„Amerika tötet sich selbst“, titelte die Franfurter Rundschau am 4. Oktober. Am Abend des 1. Oktober hatte sich eines dieser Ereignisse begeben, die mich immer wieder sprachlos machen: Ein Mensch hat Menschen umgebracht. Viele Menschen. 58 an der Zahl – und sich selbst hat er ebenfalls umgebracht, als die Polizei sein Zimmer stürmte. 489 Menschen hat dieser Mensch verletzt. Er hat ein Massaker angerichtet, indem er in Las Vegas aus zwei Zimmern eines Hotels heraus über mehrere hundert Meter Distanz auf die Besucher eines Country-Konzerts schoss. Für ihn mögen diese fernen Opfer seiner Schießwut gesichtslose Ziele gewesen sein, was die Barbarei dieses Massakers vielleicht zum Teil erklären könnte. Der Massenmörder soll ein freundlicher, unauffälliger Typ gewesen sein, ein Rentner, über dessen Motive die Polizei noch rätselt. Ein Amoklauf war es jedenfalls nicht, denn der Mörder hatte über Tage hinweg Massen von Waffen in seine Hotelsuite gebracht. Vielleicht wollte er wirklich einfach nur in die Schlagzeilen, wie in einem der Leserbriefe unten vermutet wird? Als der Mann, der den schlimmsten Massenmord in der US-Geschichte verübt hat? Hier eine Zusammenfassung der Geschehnisse.
Sprachlos, fassungslos, immer wieder. Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Typen produziert? Und warum ist niemand misstrauisch geworden? In den USA scheint die Atomisierung zwischenmenschlicher Verhältnisse so weit gediehen zu sein, dass selbst die Freundin – also jener Mensch, der dem Attentäter am nächsten stand – nichts von seinen üblen Absichten gemerkt haben will. Leserbriefautor Hartwig Cordts hat kürzlich in einem anderen Zusammenhang Karl Marx zitiert, aber vielleicht treffen diese Wort ja auch hier den Kern. Karl Marx habe, schrieb Herr Cordts, die gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen Entwicklung einmal so beschrieben: „Sie habe alle persönlichen Beziehungen zerstört und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. (Sie habe) die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an (ihre) Stelle die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.“
Unfassbarer Gedanke: Dieser Massenmord wird nicht der letzte bleiben. Andere Typen, Produkte einer kranken Gesellschaft, werden sich herausgefordert fühlen, den Massenmörder von Las Vegas zu übertreffen, denn ich glaube nicht, dass die USA aus dieser Katastrophe Konsequenzen ziehen werden. Präsident Trump ist zu eng mit der Lobby der Waffennarren liiert, der NRA. Wir werden wieder Worte lesen wie sprachlos, fassungslos, immer wieder. Es wird immer schlimmer, und niemand tut etwas.
Leserbriefe
Martin Hallinger aus Kelkheim meint:
„Aufgrund langjähriger Beobachtung und zahlreicher Reisen weiß ich, dass viele US-Amerikaner einige Dinge, die hier bei uns als zu bekämpfendes (vermutlich lösbares) Problem gesehen werden, als gottgegeben hinnehmen. Da wird nichts hinterfragt, da wird nichts unternommen. Das gilt u.a. für Klimakatastrophen, antiquierte und ungerechte Wahlsysteme, und eben auch für den Umstand, dass regelmäßig Menschen durch Waffengewalt ums Leben kommen. Nach einem „oh my god“ geht das Leben unverändert weiter. Die Leute wollen das so und würden jedes Rütteln an den bestehenden laxen Waffengesetzen als Angriff auf ihre persönliche Freiheit empfinden. Ich warte schon darauf, dass die NRA verkündet, dass das Unglück vermutlich weniger tragisch verlaufen wäre, wenn alle Konzertbesucher bewaffnet gewesen wären. Denen kann man nicht helfen.“
Lea Wagner aus Breidenbach:
„Am 2. Oktober ereignete sich das Undenkbare in Las Vegas. Bei einem Musikfestival kommen 59 Menschen um, 527 weitere wurden verletzt. Dies ist somit die tödlichste Massenschießerei in der Geschichte des modernen Amerikas. Noch vor wenigen Tagen wurde dieser „Rekord“ von der Schießerei in Orlando im Jahr 2016 gehalten, der 49 Leben forderte.
