Rechte und Pflichten in Zeiten autoritärer Regime

Der Wehrdienst wird wieder eingeführt – zumindest mittelfristig. Vorbei ist es mit der „Friedensdividende“ nach dem Ende des kalten Kriegs. In Osteuropa tritt Russland aggressiv-imperialistisch auf. Die europäischen Staaten sind darauf nicht vorbereitet.

Was ist schiefgelaufen in den vergangenen Jahrzehnten? Lassen wir mal die Positionen beiseite, die jetzt erwartbar sein dürften, etwa die von der angeblichen Nichtbeachtung russischer Interessen. Also jene Positionen, die noch immer im alten Ost-West-Schema verfangen sind, obwohl doch längst offensichtlich ist, dass heutzutage jenseits aller geostrategischen Erwägungen Ideologien am Werk sind, die an die Stelle des altgewohnten Antagonismus von Kapitalismus und Sozialismus getreten sind. Diese Ideologien gibt es immer noch, doch das Weltgeschehen ist mittlerweile anders grundiert. Jener gewohnte Antagonismus war immer auch der zwischen Demokratie und Totalitarismus. Inzwischen aber sind die USA, einst „Leuchtturm“ der Demokratie, auf dem Weg, ein autoritär geführtes Land zu werden, und autoritäre, totalitäre und diktatorische Systeme erheben überall ihre Köpfe, egal ob in urkapitalistischen Ländern oder solchen mit totalitärer Geschichte. Dieser Wandel geschieht ebenso überraschend wie rasant. Dabei ist viel Geld im Spiel, was für kapitalistische Antriebe sprechen würde, doch dieses Geld strebt nicht mehr „nur“ nach Profit, nach Investition und Vermehrung, sondern es strebt nach Macht. Das zeigt sich in den Oligarchien des Ostens ebenso wie in denen des Westens, etwa wenn ein Elon Musk wütet, um staatliche Strukturen zu zerstören.

Wie oft haben wir reden hören vom „schlanken Staat“, der sich raushalten soll aus dem Wirkstreben der Märkte! In Deutschland waren es Helmut Kohl und Otto Graf Lambsdorff, die dem Neoliberalismus die Bahn geebnet haben, den Vorbildern folgend von Ronald Reagan und Maggie Thatcher. Das Narrativ, dass der Staat sich rauszuhalten habe, hatte durchschlagenden Erfolg. Das Wachstum der Wirtschaft ist als oberstes Staatsziel heute fest in vielen Köpfen verankert. Der Sozialstaat ist in dieser Denkweise nur eine Last. Sozialer Friede ist kein Wert an sich, sondern linkes Gedöns. Steuererhöhungen sind Gift für praktisch alles.

Nun bekommen wir die Quittung: Der Staat – ich meine hier vor allem den deutschen, aber vieles von dem findet sich auch in anderen Ländern – ist nicht mehr in der Lage, seine ureigenen Aufgaben zu erfüllen. Nicht mal die, die das neoliberale Narrativ ihm noch zugestanden hat: die Landesverteidigung (unter anderem). Man sieht dasselbe Problem aber auch bei anderen staatlichen Aufgaben, etwa bei der Bildung oder bei der Infrastruktur. Die sozialen Schichten des deutschen Staats sind undurchlässig geworden. Das Aufstiegsversprechen der Sozialdemokratie scheitert.

In dieser neoliberalen Logik scheint es nachvollziehbar, dass der Staat sich nun hemmungslos verschuldet, um seine Aufgaben schultern zu können, denn die Steuern zu erhöhen, kommt nun mal nicht infrage, obwohl diese Lösung zur Finanzierung unseres Gemeinwesens mindestens genauso naheliegt. Die sogenannten Sondervermögen (ein Euphemismus für Schulen) sind jedoch zugleich – ebenso wie die Wiedereinführung von Musterung und Wehrdienst – ein Symptom dafür, dass auch Deutschland vor einem Systemwechsel stehen könnte. Der „schlanke Staat“ der neoliberalen Ära könnte bald Vergangenheit sein. Zumindest bei uns.


