Leben und Arbeiten in Zeiten der Pandemie
Bevor ich meinen eigenen kleinen Jahresrückblick zum Thema Corona starte, möchte ich Ihnen allen meinen Dank für Ihre Beiträge zu diesem Forum ausdrücken und Ihnen frohe und hoffentlich friedliche Feiertage wünschen. Bleiben Sie gesund, schützen Sie sich und die Ihren – Sie wissen ja: AHA und Lüften – und freuen Sie sich mit mir auf ein Jahr 2021, das hoffentlich ganz anders wird als 2020. Man wird ja noch träumen dürfen! Und damit sind wir beim Tagebuch.
Bronskis Homeoffice-Tagebuch – Tag 285
Samstag, 19. Dezember 2020
Friedliche Feiertage Ihnen allen!
Was für ein sonderbares Jahr, dieses 2020! Nichts war wie gewohnt, alles auf den Kopf gestellt wegen eines winzig kleinen Virus, das sich schneller als der Wind um die ganze Welt verbreitet hat. Dabei kann niemand behaupten, dass es keine Vorwarnungen gegeben hätte. Es gab SARS (2002/03), es gab Ebola (2014/-18), das sich allerdings nicht zur Pandemie auswuchs, weil das Virus dafür nicht gerüstet war, und es gibt immer noch HIV, eine der schlimmsten Pandemien überhaupt mit inzwischen Millionen von Todesopfern. Eine Pandemie, die vor allem deswegen übersehen wird, weil sie sich mittlerweile vor allem jenseits des westlichen Fokus abspielt – wer interessiert sich schon für Afrika? Außerdem gab es immer wieder Grippepandemien, aber mit denen haben wir zu leben gelernt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass wir die Warnungen der Experten vor einer Pandemie mit einem bisher unbekannten Erreger nicht ernst genug genommen haben?
Denn das ist Fakt: Experten hatten seit langem und immer wieder davor gewarnt, dass so ein Erreger kommen wird. Aber wenn es passiert, staunt man trotzdem, ist überrascht, überrollt und schockiert. Und natürlich überhaupt nicht vorbereitet. Wie könnte man auch? Wie soll man sich auf so was vorbereiten? Würde das nicht bedeuten, in permanenter Angst zu leben? Wir wären Paranoiker! Andererseits: Da die Experten schon warnten – hätte nicht wenigstens die Politik besser vorbereitet sein können? Hätte sie. Hätte sie sogar müssen. Hinterher ist man natürlich immer klüger, aber wenn kluge Leute warnen – ist es dann nicht klug, auf sie zu hören?
Wir leben in einer Zeit, die von der Ideologie vom „schlanken Staat“ dominiert wird. Dieser „schlanke Staat“ hält sich aus allem raus, was angeblich besser privater Initiative, also der Wirtschaft, überlassen bleibt – denn seit Milton Friedman wissen wir: Niemand kann uns besser versorgen als der Markt. Nun kann es ja tatsächlich sein, dass der Markt unsere täglichen Bedürfnisse wirklich gut befriedigen kann: Nahrung, Medikamente und was man sonst noch so im Alltag braucht. Aber was passiert im Katastrophenfall? Für den Markt kann das Chancen bedeuten – so wie im Fall der Sars-CoV-2-Pandemie, in der sich Pharmafirmen, die funktionierende Impfstoffe auf den Markt bringen, eine goldene Nase verdienen werden. Und zwar umso goldener, je schneller sie reagieren. Darin zeigt sich aber zugleich, dass der „schlanke Staat“ eigentlich ein abgemagerter Staat ist. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, seine Bürgerinnen und Bürger vorausschauend zu schützen. Ein Staat, der keine nachhaltige Daseinsvorsorge anbieten kann. Ein Staat, der das eigene Gesundheitssystem, angeblich eines der besten der Welt, so runtergekürzt hat, dass es jetzt zu versagen droht. Es war ja auch wirklich zu teuer, dieses Gesundheitssystem! Der Markt hätte es schon gerichtet. Jetzt richtet es das Virus.