Der Schmerz, der davon ausgelöst wird, ist undenkbar, denn nie sind nur die verstorbenen betroffen, sondern ebenso die Eltern, die ihre Kinder verloren, oder die Lebensgefährten, die ihren Partner verloren. Dutzende müssen für den Rest ihres Lebens mit diesem Schmerz leben. Wieso?
Der islamische Staat beanspruchte die Tat für sich. Natürlich tat er das. Angst ist der Treibstoff des IS. Mit jedem Anschlag wird die Flamme der Angst vor dem islamischen Staat neu entfacht, doch wie viele dieser Taten tatsächlich das Werk des IS sind, ist unklar.
Der 64-jährige Täter, Stephen Paddock, pflegte keinerlei Verbindungen zu terroristischen Organisationen, was einen bestehenden Zusammenhang unwahrscheinlich macht. Was also trieb den Mann zu einer derart grauenhaften Tat? Es ist wohl naheliegend, dass er unter unentdeckten Geisteskrankheiten litt. Verschiedene Vorgänge in seinem Verstand könnten ihn zu dem getrieben haben, was er an diesem Tag tat, doch eins ist klar: Nur weil jemand nicht so scheint, als sei er geistig krank, heißt es noch lange nicht, dass dem nicht so ist. Der menschliche Verstand birgt noch immer viele Rätsel, und unzählige Menschen können eine Fassade aufrechterhalten, die jemanden zeigt, der ein normaler Durchschnittsbürger ist, während sich im inneren der blanke Wahnsinn anbahnt.
Das lockere Waffengesetz in Amerika ist mit Sicherheit ein hoher Risikofaktor, der bisher 406 496 Amerikanern (Quelle: CNN mit Daten des Centers for Disease Control and Prevention) das Leben kostete, und wer weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist.
Doch was in den Köpfen der Menschen vorgeht, stellt mit Sicherheit eine ebenso große Gefahr dar, und die Tatsache, dass das Thema Geisteskrankheit noch häufig totgeschwiegen oder gar verleugnet wird, trägt garantiert nichts Gutes dazu bei.“
Jürgen Malyssek aus Wiesbaden:
„Die USA ist ein Fall für die Psychopathologie. Die wahnwitzigen Waffengesetze. Ein Freiheitsglaube, der sich nur noch auf die Weite des Landes beziehen kann. Ein Präsident (dieses Mal mit frommen Sprüchen), der seiner Nation noch den Rest gibt. Aktienkurse von den Waffenherstellern, die in die Höhe schnellen. Vielleicht ein x-tes Aufflackern der Waffendebatte, Fahnen auf Halbmast. Danach wird sich wieder nichts ändern.
„Amerika tötet sich selbst“ – treffender kann man das Massaker von Las Vegas nicht betiteln. Wenn ich dann noch lese, dass die USA mehr Waffen als Einwohner hat, sagt das alles über den Krankheitszustand dieses Staates aus. Militärisch zwar eine Weltmacht, aber ansonsten geistig und moralisch uns nichts mehr zu sagen hat. Da geraten die Motive der einzelnen Amokläufer und Attentäter in den Hintergrund. Bleiben sie letztlich menschlich unergründlich.“
Fritz Brehm aus Frankfurt:
„Auch nach dem neusten Massaker in Las Vegas ist leider eher nicht damit zu rechnen, dass die Waffengesetze in den USA verschärft werden – obwohl vorsichtige Schätzungen von jährlich 12 000 Tötungsdelikten durch Schusswaffen sprechen. Da wäre es doch an der Zeit, dass das Auswärtige Amt, das vor Reisen in 25 Länder warnt, jetzt auch eine Reisewarnung für die USA ausspricht. Traut sich das Auswärtige Amt?“
Berthold Theelen aus Köln:
„Ein Aspekt der Motivation derartiger Attentaeter ist mit Sicherheit der Wunsch, auf diese Weise in die Geschichte einzugehen (z.B. erklärterweise John Lennon Attentaeter Chapman). Eine wünschenswerte Maßnahme wäre, die Namen der jeweiligen Täter nicht zu veröffentlichen. Dazu bedürfte es allerdings eines weltweiten Eingriffs in die Pressefreiheit, da sich ein freiwilliger weltweiter Verzicht wohl schwer verwirklichen laesst. Es müsste ebenso zum Tabu werden wie Kinderpornografie die Namen derartiger Taeter zu veröffentlichen.“
Den Kommentar von Jürgen Malyssek kann ich uneingeschränkt unterschreiben, Amerika bzw.die USA, angefangen beim Präsidenten, tötet sich in der Tat selbst.