Von Kriegen sind alle betroffen

Der Protest gegen das neue Wehrdienstgesetz (nicht: Wehrpflicht!) macht es sich zu einfach: „Eure Kriege ohne uns“. Wessen Krieg ist gemeint? Der Krieg eines Aggressors kommt zu uns, wenn wir uns weigern, ihn zu verhindern: Wie bis 1990 soll die Bundeswehr im Nato-Verbund kriegsfähig und -bereit sein, um eben nicht Krieg führen zu müssen. Vom Krieg würden alle – Junge, Alte, Frauen, Männer  – betroffen sein. So einfach ist es – aber offensichtlich schwer zu begreifen. Aber Hoffnung auf Erkenntnis glimmt: Noch nie wurden gerade diejenigen, die es direkt betrifft, dazu so befragt, wie es das Wehrdienstgesetz vorsieht, womit auch Information und Gespräch stattfinden und (hoffentlich) Einsicht in Notwendiges entsteht.

Dieter Hartwig, Kiel


Gebühren zur Finanzierung von Kasernen

Die Deutsche Friedensgesellschaft empfiehlt, dass jetzt alle Männer bis 60 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen sollen. Warum nicht gleich auch alle Frauen? Es ist ja völlig okay, Menschen zu unterstützen, die moralisch oder psychisch nicht in der Lage sind, eine Waffe zu bedienen. Aber es kann doch nicht sein, dass man ein staatliches System mit Sinnlosigkeiten zuschüttet. Wir beschweren uns über zu viel Bürokratismus und fordern zu solchen Handlungen auf? Man kann nur hoffen, dass den Antragstellern Widerspruchsbescheide mit ordentlichen Gebühren erteilt werden, die zur Finanzierung von Kasernen verwendet werden können.

Reinhold Richter, Obertshausen


Wehrpflicht? Ja, aber generationengerecht!

Der Bundestag hat beschlossen: Ab Mitte 2027 soll flächendeckend die sog. Musterung wieder eingeführt werden. Von da an werden die jungen Männer eines Jahrganges mit deutscher Staatsbürgerschaft auf ihre Tauglichkeit zum Wehrdienst geprüft werden. Wer wie ich – Jahrgang 1952- schrecklich-schaurige Erinnerungen an diese Untersuchungen im „Kreiswehrersatzamt Hagen“ hat, dem und allen anderen gelobt die Bundeswehr Besserung: Die Musterung werde in freundlicher und positiver Atmosphäre stattfinden. Alles wie beim Arzttermin. Befragung über Erkrankungen und medizinische Vorgeschichte, es folgen Sehtest, Urintest, Belastungsuntersuchungen, dann ein computergestützter Eignungstest und ein Persönlichkeitstest sowie ein persönliches Gespräch. Alles in allem etwa sechs Stunden. Gemustert werde außerhalb von Kasernen in angemieteten Liegenschaften, die freundlich eingerichtet würden. Allerdings: Auf den eher unbeliebten Hodengriff könne untersuchungstechnisch leider nicht verzichtet werden …. Auch egal! Aber sechs Stunden Untersuchung pro Kopf! Wir waren damals in kaum 15 Minuten durch! Damit sich dieser gigantische infrastrukturelle Aufwand, der sich dann noch Jahr für Jahr wiederholt, auch wirklich lohnt, sollten die erforderlichen Kapazitäten auch effektiv genutzt werden. So wäre es doch ohne größeren Aufwand möglich, nicht nur die jungen Männer eines Jahrganges, sondern gleich auch die Älteren dieser Prozedur zu unterziehen: Sagen wir alle 62- Jährigen mit deutscher Staatsbürgerschaft, ausnahmslos- egal ob Mann oder Frau. Der Augenschein zeigt doch, dass besonders in dieser Altersgruppe viele Menschen („Boomer-Generation“) ihre Zeit topfit in Tennis- und Golfclubs, auf Joggingparcours, auf Segelyachten, auf Kreuzfahrtschiffen und Campingplätzen verbringen. Die flächendeckende Musterung würde dabei nicht nur Auskunft über ihre Wehrtüchtigkeit geben, sondern ebenso deutlich machen, wer wie bisher gewohnt in Rente gehen, oder als „Best-Ager“ ruhig noch ein paar Jährchen länger arbeiten – oder eben „zum Bund“ gehen könnte! Und jetzt mal Hand auf Herz: Würden Sie diesen lebens- und welterfahrenden Menschen nicht eher einen angemessenen Umgang mit der Waffe und ein besonnenes Verhalten bei Feindkontakt zutrauen als den jungen Leuten, die bisher kaum etwas außerhalb der Schule kennengelernt haben? Sollen die doch erstmal in Ruhe ihre Ausbildung oder ihr Studium zu Ende bringen! Das passt es doch, dass sich in Umfragen die jungen Menschen mehrheitlich gegen die Einführung der Wehrpflicht ausgesprochen haben, die ältere Generation jedoch eindeutig dafür! So what?

