So viele Leichen in so vielen Kellern

Erst bestritt die saudische Regierung wochenlang jede Kenntnis von der Tötung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Dann räumte sie seinen Tod ein. Die offizielle Darstellung aus Riad lautet, er sei im Zuge eines aus dem Ruder gelaufenen Streits getötet worden. Niemand glaubte das. Ein Unfall? Als Folge einer Schlägerei? Wo ist seine Leiche? Sie sei in einen Teppich gerollt und aus dem Konsulat getragen worden. Es gibt auch noch ganz andere Versionen dessen, was passiert sein soll, die ich Ihnen aber ersparen möchte. Ermittler fanden heraus, dass an diesem Tag ein mehrköpfiges Team aus Riad eintraf, das nach Khashoggi das Konsulat betrat. Einer dieser Männer soll vom Telefon des Generalkonsuls mit dem Büroleiter des saudischen Thronfolgers bin Salman telefoniert haben – einer von mehreren Hinweisen darauf, dass der starke Mann Saudi-Arabiens in diese unfassbare Geschichte verwickelt sein könnte. Aber Vorsicht: Diese Hinweise stammen von den türkischen Ermittlern, teilweise auch vom türkischen Präsidenten Erdogan selbst, der noch eine ganze Reihe von Hühnchen mit den Saudis zu rupfen hat.

Khashoggi lebte seit Sommer 2017 in den USA im Exil. Er schrieb unter anderem für die Washington Post und war ein gefragter Experte, wenn es um Saudi-Arabien ging. Ihn als Dorn im Auge des Kronprinzen zu bezeichnen, dürfte untertrieben sein. Der Mord stellt nun zunächst das Verhältnis der USA zu Saudi-Arabien auf eine schwere Probe, ebenso aber auch das des ganzen Westens zum erzkonservativen Königreich, das nicht zuletzt als Exporteur eines fundamentalistischen Islam betätigt. Dieses Verhältnis war schon immer von Doppelmoral geprägt.

Aus geostrategischen Gründen benötigen die USA ein gutes Verhältnis zu den Saudis, denn ohne die vielen Militärbasen des amerikanischen Militärs in dem riesigen Wüstenkönigreich wären die Machtverhältnisse am Golf von Persien völlig andere. Zudem geht es natürlich ums Öl und um Waffenexporte, die von den Saudis bewusst als Mittel der Außenpolitik eingesetzt werden. Insbesondere US-Präsident Donald Trump hatte sich wohl noch weit mehr solcher Exporte ausgemalt. Aber auch die Bundesrepublik Deutschland ist nicht schlecht im Geschäft mit den Saudis. Zahlungskräftigen Geschäftspartnern sagt man natürlich nicht unverblümt die Meinung oder hält sie zur Beachtung von Menschenrechtsstandards an, weder im persönlichen Gespräch noch in offiziellen Verurteilungen. Man verurteilt nicht einmal den entsetzlichen Krieg im Jemen, in dem die saudische Regierung die Bevölkerung gewissermaßen in Geiselhaft nimmt, indem sie Versorgungslieferungen unterbindet. Dort sind derzeit mehr als eine Million Menschen an Cholera erkrankt, es droht über die bereits jetzt dramatischen Zustände hinaus eine Hungersnot, die Millionen von Menschen betreffen wird. Er ist die humanitäre Katastrophe unserer Zeit. Doch der Westen nimmt gleich mehrere Blätter vor den Mund.

Auch die offiziellen Reaktionen auf den Fall Khashoggi waren zunächst erbärmlich, etwa wenn man sie mit dem Fall Skripal vergleicht. Aber dort ging es ja auch gegen Russland, immer noch ein gepflegtes Feindbild des Westens, und nicht gegen saudische Verbündete. „Sigmar Gabriel hat es als deutscher Außenminister vor einem Jahr einmal undiplomatisch ausgesprochen“, schreibt der USA-Korrespondent der FR, Karl Doemens, in seinem Leitartikel „Der Offenbarungseid“ (Print-Überschrift). „Danach warf sich die Merkel-Regierung fast in den Wüstenstaub, um die erbosten Scheichs zu besänftigen.“ Das Verhalten des aktuellen US-Präsidenten ist allerdings noch mal ein ganz anderes, wie Doemens analysiert.