Und bei uns will die AfD ebenfalls das Recht auf Waffenbesitz für alle: damit Gauland und Höcke wohl alle Ausländer abknallen können?
Wohin kann man in einem solchen Fall auswandern?
@ Peter Boettel
Ich warne ja weiterhin vor der AfD als Heißmacher. Denen da gehen die Kandidaten/innen so schnell nicht aus.
Zum Auswandern würde ich die Republik Irland und Schottland empfehlen.
„Die USA ist ein Fall für die Psychopathologie.“ (Jürgen Malyssek)
Auch ich stimme den vorstehenden Einschätzungen ingesamt zu.
Ein psychologischer Ansatz wie der von Jürgen Malyssek ist zunächst sicher problematisch. Bezieht sich doch die Psychoanalyse auf Individuen. Massenerscheinungen (wie etwa Massenhysterie) sind aber geprägt von einer Summe gleichartig „fühlender“ und sich äußernder Individuen. Insofern ist auch ein Ansatz wie der von Wilhelm Reich („Massenpsychologie des Faschismus“) sinnvoll und auch übertragbar.
Ich würde allerdings im Ansatz von Jürgen Malyssek „die USA“ durch „Waffennarren der USA“ ersetzen. Es gibt in diesem riesigen Land ja auch noch andere Menschen.
Unter dieser Voraussetzung erscheint mir folgender Versuch einer Analyse sinnvoll:
Der geballte Hass (wohl auch Selbsthass) des Attentäters erscheint nur als die Spitze des Eisbergs, der ein „kollektives Gefühl“ dieses Landes zu kennzeichnen scheint:
Unter einer pseudodemokratischen Oberfläche, geprägt von Illiberalität, Arroganz, Weigerung der Auseinandersetzung mit eigener Geschichte und eigenen Verbrechen (z.B. Massaker an Indianern), verkleistert von religiös-fundamentalistischer Selbstbeweihräucherung und aufgesetztem, gefühlsduseligem Nationalismus, manifestiert sich in diesem Waffenwahn ein tiefsitzendes, irrationales Bedürfnis nach Befriedigung eines Allmachtgefühls, das sich regelmäßig in Hassorgien Bahn bricht, sei des rassistischer Natur, sei es in Form von Amokläufen immer größeren Ausmaßes. Das dabei zugleich seine destruktive und selbstmörderische Seite offenbart.
In Anwendung eines studentischen Spruchs nach dem Dutschke-Attentat könnte man verkürzt zusammenfassen: „Alle Waffennarren haben hier mit geschossen.“ Zuförderst natürlich die skrupellosen Geschäftemacher der NRI, die buchstäblich über Leichen gehen, und die sie stützenden Politiker. Entsprechend sind die danach veranstalteten Trauerkundgebungen, eingehüllt in nationalistische Phrasen, geprägt von unerträglicher Heuchelei. Lassen sie doch nicht den Hauch einer Selbsterkenntnis, eines In-sich-Gehens erkennen.
Es fällt angesichts dessen fast schwer, sich einer heimlichen Genugtuung zu enthalten, dass dieser Wahn sich auch gegen sich selbst richtet. Natürlich ist dies falsch und unter moralischen Gesichtspunkten inakzeptabel. Denn auch hier sterben Unschuldige.
Auf politischer Ebene aber bleibt wohl die Erkenntnis: Wenn eine solche Gesellschaft nicht einmal dann zur Besinnung kommt, wenn ihre mörderisch-kriminelle Energie Massaker unter der eigenen Bevölkerung anrichtet, dann ist sie wohl nicht mehr zu retten.
Für Außenstehende wie uns bleibt dann noch die Frage, wie weit es politisch wie moralisch noch vertretbar ist, sich von den Vertretern dieser Weltmacht, die weitgehend von zerstörerischen und selbstzerstörerischen Tendenzen geprägt ist, „schützen“ zu lassen.