Klaus Hirschberg, Hagen


Wenn der Strom für die Playstation ausfällt

Zur Zukunfts- und Kriegsangst von Teilen der jungen Generation fällt mir u.a. zu den Anti-Wehrpflicht-Demonstrationen folgendes ein: Erst wenn Drohnen lärmen, der Strom für „Call of Duty“ auf der Playstation ausfällt und im U-Bahn-Schacht kaum Schlafplatz ist, gibt es vielleicht die Einsicht , dass wehrhafte Demokratie nicht mit Friedensfahnen zu verteidigen ist.

Thomas Künzer, Wetzlar


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10 Kommentare zu “Rechte und Pflichten in Zeiten autoritärer Regime

  1. Auf die Frage nach Rechten und Pflichten in Zeiten autoritärer Regime fällt mir nur eine Antwort ein, die für Demokratinnen und Demokraten unabdingbar ist. Es ist das konsequente Einstehen für die liberale Demokratie. Alle anderen Winkelzüge mögen zwar interessant sein, aber wir müssen nach wie vor an der Vision festhalten, eine Welt zu schaffen, in der die liberale Demokratie verwirklicht und als Lebensform anerkannt ist. Jedes Schielen nach anderen Staatsformen verbietet sich, wenn man die Geschichte im Blick hat, aus der wir die Lehren ziehen, dass sie trotz einiger Unzulänglichkeiten die beste Form des organisierten Zusammenlebens ist. Wer mit autoritären oder diktatorischen Regimen liebäugelt, verlässt den Boden menschlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Was wir in den Vereinigten Staaten von Amerika erleben, ist ein katastrophaler Rückschritt in eine autoritäre Ära, der durch Donald Trump personalisiert ist. Ich hatte das Glück in meiner Schulzeit eine demokratische Sozialisation erfahren zu dürfen, die durch die 68er Bewegung geprägt und geschärft wurde. Halten wir also die Fahne der Demokratie in allen Lebensbereichen hoch und vermitteln demokratisches Bewusstsein. Es ist selbstverständlich, dass hierzu auch die Solidarität und der Sozialstaat gehören. Nur durch den Sozialstaat wird die liberale Demokratie verwirklicht. Ja, es ist unser aller Pflicht, kämpferisch für die Demokratie einzutreten. Denn jeder andere Weg führt ins Verderben.

  2. Ich bin 81 Jahre alt und Leutnant der Reserve. Ich habe von 1966 bis 1968 freiwillig meinen Wehrdienst geleistet. In dieser Zeit war die Kuba-Krise (1962) überwunden und es tobte der furchtbare Vietnam-Krieg. Ich war der Auffassung, dass ich im Fall eines Angriffs die Freiheitsrechte, die in unserem Land gegolten haben, verteidigen musste. Die überwiegende Mehrheit der Männer in meinem Alter (plus/minus) waren der gleichen Meinung. Es gab auch Menschen, die den Wehrdienst verweigert haben. Dieses unumstößliche Recht besteht auch noch heute. Damals war aber die Gefahr des Kommunismus latent vorhanden.
    Deshalb war auch der Ausspruch „lieber rot als tot“ in allen Bevölkerungsschichten zu hören.
    Es waren wohl bei vielen Menschen das Erlebnis des 2. Weltkrieges und die Tatsache der militärischen Stärke der westlichen Allianz ursächlich dafür, dass eine kriegerische Auseinandersetzung nicht in Betracht kam. Das hat sich mit dem Ukrainekrieg geändert. Gerade junge Menschen müssen sich sehr wohl überlegen, wie es wäre, wenn sie in einem autokratischen Land wie in Russland oder China leben müssten. Gibt es hier genügend Aufklärung? Vielleicht hat ja der Ausspruch „lieber rot als tot“ wieder Konjunktur?
    Ein No-Go ist allerdings, wenn Herr Rode aussagt, „Menschen werden im Rahmen von Militär ermordet“. Mord ist in unserem Strafrecht ein klar umrissener Tatbestand (§ 211 StGB) und kann mit dem Töten im Verteidigungsfall in keiner Weise verglichen werden. Ich fordere Herr Rode auf, diese Aussage zu widerrufen.
    Ich kann in meinem Alter nicht mehr einberufen werden. Sollte es aber zu einem Verteidigungsfall kommen, werde ich in der Heimat helfen, wo immer es erforderlich sein wird.