So kann es nicht weitergehen mit unserem Verhältnis zu den Saudis – diese Position ist unter uns wohl konsensfähig. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat doch tatsächlich angekündigt, dass vorerst keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien exportiert werden. Ja, es ist Wahlkampf. Und zahlreiche bedeutende Konzernführer wie etwa der Siemens-Chef Jo Kaeser, das wollen wir an dieser Stelle lobend festhalten, sind einer Investorenkonferenz in Saudi-Arabien ferngeblieben, auf der Milliardenverträge unterschrieben werden und der Weg in die Zukunft des Königreichs geebnet werden sollte. Das dürfte tatsächlich ein schmerzhaftes Signal gewesen. Ob die Saudis diesen Weg auch ohne die Technologie des Westens gehen können? Nein. Vermutlich wird der skandalöse Kronprinz unter dem Eindruck der Ereignisse entmachtet. Das wäre immerhin etwas und könnte unter Umständen auch die Tür für eine Lösung im Jemenkrieg öffnen.

Machen wir uns jedoch nichts vor: Grundsätzliches wird sich nicht ändern, solange die USA an diesem wichtigen Verbündeten festhalten. Und das werden sie, solange es auch um Öl geht. Trotzdem sollten wir unseren Protest zu Protokoll geben und die Kritik aussprechen, die uns beschäftigt.

Balken 4Leserbriefe

Merve Hölter aus Frankfurt meint:

„Da muss erst ein Oscar Romero ermordet werden, daß 38 Jahre später sein Rütteln am Problemnest El Salvador (Gewaltherrschaft und soziale Ungerechtigkeit) die Weltöffentlichkeit erreicht dank Heiligsprechung durch eine ansonsten in Blindheit erstarrte Kirche.
Da muss erst ein Jamal Khashoggi ermordet werden, dass immerhin schon kurz darauf sein Rütteln am Problemnest Saudi-Arabien ( Ölhebel, islamistischer Extremismus) die Weltöffentlichkeit erreicht. Nach einer Weile dürfte auch hier wieder weitgehend erstarrte Blindheit zurückkehren, nämlich bei den geostrategischen Akteuren (Agitatoren?) der Nahostpolitik, die mehr als zweierlei Maß haben und Machtspielchen treiben zur Freude der Rüstungsindustrie.
Dass  die Gerüchte über die Bestialität des Mordes an Khashoggi ausgerechnet aus derTürkei kommen, gibt dem Horrorcocktail noch einen besonderen Kick. Halloween ist immer und überall. So viele Leichen in so vielen Kellern. Die von Khashoggi wird man wohl nie finden.“

Gerhard Burmester aus Lübeck:

„Herr Doemens beendet seinen Leitartikel damit, dass er zu recht das ritualisierte Heben des moralischen Zeigefingers im Fall Kashoggi beanstandet und auf den moralischen Offenbarungseid des Westens verweist.
Es ist gut, dass dieses einmal ausgesprochen wird. Moralisch – und nur das will ich hier ansprechen – haben die USA und die EU genügend auf dem Kerbholz,um das Moralisieren zu unterlassen.
Wer brach eigentlich das Völkerrecht mit dem unangemessenen Atombombenabwurf über Japan, der ja sogar von Militärs als völlig überflüssig angesehen wird? Wer hat tonnenweise Napalm und Entlaubungsgift über die Bevölkerung Vietams abgeworfen? Wer hat gewählte Staatsoberhäupter in Südamrika gemeuchelt? Wer hat mit einer Lüge den Irak überfallen? Wer lässt es zu, dass das NATO-Mitglied Türkei in Syrien und den Irak einfällt? Wer hat mit einer fadenscheinigen juristischen Auslegung des NATO-Vertrags Afgahnistan überfallen? Europa
hat sich direkt oder indirekt an allen diesen Aktionen beteiligt und den Anspruch, Moral zu predigen genauso verwirkt wie die USA.“

Bertram Münzer aus Gütersloh:

