INSM-Anzeige gegen Baerbock: Panik bei den Bossen

Da wollten die Stimmungsmacher von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) wohl mal ganz besonders originell sein und ließen also Annalena Baerbock von den Grünen, die Bundeskanzlerin werden möchte, im Moses-Gewand vom Berg Sinai herabsteigen, um der Menschheit – ich sag’s mal verkürzt, dem Geist der Anzeige entsprechend – die zehn grünen Verbote zu bringen. Darunter: „Du darfst kein Verbrennerauto fahren“, „Du darfst nicht fliegen“, und darüber steht: „Wir brauchen keine Staatsreligion.“ (Was davon gelogen ist und was stimmt, ist auf tagesschau.de in einem Faktencheck nachzulesen.)

Damit meint die INSM natürlich, dass wir keine andere „Staatsreligion“ brauchen als die, die sie selbst predigt und die sie in unsere Gesellschaft zu implantieren mitgeholfen hat. Denn die INSM stellt sich auf ihrer Webseite zwar so dar, als seien ihr alle Menschen als Mitglieder willkommen, denen an der sozialen Marktwirtschaft liegt. De facto aber ist die INSM eine Organisation von Lobbyisten; zu den Gruppen, von denen sie unterstützt wird, zählt unter anderem der Arbeitgeberverband Gesamtmetall; und ihr Fokus zielt auf Wirtschaftsliberalismus, auf Deregulierung und Privatisierung bei der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Tarifpolitik an, eine wettbewerbsorientierte Bildungspolitik, sowie eine Abschwächung klimapolitischer Maßnahmen (laut Wikipedia). Mit anderen Worten: Sie verfolgt eine neoliberale Agenda und ist tatsächlich mitverantwortlich dafür, dass sich der Zeitgeist in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren durchaus hin zum „schlanken Staat“ gewandelt hat, wenn auch nicht so weit wie etwa in Großbritannien.

baerbock insmJetzt wandelt sich der Zeitgeist erneut, und die Verantwortlichen bei der INSM und den Strukturen im Hintergrund scheinen das zu spüren, denn die Anzeige gegen Baerbock wurde so platziert, dass sie größtmögliches Aufsehen erregte. Über die ersten Reaktionen gibt es hier auf FR.de eine Zusammenfassung. In einem weiteren Text tauchten Antisemitismus-Vorwürfe auf, darüber hier mehr. In der Tat: Moses als Negativfolie mitten in einem aufgeheizten gesellschaftlichen Klima, während das halbe Land über Antisemitismus diskutiert – da braucht es schon einen gewaltigen Mangel an Gespür für das, was gerade geht. Oder wollte die INSM die Rechtsradikalen in ihrem Hass auf „Linksrotgrünversifft“ unterstützen?

Früher war die INSM besser in so was. Aber früher, da konnte sie sich auf die Masse der „Auguren“ berufen, die den „schlanken Staat“ forderten, denn das war damals en vogue: Runter mit den Lohnkosten, runter mit der Steuerlast und so weiter – wir alle kennen die Sprüche. Heute stehen die Dinge anders. Heute ruft die Mehrheit der „Auguren“: Umwelt und Klima haben ihren Preis – den CO2-Preis. Sie sagen auch, dass die Zukunft teuer wird, wenn wir sie nicht antizipieren und gegensteuern. Das sind komplexe Botschaften, die sich nicht einfach so in die Köpfe hämmern lassen wie seinerzeit das „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Diese Phrase wurde von der INSM im Rückgriff auf den ersten Wirtschaftsminister der Nationalsozialisten geprägt, Alfred Hugenberg. Aber es braucht im Grunde nur einen heißen, trockenen Sommer im Wahljahr 2021, und die Botschaft, komplex oder nicht, könnte sich durchsetzen.

Doch der Schuss ging nach hinten los. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) distanzierte sich, viele andere namhaften Menschen ebenfalls wie Charlotte Knobloch. Und damit sind wir bei Caroline Emcke, die das alles möglicherweise schon so kommen sah, denn sie sagte in einer Videobotschaft an den Grünen-Parteitag, auf dem Baerbock kürzlich mit großer Mehrheit zur Kanzlerinkandidatin gewählt worden ist:

Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“

Die Botschaft ist natürlich noch ein wenig länger und bietet mancherlei Diskussionsstoff. Ich gebe daher hier einen Link zur 3sat-„Kulturzeit“, wo ein größerer Ausschnitt aus der Botschaft wiedergegeben wird. Wie das so ist im Wahlkampf, kommt es nun aber auf das Empörungspotenziel an – und hier sogar nur auf das vordergründige. Das vermeintliche Einfache wird herausgegriffen und zur Botschaft stilisiert. „Bild“ leistete sich die Überschrift: „Rednerin vergleicht Klimaforscher mit verfolgten Juden“. Das hat Emcke gerade nicht getan, sondern im Gegenteil: Sie hat herausgestellt, dass dieselben Stereotypen, die von Antisemiten auf Juden angewendet werden – Verschwörung, Weltherrschaft, all das, was Menschen verantwortlich machen will, obwohl sie es nicht sind, und sie als „verschworene Mächte des Bösen“ verächtlich macht – nun ebenso stereotyp auf Klimaforscher:innen angewendet werden. Und ich will hinzufügen: Wie man hopplahopp gleich sieht, auch auf diejenigen Politiker:innen, welche die Expertise der Wissenschaft aufgreifen und sie ernst nehmen. Damit zählen auch sie zu dieser „Elite“ im Nimbus der Klimaforscher:innen, die sich gefallen lassen muss, verächtlich gemacht zu werden. Sachliche Debatten sind so kaum noch möglich.