Viele Menschen werden noch sterben in dieser Pandemie, weil unsere Regierungen spätestens seit Anfang der 90er Jahre falschen Prämissen gefolgt sind. Angefangen in den USA und Großbritannien, jenen Ländern, von denen der Marktradikalismus seinen Ausgang genommen hat. Diese Menschen werden sterben, weil der Markt ihnen nicht helfen kann und weil der Staat zu dünn auf der Brust ist, um schnell in die Bresche zu springen. Das zeigt sich beispielsweise an der allzu dünnen Personaldecke auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser. Am Personal wurde gekürzt und gespart, damit diese Krankenhäuser sich ökonomisch aus eigener Kraft tragen, und jetzt, wo die Not herrscht, ist nicht genug Personal da. Merke: Der Staat braucht ein bisschen Speck auf den Rippen. Für den Notfall. Mager ist der Tod.
Es liegt ein gewisser Witz darin, wie passgenau das Virus die Schwächen unserer Lebensweise zu nutzen verstanden hat. Das ist keineswegs Zufall. Unsere Lust aufs Verreisen, die globalen Verkehrsströme haben ihm seine Verbreitung erst ermöglicht. Unser Individualismus, ein gefeiertes Modell der „Selbstverwirklichung“, unsere Ichbezogenheit führen dazu, dass wir uns nichts sagen und nicht raten lassen. Im schlimmsten Fall nicht einmal von Experten. Solidarität ist ein vergessener Wert. Wir hören auf niemanden, gehen trotzdem feiern und verhelfen dem Virus so zu immer neuen Infektionsräumen, in die es vorstoßen kann. Covid-19 ist ja nur eine Grippe … Schnitt!
Schnitt für eine persönliche Geschichte. Kürzlich hatte ich ein Telefonat mit einem Verwandten. Wir telefonieren nicht oft, denn uns verbindet nicht viel. Das wurde diesmal besonders deutlich. Zu diesem Zeitpunkt war Offenbach, wo ich lebe, gerade zum „hot spot“ des Infektionsgeschehens geworden, und so antwortete ich auf die Frage meines Verwandten am Telefon, wie es mir gehe, ganz ehrlich: Mir geht’s gut, aber ich mache mir Sorgen wegen der Seuche. Darauf er: Na ja, dazu habe ich eine eigene Meinung, und die lasse ich mir auch nicht nehmen. Das klang merkwürdig – als gehe er davon aus, dass ich ihm seine Meinung würde nehmen wollen. Ich fragte also, welcher Meinung er denn sei. Darauf er: Das ist nichts weiter als eine Grippe. Hören Sie mich seufzen? So seufze ich auch am Telefon und sage dann: Diese Debatte habe ich den ganzen Tag mit Dutzenden von Menschen, die mir mailen; darauf habe ich jetzt keine Lust. Darauf er: Hältst du mich für blöd? Und dann legt er einfach auf.
Ich halte Menschen für blöd, die sich nicht informieren, aber eine klare Meinung vertreten, von der sie sich trotz offenkundiger Uninformiertheit nicht abbringen lassen, und die sich auch nicht informieren wollen. Letzteres ist der springende Punkt. Anders ausgedrückt: Blöd ist jemand, der oder die auf einem unhaltbaren Kenntnisstand beharrt. Und zwar ist sie oder er deswegen blöd, weil er/sie die Fähigkeiten nicht nutzt, die ihr/ihm von Natur aus gegeben sind: Denken, Vernunft, Kritikfähigkeit. Voraussetzung dafür ist Informiert-Sein. Und da sind wir wieder bei der Frage: Wo informieren sich die Menschen heutzutage?
Nein, mein lieber Verwandter: Covid-19 ist nicht einfach eine Grippe. Schon rein von der zoologischen Taxonomie her sind Coronaviren nicht mit Influenzaviren (Grippe) zu verwechseln. Sie sind komplett anders. Wenn man von ihnen befallen wird, kann es zwar sein, dass man grippeähnliche Symptome bekommt, aber es gibt reihenweise Unterschiede zur Influenza. Die geht normalerweise schnell los, geradezu überfallartig, oft mit hohem Fieber, meist mit Glieder- und Kopfschmerzen und schweren Erkältungssymptomen, die vor allem bei älteren Patient:innen in Lungenentzündungen münden können. Dieser starke Schub am Beginn kurz nach der Infektion ist charakteristisch für eine Influenza-Infektion. Bei Sars-CoV-2 dauert das alles viel länger. Typisch ist am Beginn Kratzen im Hals und oftmals der Verlust des Geschmackssinns – überhaupt nicht mit dem Grippeverlauf vergleichbar! Dann kann es zu allen möglichen Symptomen kommen, zu denen auch grippeähnliche Symptome gehören. Typisch für schwere Verläufe, die es in dieser Form bei Influenza-Infektionen nicht gibt, ist der „Zytokinsturm“. Der führt in der Regel dazu, dass beatmet werden muss. Im „Zytokinsturm“ wendet sich das Immunsystem in einer Übereaktion gegen den eigenen Körper, ähnlich wie bei einer allergischen Reaktion. Hier aber oft typischerweise gegen die Lunge, und das macht die Sache lebensgefährlich.