  3. Es gibt zwei Gründe für die sich abzeichnende Toleranz für nicht demokratische Regierungen. Die beiden Beiträge vor mir zeigen die klassische Sicht von Bürgern aus den alten Bundesländern auf. In den neuen Bundesländern ist das zumindest zum Teil anders. Ich habe vor Monaten hier mal beschrieben wir ich im Urlaub am Schwarzen Meer die Thomas Cook Insolvent erlebt habe. Spätesten seit damals ist mir klar das viele Bürger im Osten die Vorteile der Demokratie nicht wirklich erlebt haben. Sie leben durchaus auf einem Lebensstandart der mit der DDR Zeit vergleichbar ist hatten aber ganz andere Erwartungen. Deshalb sind sie offen für Parteien die viel Versprechen auch wenn sie nicht demokratisch sind. Das wirkt jetzt auch nach Westen. Die Umverteilung von Unten nach Oben hat ein Maß erreicht die manche nicht mehr hin nehmen wollen und sie ist offensichtlich in einer Demokratie nicht zu stoppen. Zumindest denken das viele. Aber es sind auch hohe Ansprüche die geäußert werden. Mieten sollen nicht so hoch sein, Benzin und Gas billiger und Lebensmittel sowieso. Ich frage mich ob das in einer Marktwirtschaft wirklich komplett Sache des Staates ist? Nach meiner Meinung kann und soll der Staat nur Rahmenbedingungen vor geben. Die müssen dann halt auch funktionieren und da liegt das Problem.

  4. Sehr geehrter Herr Hartwig,
    nicht erst jetzt, sondern seit dem Grundgesetz von 1949 sind in Deutschland alle, „die es direkt betrifft“, gefragt, ob Kriege ohne sie geführt werden müssen. Wenn die Schulstreikenden „Eure Kriege ohne uns“ skandieren, meinen sie unter anderem die völkerrechts- und verfassungswidrigen Angriffskriege wie 1999 gegen Serbien oder danach in Afghanistan, wo die deutsche Sicherheit am Hindukusch präventiv verteidigt werden sollte. Den Streikenden kann man nicht mehr erzählen, sie müssten kriegsfähig werden, um keinen Krieg mehr führen zu müssen. Sie haben im Fach Geschichte lernen können, dass Aufrüstung in zwei Weltkriege geführt hat, dass nach der Kubakrise Abrüstung möglich wurde und Entspannungspolitik Frieden erhielt. Wenn sie nicht nur Mainstreammedien konsumieren, können sie wissen, dass die russischen Truppen in der Ukraine kaum vorankommen, Putin einen Nichtangriffspakt anbietet und schon 2001 eine Sicherheitspartnerschaft mit dem Westen vorschlug unter großem Beifall des deutschen Bundestags. Vom Krieg gegen Russland (Baerbock) sind jetzt schon alle betroffen durch Wirtschaftskrise und Vergeudung von Ressourcen für Rüstung „Einsicht in Notwendiges“, nämlich friedliches Zusammenleben der Völker statt hysterischer Bedrohungslügen, muss bei anderen erzeugt werden.
    Friedrich Gehring, Backnang

  5. Jetzt geht‘s nicht mehr. Das darf doch nicht so weitergehen mit der durchgeknallten MAGA-Präsidentengang, der „gemeinnützigen In-die-eigene-Tasche-Politik“ nebst Profitversprechen für Trump-Familienstiftungsförderer mit den milliardendicken Backen und ihrem „So-tun-als-ob“ ! Siehe das Miami-Projekt. Und das Schlimmste überhaupt: Aus dem von den mit der Macht verkleideten Spielfiguren gehorsam herbeigeredeten Scheitern der Friedensgespräche wird für die beiden Spielleiter auf Kosten der Überfallenen der „größte anzunehmende Profit“ herausgeschlagen. Das Schlachtfeld wird zum Laufsteg für die beiden Kriegsgewinner umgebombt! Die nationalen Grenzen werden zerrieben und die Spielleiter reiben sich die Hände.
    Moral, Mut, Wagnis, Fantasie und Ambiguität sind aus derzeitigem Disput verbannt. Popolisten parfümieren Kloaken. Geistesleere füllt alle Tassen im Schrank. Und wir? Wir leiden. An der erzwungenen (?) Machtlosigkeit und am Herzen. Und finden manchmal doch noch den alten Pfeil.

