Das neoliberale Credo lautet: Der Staat soll sich raushalten, die Märkte regulieren sich selbst. Paradebeispiel für eine Wirtschaftspolitik nach diesem Motto ist unser kleiner, feiner Nachbar im Westen, das Großherzogtum Luxemburg. Dessen frühere Regierung hat multinationale Konzerne gelockt, im Land ansässig zu werden, und erhebt, so könnte man ganz leicht zugespitzt formulieren, als Belohnung für diese Gnade allenfalls Feigenblattsteuern. Die Höhe von Steuern ist immer ein direkter Indikator dafür, wie ernst ein Staat es mit dem neoliberalen Credo meint. Abwesenheit von Steuern ist ganz besonders neoliberal, denn das bedeutet, dass der Staat sich völlig raushält aus den Konzernbelangen.
Amazon und Google, Ikea und Apple — die Liste der Unternehmen, die von dieser Politik profitierten, ist lang. Die Deutsche Bank etwa ist in Luxemburg mit Fondsgesellschaften ansässig, die Geschäfte in ganz Europa machen, ohne dass dabei nennenswerte Steuern anfallen. Gewinne, die außerhalb Luxemburgs gemacht werden, werden also nach Luxemburg verlagert. Um das hinzukriegen, entwickelten Unternehmensberatungsgesellschaften wie PricewaterhouseCoopers kreative Modelle, die im Kern (Wikipedia zufolge) so funktionierten: Ein Konzern gibt seiner Luxemburger Niederlassung Kapital. Diese macht eine Kapitaleinlage in eine Tochtergesellschaft in Luxemburg, die Tochtergesellschaft verleiht das Geld an eine Konzerntochter z.B. in den USA, Deutschland etc. und erhält dafür in großem Umfang Kreditzinsen, die zu Luxemburger Niedrigsätzen versteuert werden. Oder: Die Luxemburger Konzernzentrale vergibt Lizenzen an Tochterunternehmen, für die Lizenzgebühren fällig werden, die in Luxemburg versteuert werden.
Da waren also kreative Köpfe am Werk. Nicht nur im Fall Luxemburg übrigens. Auch Irland und die Niederlande verfolgen anscheinend eine ähnliche Politik. Alles legal, jedenfalls nach Luxemburger Recht. So kommt es, dass ein Konzern wie Apple für den Umsatz, der außerhalb der USA gemacht wurde (im Jahr 2011 waren das immerhin 37 Milliarden US-Dollar, etwa ein Viertel des Gesamtumsatzes), nur rund zwei Prozent Steuern zahlte (Quelle: giga.de). Findet das irgendjemand gerecht?
Da die Luxemburger Behörden mitspielten, liegt der Verdacht nahe, dass auch die Entscheider auf der politischen Ebene von diesen Vorgängen zumindest gewusst haben müssen. Langjähriger Regierungschef und zwischendurch auch Finanzminister war der jetzige Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker, der sich kürzlich einem Sonderkomitee des EU-Parlaments stellen musste. Die Anhörung lief recht gut für ihn ab, da es kaum kritische Fragen gab: „Ich habe in Luxemburg kein System der Steuerhinterziehung, der Steuerhintertreibung oder der Steuervermeidung zu Lasten anderer europäischer Staaten erfunden.“ Die Steuerverwaltung habe geltendes Recht angewendet; die Regierung habe darauf keinen Einfluss gehabt. „Luxemburg ist ein Rechtsstaat“, sagte Juncker. „Ich habe mich mit der Commerzbank nie über die Gestaltung ihrer Steuerlast unterhalten.“ (Zitate nach einem FR-Bericht, wonach Juncker die Steuerschlupflöcher nun schließen lassen will: „Wir leben im Dschungel. Wir müssen für mehr Transparenz sorgen.“)
Tatsache ist, dass die Steuerbehörden solche Vereinbarungen in 548 Fällen, Laufzeit je fünf Jahre, genehmigt haben. Das belegen Dokumente verschiedener Unternehmensberatungsgesellschaften, die den Medien und dem Recherchenetzwerk „International Consortium for Investigative Journalism“ von Whistleblowern zugespielt wurden. Der prominenteste dieser Whistleblower ist der Franzose Antoine Deltour, nach dem gefahndet wird. Ihm drohen nach luxemburgischen Recht bis zu zehn Jahre Haft wegen „schwerwiegender Verletzung von Geschäftsgeheimnissen“. Das EU-Parlament hat ihn im Juni mit dem Europäischen Bürgerpreis ausgezeichnet.
„Ich habe in Luxemburg kein System der (…) Steuervermeidung zu Lasten anderer europäischer Staaten erfunden“, hat Juncker also gesagt. Erfunden! Nein, das hat er sicher nicht, denn das waren, wie gesagt, wohl die Unternehmensberater. Juncker hat dieses System aber gefördert oder zumindest geduldet — denn dass die betroffenen Konzerne mit Luxemburgs Hilfe in anderen europäischen Staaten Steuern vermeiden konnten, steht außer Frage. Nur darum haben sich die Konzerne ja in Luxemburg angesiedelt. Andere Standortvorteile werden in dem kleinen Land nur mit der Lupe zu finden sein.
Der Staat soll sich raushalten, so das neoliberale Credo. Wie man sieht, kann sich der Staat auf sehr aktive Weise raushalten.
Thomas Ewald-Wehner aus Nidderau meint:
„Luxemburg ist ein kleines EU-Land, dessen Staatsvolk gerade einmal rund 540 000 Menschen (und damit lange nicht an die Bevölkerungszahl der Stadt Frankfurt am Main heranreicht) zählt und flächenmäßig nicht viel größer ist als das Saarland. Dass dieses Land eine skandalöse Steuerpolitik betrieben hat, ist kaum leugbar. Dass sich ausgerechnet Jean-Claude Juncker als langjähriger Finanzminister Luxemburgs aus der Affäre ziehen möchte, ist ein starker Hammer.