@ Werner Engelmann
Sicher ist die weitere Differenzierung meiner „Fallanalyse“ für die USA gerechtfertigt. Dennoch können die psychoanalytischen Ansätze bis zu einem gewissen Grad auch auf eine Gesellschaft übertragen werden, sowie wie wir auch etwa die Angst des Individuums bei einer bestimmten Entwicklung in der Masse auch dort festmachen können (Soziologe Heinz Bude). Etwa auch der Ansatz des Psychogramms (so Hans-Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft.
Ich will das hier nicht überstrapazieren, aber es gab in der 1970ern durchaus ähnliche Ansätze psychoanalytischer Untersuchungen auf der Grundlage sozialer und politischer Verhältnisse, die zu kritischer Durchleuchtung von Gesellschaft(en) führten (etwa Paul Parin und Fritz Morgenthaler). Im Grunde hat Pierre Bourdieu (Mechanismen der Macht) auch nicht viel anders geforscht und gearbeitet.
Ich gehe mit meiner Behauptung schon über die „Waffennarren der USA“ (Engelmann) hinaus, aber kann diesen Ansatz auch akzeptieren.
Die USA ist auch ein riesiges Sammelbecken der unterschiedlichsten Religionsrichtungen und Sektengruppierungen, gewaltorientierten, rassistischen Syndikaten (Ku-Klux-Klan …). Also, da kommt einiges zusammen.
Man muss kein Psychoanalytiker und Volkskundler sein, um diesem Amerika nicht einen kollektiven Krankheitszustand zu attestieren.
„Unter einer pseudodemokratischen Oberfläche, geprägt von Illiberalität, Arroganz, Weigerung der Auseinandersetzung mit eigener Geschichte und eigenen Verbrechen […] manifestiert sich in diesem Waffenwahn ein tiefsitzendes, irrationales Bedürfnis nach Befriedigung eines Allmachtsgefühls, das sich regelmäßig in Hassorgien Bahn bricht,[…] dabei zugleich seine destruktive und selbsmörderische Seite offenbart.“ – Einverstanden!
Das mit der „Weltmacht USA“, verdiente mal eine besondere Untersuchung und ernsthaft konstatierte Entmythologisierung.
78% der US-Amerikaner besitzen keine Schusswaffen (Quelle: SZ).
Man sollte mit Verallgemeinerungen vorsichtig sein und die starken demokratischen Kräfte in den USA nicht vergessen. Immerhin hatten die linken Studentenproteste, die später um die Welt gingen, ihren Ursprung 1964 an der Universität von Berkeley in Kalifornien. Auch das ist Amerika.
Fassen wir uns mal an die eigene Nase.
Die Amerikaner haben eine starke Waffenlobby,
wir haben auch eine starke Lobby, nämlich unsere Autolobby. Die vielen Toten die in Amerika durch Waffen sterben müssen schaffen wir locker durch unsere Raserei auf unseren Straßen. Wenn ein Amerikaner das erste mal auf unseren Autobahnen unterwegs ist bekommt er Angst und sagt in Deutschland fahren nur Verrückte. Wie lange wird es bei uns noch dauern bis wir ein Tempolimit wie überall in der Welt bekommen?
@ G. Krause
Ihre Berechnung stimmt nicht. In den USA lag die Zahl der Verkehrstoten 2016 bei 11,4 pro 100 000 Einwohnern, in Deutschland bei 4,7. Die meisten tödlichen Unfälle passieren bei uns auf Landstraßen, wo es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gib, nur 12 % der Verkehrstoten sterben bei Unfällen auf Autobahnen. Trotzdem bin auch ich für eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung, weil die Raserei die deutschen Autobahnen zu sehr unwirtlichen Orten macht.
zu @ G. Krause
Das kann ich nur bestätigen. Meine Tochter war auf Schüleraustausch in den USA. Beim Gegenbesuch hatte ich die Ehre, nahezu täglich , eine Mutter ca 30 km über die A3 zu bringen. Die arme Frau ist fast gestorben vor Angst obwohl ich mich an der Raserei bewusst nicht beteiligt habe. Wenn man bei uns aber noch Waffen zulassen würde hätte sich das in wenigen Monaten erledigt.(Achtung Ironie)