Zur Einordnung der Videobotschaft von Caroline Emcke und der absolut unterirdischen Reaktion des CDU-Generalsekretärs Paul Ziemiak, aber auch für den größeren Kontext habe ich hier für Sie zwei Texte aus der FR:

Doch halt, es gibt eine Möglichkeit, dagegen zu wirken: Sachlichkeit, Information, Aufklärung! Wollen die Menschen wirklich aufgehetzt und manipuliert werden? Ich glaube nicht daran. Ein paar vielleicht, die dann in der Wahrnehmung durch die Online-Netzwerke sehr laut und auffällig wirken. Aber gewiss nicht alle. Nicht einmal die Mehrheit. Der Versuch, Baerbock zu diskreditieren, ist so offensichtlich, dass er klar als Meinungsmache mit üblen Methoden identifiziert werden kann. Wem das aus der Seele spricht, was da gesagt wird, der und die ist ohnehin schon klar verortet – auf der anti-aufklärerischen Seite.

fr-debattePanik bei den Bossen

Es ist wieder mal bezeichnend, was dieser Verein INSM sich da leistet. Allerdings sollte man das nicht überbewerten, denn erstens schreibt er nur für sich und seine Mitglieder. Immerhin ist er verpflichtet, von Zeit zu Zeit etwas von sich zu geben. Ansonsten könnten die benötigten Spendengelder ausbleiben. Zweitens kennt ihn kaum jemand von uns Normalverbrauchern, geschweige denn liest seine „Verlautbarungen“.
Drittens weist diese Stellungnahme doch auf eine gewisse Panik in diesen Kreisen hin. Offensichtlich schätzen sie die „Gefahren“, die von den Grünen, und erst recht einer grünen Kanzlerin ausgehen, weit höher ein als unsereins. Insgesamt wären sie besser nach dem Satz vorgegangen: „Si tacuisses …“ („Hättet ihr doch besser den Mund gehalten!“)
Für die Grünen, und natürlich auch für Carolin Emcke ist das eigentlich eine Art „Ritterschlag“. Sie sollten sich auf keinen Fall von Querschlägern aus dieser und anderen Ecken zu unüberlegten Äußerungen hinreißen lassen. Die sind im „politischen Geschäft“ unvermeidlich. Die „unüberlegten Äußerungen“ sollten sie anderen überlassen. Paul Ziemiak hat ja auch prompt ein Beispiel abgeliefert.

Hans Contier, Wadern

fr-debatteAn Dümmlichkeit nicht zu überbieten

Über die Analyse der als Mose stilisierten Baerbock-Montage von Frau Ammicht Quinn kann ich nur den Kopf schütteln. Die Anzeige der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ ist an Dümmlichkeit nicht zu übertreffen. Eine intelligente Karikatur von Mose als Gesetzgeber würde erfordern, sich mit den religiösen Grundlagen bzw. Grundwerten der Grünen auseinanderzusetzen, so wie sich die erste Gebotstafel mit den Fragen nach Gott und Religion befasst. Und mit Blick auf die zweite Tafel, wo es um Elementarregeln für eine funktionstüchtige Gesellschaft wie Alterssicherung, Sicherheit für Leib und Leben, Familie, Rechtsstaat, Eigentum und sozialer Friede geht, müsste es um eine Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Grünen in Sachen guter Verfassheit für Nachhaltigkeit und Zukunftsfestigkeit unserer Gesellschaft gehen.
Die Ethikerin Ammicht Quinn attestiert der Anzeige zwar Populismus, aber sie deckt deren Verdummungsstruktur nicht auf. Woher sie es nimmt, im Symbolbild des gesetzgebenden Mose antisemitische Affekte zu sehen, bleibt ihr Geheimnis. Indem sie sich daran abarbeitet, begibt sie sich der Chance aufzuzeigen, welche Gestaltungskraft dem Dekalog-Bild innewohnt. Sie hätte fruchtbar machen können, dass in der Anspielung auf den dem Mose an die Hand gegebenen Dekalog die Aufforderung stecken könnte, an einer für unsere Zeit und ihre Herausforderungen tragfähige Verfassung zu arbeiten. Und sie hätte herausarbeiten können, wie die bewusste oder unbewusste Ahnungslosigkeit der Macher der Anzeige sie dazu führt, unübersehbar deutlich aufzuschreiben, wie Fahren von Verbrennerautos, Fliegen, Freihandel, Schöner Wohnen etc. zu Bekenntnissätzen werden, die aus der Marktwirtschaft eine eigene Staatsreligion machen. Das würde natürlich zu der Frage führen, was das etwa mit wahrer Religion zu tun hat, aber zu dieser Fragestellung stößt das Interview leider nicht vor.
So ist das Interview einmal mehr Ausdruck des unseligen Zeitgeistes, im Vollbewusstsein des Rechthabens reflexhafter Empörung nachzugehen statt mit reflektierter Sachkunde aufklärender Urteilsbildung.