Typisch für Sars-CoV-2 ist aber auch, dass eine Infektion mit diesem Virus selbst bei mildem – oder unbemerktem? – Verlauf Nachwirkungen und Folgen haben kann, denn das Virus verbreitet sich im ganzen Körper und befällt alle Organe. Von Ebola wurde 2017 bekannt, dass sich das Virus offenbar in den Augäpfeln einnistet, wo es überdauert, nachdem es vom Immunsystem aus dem Rest des Körpers verdrängt wurde. Daraus kann man schließen, dass Viren manchmal ungeahnte Strategien haben, über die wir bisher praktisch nichts wissen. Unterm Strich heißt das: Wer sagt, Sars-CoV-2 ist wie die Grippe, der gibt zu, dass er uninformiert ist.
Tatsächlich ist Sars-CoV-2 der Beweis dafür, dass die Evolution nicht schläft. Ihre Gesetze sind auch für uns Menschen weiterhin in Kraft – und sie sind nicht ökonomischen Wesens. Wir müssen das erkennen! Die Ökonomie dominiert unser Leben mit Lehrsätzen, die nicht haltbar sind, wie die Pandemie zeigt. Und nicht nur nebenbei: Auch der Klimawandel zeigt ebendies! Sollte es Zufall sein, dass Pandemie und Klimakrise zugleich auftreten, dann möge uns dieses Zusammentreffen bitte zur Besinnung bringen! In der Pandemie geht es darum, andere Menschen vor der Infektion zu schützen. Im Kampf gegen die Klimakrise geht es darum, der ganzen Menschheit einen bewohnbaren Planeten zu erhalten. In der Pandemie brauchen wir Solidarität. Und damit können wir anschließend, nachdem wir Sars-CoV-2 besiegt haben, gleich weitermachen, denn im Kampf gegen die Klimakrise brauchen wir noch viel mehr Solidarität. Globale Solidarität.
In diesem Sinne nochmals: Ein friedliches Weihnachtsfest Ihnen allen.
Ihr Bronski
Naoned!
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Lieber Bronski,
ihr Job wäre nichts für mich. Mir haben zwei Kerle gereicht, die versucht haben zu erklären, warum Sars-CoV-2 nur eine Grippe ist, wobei sich einer der beiden am Ende zu der Behauptung hinreißen ließ, dass die Alten sowieso sterben müssten und dafür die Wirtschaft an die Wand gefahren würde.
Auf meine Frage, ob er der Meinung wäre, dass er das Recht hätte zu entscheiden wann ein Mensch sterben müsste, war er wenigstens so einsichtig, dies zu verneinen.
Stellenweise hatte ich während diesem Gespräch das Gefühl, ich spreche mit einem Sektenmitglied. Mit Beiträgen aus dem Netz und irgendwelchen Statistiken wie viele Menschen zur Zeit an was auch immer sterben, wird versucht, die „eigene Meinung“ mit allem möglichen zu untermauern.
Ich glaube das mit der Sekte ist gar nicht so verkehrt, denn auch diese Menschen versuchen andere von ihrer Meinung zu überzeugen um diese auf ihre Seite zu ziehen. Können sie mit ihrer Überzeugung nicht alleine stehen?
Dieses Jahr ist an so vielen Ecken oft schwer zu ertragen, aber es zeigt auch, wie viel Wärme und Zuneigung es gibt. Die Bereitschaft dies zu zeigen und auszudrücken hat sich vervielfacht und das macht mir Mut, dass es doch eine Menge Menschen gibt, die in dieser Krise auch was verstanden haben.
Ihnen wünsche ich eine gute und entspannte Zeit. Die kleinen Freuden können manchmal Wunder wirken. Ein leckeres Essen und ein guter Tropfen beruhigt das Gemüt und erfreut den Körper.
Uns allen wünsche ich Mut und Kraft für das kommende Jahr und einen riesigen Packen Humor der hilft, im Gleichgewicht zu bleiben.
Herzliche Grüße, Anna Hartl
Ich wünsche Bronski und allen die hier mit schreiben Frohe Weihnachten und besinnliche Stunden im Kreis der Familie soweit das in dem Coronajahr möglich ist