlt, dass es sich nicht einfach um einen „wissenschaftlichen Disput“ handelt, sondern um ein Geschehen, von dem Millionen von Menschen betroffen sind.
Eine Feststellung, die nach meiner Einschätzung auch mit verantwortlich ist für Staatsverdrossenheit und Hinwendung zu Rechtspopulismus.
Wenn sich dann (wie Sie sagen) die proklamierte „Erneuerung“ als „Kehrseite der Münze Rechtspopulismus“ herausstellen sollte, dann dient das mit Sicherheit nicht dem Vertrauen in solche Form von „Wissenschaft“.
Es wäre interessant, von Ihnen aus volkswirtschaftlicher Sicht zu hören, ob sich in solchen Bedenken wirklich nur Vorurteile eines Laien äußern.
Nicht nur, dass die Krise vor zehn Jahren von nahezu allen Wirtschaftswissenschaftlern nicht schon im Vorfeld ihrer Entstehung erkannt wurde, die deutschen Vertreter der Disziplin sind auch sehr weit davon entfernt, in absehbarer Zeit den Nobelpreis für ihre Arbeit verliehen zu bekommen. Letzteres wiegt deshalb schwerer als die offensichtlich fehlende Prognosefähigkeit, weil es auf qualitativ minderwertige Forschungsnetzwerke verweist, die es nicht erlauben, Spitzenleistungen zu erbringen. Das Problem ist daher weniger ein etwaiger Rechtspopulismus, wie Wilfried Jannack zu bedenken gibt, der damit einhergeht, sondern gesellschaftliche Bedingungen, die eine Erkenntnisgewinnung auf höchstem Niveau von vornherein ausschließen. Bleiben die Verhältnisse auch künftig unverändert bestehen, nützt es nichts, auf die dadurch wenig kompetente VWL zu schimpfen. Vielmehr müsste politisch der Hebel daran angesetzt werden, endlich die zahllosen Bremsen zu lösen, um überhaupt Aussagen darüber treffen zu können, wie eine Lebens- und Produktionsweise auszusehen hat, die nicht bloß darauf reduziert ist, Überschüsse um ihrer selbst willen zu erzielen.
@Wilfried Jannack, Jutta
Jutta fordert, sicherlich zu Recht, „Bremsen zu lösen“, die einer Diskussion über eine „Lebens- und Produktionsweise“ entgegenstehen, „die nicht bloß darauf reduziert ist, Überschüsse um ihrer selbst willen zu erzielen“.
Einen Ansatzpunkt dafür bietet der „Club of Rome“, der für seine Arbeit folgende Ziele nennt:
„1) Umformulierung der Ziele und Veränderung der Funktionsweise unserer Wirtschaftssysteme; 2) Entkopplung von Wohlstandsentwicklung und Ressourcenverbrauch; und 3) Sicherung von Lebensgrundlagen, Arbeitsplätzen und Einkommen“ (Wikipedia)
Schon in „Grenzen des Wachstums“ von 1972 forderte er:
„Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen.“
Im Juni 2008 veröffentlichte Graham Turner von der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO) eine Studie, in der er die historischen Daten für die Jahre von 1970 bis 2000 mit den Szenarien der ursprünglichen Studie von 1972 verglich. „Er fand eine große Übereinstimmung mit den Vorhersagen des Standardszenarios, das in einem globalen Kollaps in der Mitte des 21. Jahrhunderts resultiert.“
Und in der Neufassung, „Die neuen Grenzen des Wachstums“, Update 2004, stellt der Club of Rome fest: „Fortführung des ‚business as usual‘ der letzten 30 Jahre führe zum Kollaps ab dem Jahr 2030.“ –
Grund, seine Hände in den Schoß zu legen und auf Gottvertrauen zu setzen, es werde schon nicht so schlimm kommen?