Alexander von Oettingen, Bad Homburg

fr-debatteDie INSM betreibt negatives Framing

Die Kritik der Initiative Neue (Keine) Soziale Marktwirtschaft an Annalena Baerbock bedeutet ein klassisches Eigentor. Zum einen stellt sich hier leider nicht zum ersten Mal die Frage nach einer fehlenden bzw. nur unzureichend ausgeprägten Ethik, da man zum Beispiel bereits vor etlichen Jahren den Satz „Sozial ist, was Arbeit schafft“ geprägt hat, der konsequent und im wörtlichen Sinne bis zu Ende gedacht selbst wieder Kinderarbeit wie im 19. Jahrhundert als gesellschaftliche Norm legitimieren würde. Zum anderen sind trotz aller Schwierigkeiten und immer noch vieler unbeantworteter Fragen eher diejenigen Akteure politische Geisterfahrer, die eine nachhaltige Transformation der Volkswirtschaft ausbremsen wollen, da sehr viele größere Länder und damit wichtige Märkte für deutsche Unternehmen längst ein festes gesetzliches Enddatum für den Verbrennungsmotor-PKW auf ihren Straßen beschlossen haben, wodurch gerade bei einem „Weiter so“ nicht wenige Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei deren Zulieferern leichtfertig aufs Spiel gesetzt würden. Deshalb sollte insbesondere eine Organisation wie die Gesamtmetall um ihren neuen Präsidenten Stefan Wolf ernsthaft darüber nachdenken, ihr bisheriges PR-Sprachrohr ein- oder grundlegend umzustellen und stattdessen lieber auf eine redlichere Form der Kommunikation setzen, bei der nicht mehr das negative sogenannte Framing von möglicherweise als ideologisch unliebsam betrachteten Politikern und Parteien, sondern eine sachliche und wissenschaftlich fundierte Diskussion um die besseren Zukunftskonzepte im Mittelpunkt steht!

Rasmus Ph. Helt, Hamburg

fr-debatte
Das Unsägliche darf nicht in Vergessenheit geraten

Es ist äußerst erfreulich, dass die FR nach den Anfeindungen gegenüber Carolin Ehmcke sie unterstützt hat und diese Unsäglichkeiten nicht im Raum stehen gelassen hat. Allerdings vermisse ich doch ein näheres Eingehen auf die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Nimmt man es genau, handelt es sich dabei um Menschen, die es zutiefst bedauern, daß auf den Gesetzestafeln, die Mose vom Berg Sinai mitgebracht, es den Menschen verboten wird zu morden, zu stehlen, über andere unwahr zu reden u.v.m..
Erschreckt hat mich allerdings eine Passage in Aleida Assmanns Beitrag „Der neue deutsche Katechismus“. Sie zählt (bezogen auf Carolin Ehmcke) verschiedene Diskriminierungsszenarien auf. Und dabei erwähnt sie einen Teil der momentan beliebtesten Haßgruppe „alte weiße Männer“. Waren eigentlich Margaret Thatcher und ihre geistige Mentorin Ayn Rand alte Männer?
Sie werden jetzt zu Recht vermuten, daß ich ein alter weißer Mann bin. Offenbar habe ich alles falsch gemacht als Teil der Gemeinschaft: ich hätte mich ja umbringen vor vielen Jahren, ich hätte mich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen können, und ich (nach Auffassung von Anthroposophen suchen sich vor der Geburt die Kinderseelen ihre Eltern selber) mir andere Eltern suchen können und müssen.
Es würde mich freuen, wenn Sie auch Leserbriefe von Nicht-Menschen lesen würden. Ich nämlich nach Meinung Alice Schwarzers, die vor kurzer Zeit sagte, dass es unter Männern sogar Menschen gäbe, wie z.B. ihr einer Großvater, gehöre anscheinend nicht zu den Menschen. Nun: ich habe Vertrauen, dass Sie meinen Brief verstehen. Ich würde mir wünschen, wenn die FR noch mehr über konkret bekannte Urheber von Unsäglichkeiten berichtete, damit solche Unsäglichkeiten nicht einfach in Vergessenheit geraten und der Eindruck entsteht, daß dies ja nur Meinungen (unter vielen anderen Meinungen) seien.

Rainer Strub-Röttgerding, Bonn

fr-debattePresserat und Bundestag sollten das verurteilen

Kein Schrei geht durch die Republik! Schande!
Die vermeintliche Antiwerbung der INSM ist blanker Antisemitismus – von wegen: Kauft nicht bei Juden. Heute mit jüdischen Symbolen: Wählt keine Grünen. Schande!
Der Presserat und unser Bundestag sollten dies scharf verurteilen. Tiefer geht’s nimmer

Wolfgang Frank, Frankfurt

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