„Saudische Bomben auf Kinder, Krankenhäuser, Alte, alle im Jemen, die Verletzung von Menschenrechten im eigenen Land – davon wussten wir. Und? Jetzt trifft es einen Journalisten, einen kritischen zumal. Und schon brodelt es heftig im Medienkessel und medienwirksam empören sich Politiker. Hier ist ein Mensch barbarisch getötet worden. Womöglich auf Geheiß eines Herrschenden. Das ist ein Verbrechen. Genauso ein Verbrechen wie die Bomben auf alle im Jemen. Nur die Medien- und politische Wirkung ist eine andere. Langanhaltendes Medienecho und Empörung hier, weitere Waffenlieferungen – wenn auch nicht ganz so üppige, zumindest von unserer Seite – und testosteronstarrende Besuche (Präsident Trump mit Schwert in der Hand) dort. „It’s the economy …“ Ich – „stupid“ wie ich bin – hatte das vergessen. Es wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Ein Land mag in die Steinzeit und seine Bürger in Gräber gebombt werden – nun ja … Aber trifft es einen Prominenten, einen Journalisten gar, sieht man ganz genau hin. Und wird dann ganz moralisch, pocht auf Werte und verzichtet gar auf’s (Waffen)-Geschäft. Schön, wenn es immer so wäre. Auch, wenn die Opfer keine „Promis“ sind.“

Heiner Mesch aus Attendorn:

„50 Jahre Tatort. 50 Jahre Kriminalbeamte die versuchen das Recht durchzusetzen. Falls ich diese Idee des Rechtsstaates richtig verstanden habe, dann geht es um individuelle Verantwortung für Taten. Menschen begehen Morde oder geben Morden Auftrag und  wenn nicht alle Medieninformationen „Fake News“ sind, dann hat ein Saudi-Arabischer Märchenprinz den Mord an einen Journalisten in Auftrag gegeben.
Moral,Wirtschaft,Politik: Soll der Chef von Siemens nach Saudi-Arabien fahren, helfen Wirtschaftssanktionen?
Karl Marx hat im Kommunistischen Manifest geschrieben, dass der der Kapitalismus die feudalen Wertesysteme zerstört und die chinesischen Mauern einreist. Aber dieser Marx ist  auch ein Vorkämpfer der „Bürgerlichen Gesellschaft“. Bei der deutschen Revolution 1848 ging es nicht um den Sozialismus. Es war eine Revolution des liberalen Rechtsstaates gegen den Feudalismus.
Und damit bin ich wieder beim Tatort und bei dem Märchenprinzen aus Arabien.
Im Fernsehen wird über Wirtschaftssanktionen gegen Saudi-Arabien diskutiert. Könnte man nicht einfach den Märchenprinzen international zur Fahndung ausschreiben?“

Otfried Schrot aus Ronneberg:

„Der König und der Kronprinz von Saudi – Arabien wissen natürlich von nichts. Eine unbekannte Bande von Schlächtern ist in das Konsulat in Istanbul eingedrungen und hat einen Journalisten gemeuchelt, der es gewagt hat, seine Meinung zu sagen und zu schreiben. Die beste Erklärung des Falles wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass Außerirdische den vermissten Journalisten Khashoggi an einen unbekannten Ort entführt hätten. Die Wirklichkeit dürfte nicht so märchenhaft aussehen. Das sind die Zustände in einem Land, mit dem sowohl die USA als auch Deutschland profitable Waffengeschäfte machen. Die christlichen deutschen Regierungen haben Jesus Christus am Kreuz noch nie um Erlaubnis gebeten, bevor sie an Regimes Waffen geliefert hat, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Der Leserbriefschreiber hat den Eindruck, dass noch kein einziges deutsches Regierungsmitglied je die Präambel der auch von Deutschland unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen gelesen hat, in der sich das Gelübde findet: „Wir sind fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren!“ Alles, was Deutschland zur Erreichung dieses Zieles getan hat, ist, nach den USA und Russland zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt aufzusteigen. Saudi – Arabien bedankt sich für die opulenten Waffenlieferungen aus den USA und  aus Deutschland mit der Niederwalzung der Zivilbevölkerung des Jemen!“

 

 

 

 

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