@ Werner Engelmann
Ihr Exkurs zu den vom Club of Rome formulierten Zielen in allen Ehren. Die Frage, auf welche Weise heute die dafür geistig benötigten Arbeitsleistungen erbracht werden können, beantwortet Ihr Ausflug in die 1970er Jahre nicht. Man kann sich schon Ziele setzen (wie aktuell etwa die Erderwärumg auf 2 Grad zu begrenzen), wenn jedoch aus den verschiedensten Gründen die Umsetzung ausgeschlossen ist, ist nichts gewonnen. Auffällig ist etwa, dass die mit dem Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften ausgezeichneten Arbeiten meist Einzelleistungen sind. Anzusetzen wäre demnach daran, die Bedingungen so zu verändern, damit die Arbeit leichter von der Hand geht; anstatt nichts unversucht zu lassen, das Erarbeiten von Lösungen noch mehr zu erschweren.
Kleiner Einwurf, mitten in die Diskussion, sorry…
Der Begriff „Neoliberalismus“ verschleiert, um was es im Kern geht, nämlich um Marktfundamentalismus. Also das Fehlen jeglicher Regeln. Margret Thatcher sprach zum Beispiel davon, daß es so etwas wie eine Gesellschaft nicht gäbe. Es gäbe nur Einzelwesen mit Einzelinteressen.
Eine nicht durch sinnvolle Regeln eingehegte Marktwirtschaft schafft uns die größten Probleme dieser Zeit. Jene, die viel haben, bekommen noch mehr, auf Kosten aller anderen. Mehr Geld. Mehr Macht. Noch mehr Geld. Noch mehr Macht. Alle anderen verarmen. Die Umwelt/Biosphäre wird unwiederbringlich zerstört.
Buchempfehlung (eines der wichtigsten Bücher überhaupt, die ich je gelesen habe): „Warum schweigen die Lämmer?“
Ich beteilige mich zum ersten Mal an einem Blog und auch nur, weil ich zusammen mit Herrn Jannack Auslöser dieses Blogs war. Da passt es gut, dass der letzte Beitrag von Herrn Lübbers mit jedem Satz ins Schwarze trifft. Ich schließe mich seinen Ausführungen voll an-
Herr Schmdt verliert sich leider in formalen und historisch vielleicht interessanten Definitionen, wo es doch nur darum geht, den Begriff Neoliberalismus so zu definieren, wie er heute von den meisten Politikwissenschaftlern benutzt wird: Es ist der ursprünglich politische Liberalismus, der von der Wirtschaft aufgenommen und der Politik als Marktwirtschaft übergestülpt wurde. Das Soziale wurde dabei nicht vergessen,sonder als fortlaufende kleine Verbesserungen für den kleinen Mann nitgenommen. Der stellt immerhin ein beachtliches Wählerpotenial.
Das Ergebnis ist die bei uns nicht mehr zu leugnende Herrschaft der Wirtschaft über die Politik. Und der Finanzkapitalismus ist ein wesentlicher Teil der Wirtschaft. Ihnen setzt die Politik nicht die für eine funktionierende Demokratie notwendigen Grenzen. Die Folgen s.o bei Herrn Lübbers.
@ Werner Engelmann:
Ich diskutiere als volkswirtschaftlicher Laie, der von der herkömmlichen VWL wenig hält. Sie fragten nach dem Zusammenhang Neoliberalismus-Rechtspopulismus.Dazu ein Zitat aus der Studie ‚Die Mitte in der Krise‘ von Oliver Decker und anderen für die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgebracht. Mein Text ist aus 2010 ( also aus Zeiten vor dem Phänomen):
„Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.“
Ich entnehme das Zitat Tomasz Konicz‘ Kapitalkollaps.
Ich bestärke den Buchtipp von Ralf-Michael Lübbers: „Warum schweigen die Lämmer?“!!!
Es geht um die Verbindung von Elitenherrschaft – Politikohnmacht – Konsumsklaverei – Entdemokratisierung.