Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. So sagt eine Redewendung, die noch recht jung ist, aber bereits als Sprichwort gilt. Viele Menschen werden sie als eine Aufforderung zu hemmungslosem Egoismus verstehen. Sie hat aber mehrere Bedeutungsebenen. Nur wenn man gut für sich selbst sorgt, ist man nämlich auch stark genug, eventuell anderen Menschen zu helfen. Aber wird man dies auch tun? Die Redewendung behauptet das. In der Realität ist aber anderes zu beobachten. „Ich zuerst„, rufen viele, und so heißt auch das neue Buch von Heike Leitschuh, das mit einer Leseprobe in der FR präsentiert worden ist und das mir den folgenden schönen Leserbrief von Franz Boegershausen aus Oldenburg einbrachte, den ich hier ungekürzt als Gastbeitrag im FR-Blog veröffentliche.
Ein Auge und ein Herz für Andere
Von Franz Boegershausen
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Durch eine exorbitante grafische Visualisierung wurde ich nachdenklich: Viele schlichte graue Vögel aufgereiht wie auf einer Schnur, im Fokus ein bunter Papagei. Was ruft dieser? „Dein verdammtes Ding!“ Dann habe ich den Auszug aus dem Buch v. Heike Leitschuh „Ich zuerst“ gelesen.
Hier werden empirisch festgestellte Erfahrungen dargelegt, die zeigen, dass neoliberales Gedankengut dem Leben der Menschen miteinander unserer Gesellschaft großen Schaden zufügt. Für diesen Artikel bin ich der Redaktion sehr dankbar. Dazu einige Anmerkungen aus meiner begrenzten Sicht.
Im täglichen Umgang mit Menschen in dieser relativ kleinen Stadt mache ich ähnliche Erfahrungen. Erschrocken bin ich manchmal darüber, wie bekannte Menschen sich in ihrer Haltung zu Anderen im Laufe der letzten Jahre verändert haben. Das zeigt sich darin: Wie sie über Menschen denken und sprechen, die in den vergangenen Jahren aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und nun zu unseren Nachbarn gehören. Weiter kann ich sehen, wie Menschen sich egomanisch im Straßenverkehr, beim Einkaufen, im Wartezimmer oder im Krankenhaus usw. verhalten. „Mein Wunsch muss sofort erfüllt werden! Was kümmert mich der Andere? “Wo bleibt der Respekt gegenüber dem Anderen? Was bedeuten heute noch die Tugenden „Solidarität“ oder „Höflichkeit“?
Dennoch bin ich dankbar, dass ich ebenso vielen Menschen begegne, die nicht nach dem Motto leben „Ich zuerst“, sondern ein Auge und ein Herz haben für Andere. Das zeigt sich für mich in der gegenseitigen nachbarschaftlichen Hilfe, in der Übernahmevon Aufgaben zum Wohl der Gemeinschaft, im Umgang mit Fremden, bei gemeinsamen Aktionen > gegen rechts < oder im Einsatz für den Umweltschutz. Sicher muss jeder Mensch auch rechnen und an sich denken; okay „das ist in gewissen Dosen“ sinnvoll und notwendig. Wenn aber z. B. ein Arzt im Umgang mit den Patienten nur noch darauf schaut, was die Behandlung für ihn wirtschaftlich einbringt, dann hat er damit sein Berufsethos verraten. Das kann man ebenfalls im Blick auf andere Berufsgruppen sagen.
Ich weiß nicht, ob die o. g. Autorin im Gesamtwerk einen Fingerzeig gibt, was eine solidarische Lebensausrichtung menschlich bedeutet, wie anregend und beschenkend diese sein kann. Ich habe hundertfach die Erfahrung gemacht, dass gerade der Dienst für Andere, die Offenheit für Fremde und Andersdenkende, das“ Herzauge“ im Umgang mit Anderen mich häufig selbst beflügeln und innerlich tief beglücken. Nur dann, wenn ich mich selbst manchmal ein Stück weit vergesse, kann ich erfahren, was ein erfülltes Leben ist. Liebende wissen: Je mehr ich von mir selbst gebe, desto reicher werde ich. Anders formuliert: je mehr wir in der Zugewandtheit zum Anderen über uns hinauswachsen, desto mehr werden wir zu uns selbst kommen. Daher lautet etwas provozierend mein Mantra: Man gewinnt wirklich nur das, was man verschenkt.
Als emeritierter Religionslehrer und Pfarrer nehme ich einerseits wahr, dass die Vertreter der großen Kirchen heute häufig darüber lamentieren, dass viele ehemals religiöse Menschen heute nicht mehr an Gott glauben. Vorsichtig ausgedrückt: Darin sehe ich nicht das bedrängende Problem. Nach meiner Meinung ist es bedrohlich, wenn viele Menschen heute sich selbst für einen sogenannten allmächtigen Gott halten. Beispiel. Mein Nachbar formuliert es so: „Ich brauche nichts, mir fehlt nichts, ich habe alles selbst in der Hand.“ Nun: Mein scheuer und subtiler Fingerzeig geht in eine andere Richtung: „Handle so, als ob alles von dir abhinge, aber vergiss nicht, dass das Wesentliche im Leben ein Geschenk, eine Gabe ist.“