  6. Die globale Ordnung verändert sich rasant: China, die USA und Russland setzen neue geopolitische und technologische Regeln, während Europa Gefahr läuft, nur noch Zuschauer zu sein. Besonders im Bereich der Künstlichen Intelligenz entstehen derzeit Machtzentren, deren Vorsprung innerhalb weniger Jahre uneinholbar werden kann.
    Deutschland besitzt keine strategischen Rohstoffe, sondern lebt von Wissen, Ingenieurskunst und Exporten. Genau diese Basis ist bedroht, wenn wir den Zugang zu Schlüsseltechnologien verlieren. In einer Welt exponentieller KI-Entwicklung bedeutet technologische Abhängigkeit am Ende auch wirtschaftliche und politische Abhängigkeit.
    Europa braucht deshalb eine klare strategische Entscheidung: eine verbindliche Sicherheits- und Technologiepartnerschaft mit den USA. Washington wird dafür einen Preis verlangen – möglicherweise die verpflichtende Beschaffung amerikanischer Rüstungssysteme. Das mag unbequem sein, wäre aber ein realistischer Weg, dauerhaften Zugang zu entscheidenden Technologien zu sichern. Die Alternative wäre, in den 2030er Jahren wirtschaftlich abgehängt zu sein. Wir müssen diese Debatte jetzt führen – ohne Angst vor unpopulären, aber langfristig notwendigen Entscheidungen.

  7. Der Leitartikel in der Ausgabe vom 9.12. enthält eine perfekte logische Darlegung, dass die einzige Möglichkeit, unsere europäischen Werte zu erhalten, eine massiv verstärkte Zusammenarbeit auf allen Gebieten ist. Durch die offensichtliche Schwäche der Demokratien ist das aber wohl unrealistisch.
    Werte wie Demokratie und Menschenwürde und damit die Grundlage der EU als Organisation sind dem Untergang geweiht. Nicht nur durch die weltweite Verschiebung des politischen Wertesystems, sondern auch durch den Klimawandel, der menschenverachtende Selbstschutz-Maßnahmen erfordern wird, und durch die nächste industrielle Revolution mit künstlicher Intelligenz, die einen Großteil aller Jobs vernichtet und („Broligarchie“ genannt) alle Macht in die Hände von internationalen Unternehmen spült. Die Frage ist nicht mehr, ob eine dieser Entwicklungen in den Untergang führt, sondern nur noch, welche zuerst greift. Nur ein unerwarteter disruptiver weltweiter Wandel könnte noch helfen.

  8. Rutkowski erfreut sich am Bundeswehrbrief an potentiell Wehrfähige des Jahrgangs 2008. 
    Ich habe einen Augenblick gebraucht, um zu orten, was mir am Titelkommentar Rutkowskis aufstößt. Rutkowski ruft zum Respekt vor den Entscheidungen junger Menschen auf – wie auch immer sie ausfallen. Dem ist nichts entgegenzusetzen, inklusive dem Recht auf Irrtum. Mein Unbehagen hängt sich an zwei Nebensätzen auf. Nach Rutkowski wird der Wehrdienst zum Kriegsdienst, „wenn Putin es will“. Und er setzt die Bundeswehr mit der Bergrettung gleich, beide „stehen mit dem eigenen Leben für das anderer ein“. Um es voraus zu schicken: Für mich ist das Anzetteln eines Krieges eines der größten vorstellbaren Verbrechen. Das gilt selbstredend auch für Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Dieser Angriff  gab den schon laufenden militärischen Aktivitäten eine neues, bestürzendes, grausames Ausmaß. Etwas anderes suggeriert Rutkowski. Er sieht einzig Putin in der Verantwortung für einen zukünftigen Krieg. Das verlängert die bisherige Haltung, Putin allein verantwortlich zu machen für die Eskalation des geostrategischen Machtkampfes um den entscheidenden Einfluss in der Ukraine. Selbst Amanda Sloat, Ex-Europa-Beraterin von Ex-Präsident Biden, räumt mittlerweile ein, dass ein Verzicht auf die NATO Perspektive für die Ukraine womöglich den Krieg hätte verhindern oder im Umfeld der Istanbuler Friedensgespräche im März 2022 früher hätte beenden können. Hierzulande gilt man wegen solcher Positionen noch als Russland Troll.
    Die Gleichsetzung von Bergwacht und Bundeswehr ist für mich als Kriegsdienstverweigerer abstrus. Werde ich doch im Krieg gegebenenfalls gezwungen, mir völlig fremde Menschen zu ermorden, zu verstümmeln, ihre Lebensgrundlage zu vernichten und dafür mein Leben einzusetzen. Schon als 18-jähriger war ich empört über die Heuchelei, dass alle, alle vorgeben, nur verteidigen zu wollen. Rutkowskis Tunnelblick ermöglicht es, die Fortführung eines Krieges zu rechtfertigen und den forcierten Aufbau der militärischen Gewaltmaschinerie mit explosivem Eskalationsrisiko als (Rettungs-) Dienst am Menschen zu prämieren. Der Irrsinn der Kriegstüchtigkeit ist nun Normalität geworden.