Dass sich Großkonzerne mit kleinsten Steuerzahlungen z.B. an Luxemburg ihrer Steuerzahlungspflichten entledigten, ging und geht nur mit Duldung z.B. auch der deutschen Steuerbehörden, die die von den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Price Waterhouse Coopers, KPMG, Ernst & Young, Deloitte) beratenen „legalen“ Steuervermeidungsmodelle zähneknirschend akzeptieren. Die praktizierten Gewinnverlagerungen großbetrieblicher Einheiten in Niedrigststeuerländer muss durch den (deutschen und EU-) Gesetzgeber „getötet“ werden. Die großen betrieblichen Einheiten sind – wie alle anderen (deutschen Steuerpflichtigen auch – entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern.
Wir brauchen deshalb darüber mehr Publizität. So ist z.B. meines Erachtens das Steuergeheimnis für Großbetriebe abzuschaffen. Sie müssen in ihren Abschlüssen offen ausweisen, welche Ertragsteuern sie an welche Länder in welcher Höhe gezahlt haben. Die Gewinnverlagerung in andere Länder ist durch eine einheitliche EU-Körperschaft-Besteuerungsbemessungsgrundlage, die z.B. nach den in den Nationalstaaten gezahlten Löhnen aufzuteilen ist, zur Verhinderung von „Steueroptimierungen“ zu schaffen. Internationale (deutsche) Steuerfahnder mit soliden Zivil- und Steuerrechtskenntnissen sind verstärkt auszubilden und einzusetzen, um den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Paroli zu bieten. Und natürlich ist in Zeiten verstärkter Digitalisierung mit verstärktem IT-Technikeinsatz den „Steueroptimierern“ auf die Pelle zu rücken.
Leider hat der „Schurke“ Juncker recht, dass noch jedes EU-Land sich Niedrigst- oder Nullbesteuerung bei großen betrieblichen Einheiten leistet. Diese Praxis ist schonungslos aufzuhellen und zu beseitigen. In Deutschland werden über 8 b – Körperschaftsteuer-Gesetz z.B. der gewinnbringende Verkauf von strategischen Beteiligungen und die Erträge aus einer solche seit 1999 nicht besteuert. – Die bisherige Besteuerung von Großbetrieben und Großbanken untergräbt die Substanz der EU-Sozialstaaten und kann nicht mehr geduldet werden. Eine „normale“ Besteuerung der Konzerne würde jede Diskussion über die Finanzierung der Flüchtlings-Folgen komplett überflüssig machen.“
Robert Maxeiner aus Frankfurt:
„Dieser Jean-Claude Junker ist ein ganz Schlauer, ein wahrer Meisterdieb wie Bilbo (in den luxemburgischen) Beutlin. Er hat die EU-Staaten so geschickt begaunert, dass ihm noch nicht einmal ein Gesetzesverstoß nachzuweisen ist. Damit hat er sich hervorragend für das Amt des EU-Komissionspräsidenten profiliert. So einen wollten sie haben, allen
voran unsere Kanzlerin.
Leider sind seine üblen Machenschaften aufgeflogen. Aber er hat ja die schlauste aller Ausreden: Die Anderen haben ja auch… Sind wir nicht Alle in die Schule gegangen und haben solche faulen Ausreden gebraucht? Haben wir nicht schon mal Steuerschlupflöcher gefunden? Der Meisterdieb praktiziert dies natürlich in ganz großem Stil, sonst wäre er nicht der Meisterdieb. Nein, der lügt auch nicht, denn wo er steht, wird die Wahrheit produziert.
Deshalb ist ihm die Rolle des Komissionspräsidenten, bei Hollywoodstars würde man sagen auf den Leib geschrieben. Er muss ein Schauspieler sein, sonst würde er diese dauernden Positionswechsel gar nicht aushalten und von einer in die nächste Identitätskrise taumeln. Oder er gehört zu den vom Kapitalismus geformten (Un-)Wesen, denen es völlig gleichgültig ist, welche Meinung sie vertreten, Hauptsache die Kasse stimmt. Und so einer läßt sich im Zweifelsfall leicht austauschen. Da braucht sich Frau Merkel nicht mal die Hände schmutzig machen, wie bei Anderen vorher auch.“
Natürlich ist es Juncker nicht allein, gerade hier in Deutschland versucht besonders Bayern, Firmen dadurch anzulocken, dass die Steuerprüfung oder gar -fahndung sehr lasch oder überhaupt keine Anwendung findet.
Auch denke man an die hessischen Steuerfahnder, die auf Weisung von oben in den Krankenstand geschickt wurden, weil sie ihrer beruflichen Pflicht nachgekommen sind, aber die zu prüfenden Firmen von Koch u.a. – aus welchen Gründen auch immer – von ihrer Steuerpflicht ausgenommen werden sollten.
In gleicher Weise verdeutlicht die kürzlich in der FR veröffentlichte Problematik der Handhabung der Abgabenordnung, wie beispielsweise einerseits Organisationen wie attac die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, während andererseits riesige Konzernstiftungen, die maßgeblich an der neoliberalen Meinungsbildung beteiligt sind, sich gemeinnützig nennen dürfen und somit von der Steuerpflicht befreit sind.
Mein Leserbrief vom 13.09.2015 – bisher unveröffentlicht – beschäftigt sich mit diesem Thema.
Könnte das daran liegen das die meisten Wähler immer die gleiche Partei wählen egal was sie macht? Ist D. eigentlich Demokratie fähig weil so ändert sich nie was?