  9. @ Joachim Reinhardt

    „Selbst Amanda Sloat, Ex-Europa-Beraterin von Ex-Präsident Biden, räumt mittlerweile ein, dass ein Verzicht auf die NATO Perspektive für die Ukraine womöglich den Krieg hätte verhindern (…) können.“

    Dann ist Frau Sloat schlecht informiert, denn es hat keine NATO-Perspektive für die Ukraine gegeben. Die Ukraine hätte das vielleicht gern so gehabt, um vor Russland in Sicherheit zu sein. Was es gegeben hat, war eine Annäherung auf dem Weg zur euro-atlantischen Integration, wie es so schön heißt, aber schon vor 2106 hatten die USA zusammen mit Deutschland unter dem Eindruck der Krimkrise und der Minsker Verhandlungen festgelegt, dass kein Land in die NATO aufgenommen werden wird, das in einem militärischen Konflikt steckt, denn die NATO wollte nicht in einen Krieg hineingezogen werden. Gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine hat schon damals außerdem gesprochen, dass die Ukraine zahlreiche andere Kriterien nicht erfüllt hat (Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Umgang mit der russischen Minderheit usw.).
    Mit anderen Worten: Die Sache mit der NATO-Mitgliedschaft ist ein Popanz, der von der russischen Propaganda aufgebaut worden ist. Leider gibt es hierzulande zahlreiche Menschen, die diesen Quatsch glauben. Da darf man wohl eine gehörige Portion Antiamerikanismus im Hintergrund vermuten.
    Umgekehrt wird nämlich ein Schuh draus: Wäre die Ukraine NATO-Mitglied geworden, hätte Russland sich wohl kaum getraut, das Land anzugreifen. Wie sich zeigt, hatte die Ukraine gute Gründe, dem russischen Nachbarn zu misstrauen. Das gilt übrigens auch für viele andere Länder, die schnellstmöglich in die NATO gestrebt haben, auch für einige, die jetzt noch draußen vor der Tür der NATO warten, aber nicht eingelassen werden, weil sie ebenfalls einen eingefrorenen Konflikt mit Russland auf ihrem Territorium haben (z.B. Moldau). So sichert Putin also die Sphäre seines Einflusses. Kein Wunder, dass praktisch niemand dieses Russland mag. Aber hierzulande versuchen sich die vielen Vertreter der russischen Propaganda in einer Spielart der Täter-Opfer-Umkehr. Das mit dem Russlandtroll hat also eine gewisse Berechtigung.

  10. @ Stefan Briem
    Amanda Sloat war immerhin die Beraterin Bidens für die strategischen Belange der USA im eurasischen Raum. Biden wiederum hat einen harten Kurs gegen Russland gefahren. Eine solche Äußerung einer solchen Insiderin im Kern der US-Macht zur Zeit dieses US-Kurses würde ich als normaler Nachrichtenkonsument, der ich bin (und der Sie sicher auch sind) nicht einfach als Quatsch abtun.
    Mit Sicherheit wird Amanda Sloat auch nicht dem Antiamerikanismus huldigen. Ich übrigens auch nicht, so wenig wie ich eine Täter-Opfer Umkehr betreibe. Allerdings habe ich auch in diesem Konflikt kein Gut-Böse-Schema im Kopf. Aber jeder, jede, die von der West Propaganda abweicht, wird unterstellt, der russischen Propaganda zu folgen. Das ist ein „Totschläger“. Ihr Abriss ist selektiv und verzerrt die Geschichte.

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