Die Debatte um die Reform insbesondere von Hartz IV nimmt Fahrt auf. Während die SPD noch zögert, obwohl das Soziale eigentlich ihre Domäne sein sollte, preschen die Grünen vor, die viele nicht besonders affin zu sozialen Themen halten, und machen einen einfachen, einleuchtenden Vorschlag: Weg mit den Sanktionen! Ersatzlos! Es war in der Tat noch nie einzusehen, warum ein niedriger Betrag, der per Gesetz als Existenzminimum definiert wird, durch Sanktionen staatlicherseits noch zusammengestrichen werden kann. Ist dieser Betrag nun ein Existenzminimum, oder ist er es nicht?
Hinter dem Sanktionsmodell, das in Hartz IV steckt, steht ein Menschenbild, das im Grunde davon ausgeht, dass der Mensch faul ist. Lieber Sozialhilfe beziehen und die Füße hochlegen, als zu arbeiten. Gewiss gibt es solche Menschen, und es wird sie immer geben. Der Denkfehler dabei ist, dass Hartz IV dem „Klienten“ oder dem „Kunden“ generell mit Misstrauen begegnet: Du willst eigentlich gar nicht arbeiten. Das wird vorausgesetzt bzw. einfach für jeden Einzelnen angenommen. Das ist Schwarz-Weiß-Denken. Die Wirklichkeit besteht hingegen aus Grautönen. Die meisten Menschen wollen arbeiten, denn Arbeit bedeutet nicht nur Verdienst, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe, Austausch mit Kollegen, mitunter sogar dem Leben einen Sinn geben. Wenn allerdings – nächster Punkt! – die Arbeit so schlecht bezahlt wird, dass man kaum auf das Niveau der Grundsicherung kommt, wird der Gedanke, dann doch lieber gleich Hartz IV zu beziehen, natürlich attraktiv – aber nicht, weil der Mensch grundsätzlich faul ist, sondern weil ihm die falschen Anreize gesetzt werden. Er wird bestraft, nicht gefördert. Anders ausgedrückt: Wer zu solchen Konditionen arbeitet, ist ganz schön blöd. Das Motto von Hartz IV, jenes „Fördern und Fordern“, ist kaum mehr als ein griffiger Marketing-Slogan. Wirkliche Förderung hat das Gesetz kaum vorgesehen. Es atmet den Geist von „schwarzer Pädagogik“, wie Helena Steinhaus vom Verein „Sanktionsfrei“ das nennt.
Der Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, hat die Position der Partei zu Hartz IV im FR-Interview konkretisiert. Auch er sagt: Weg mit den Sanktionen! Sie hätten fatale Nebenwirkungen: „Viele Jugendliche, die von Sanktionen betroffen sind, entziehen sich – nicht der Arbeit, sondern der Behörde“, sagt Habeck. „Sie machen dann Schwarzarbeit oder werden im schlimmsten Fall obdachlos.“
Leserbriefe
Gerhard Kleinlützum aus Velbert:
„Robert Habeck weist in dem interview zu recht darauf hin, das die Sanktionen selten zum Erfolg geführt haben. In meinem Berufsleben hatte ich immer wieder gerade mit beruflich gescheiterten jungen Leuten zu tun. So kann ich die Feststellung von Habeck nur unterstreichen, dass nur in Ausnahmefällen die jungen Leute „keinen Bock“ hatten, zu arbeiten bzw. eine Ausbildung oder Qualifikation zu machen. Außerhalb der genannten Nebenwirkungen von Sanktionen werden erhebliche psychologische Barrieren aufgebaut: Was sowieso schon an zu wenig Selbstwertgefühl da ist, wird noch negativ verstärkt. Beziehungen zwischen dem Klienten / Kunden und dem Berater können sich nicht positiv weiter entwickeln, da Vertrauen zerstört wird. Die vielleicht schon vorhandene pauschale Kritik an der Leistungsgesellschaft sieht sich sozusagen in der Sanktion bestätigt.
vor allem ist es aber notwendig, mit jungen Leuten aus Arbeitslosen-Familien ganz anders pädagogisch und therapeutisch umzugehen. Wo haben sie bisher ein positives Bild von Arbeit und Leistung vermittelt bekommen und selbst erlebt, wenn ihre Eltern nie zur Arbeit gegangen sind und Arb eit und Verantwortung für das eigene Leben auch nie ein Thema in der Familie war? Die damit verantwortlichen Politiker von SPD und Grünen und auch von CDU/CSU (die die Hartz-Reform ja im Bundesrat unterstützt haben) müssen einfach erkennen, dass große Teile dieser Reform absurde Folgen für die betroffenen Menschen und ihre Familien hatten und immer noch haben. M.E. kann bei einer jetzt notwendigen Reform (nicht Abschaffung) die Last der Grundsicherung nicht generell auf uns als Steuerzahler abgewälzt werden, was die Regierungen der letzten 2 Jahrzehnte so gerne machen, um Firmen zu entlasten. Der wichtigste Punkt wäre eine deutliche Erhöhung der Löhne und Gehälter von Menschen, die ausgebildet bzw. qualifiziert sind, aber mit weit unter 2000 Euro brutto abgespeist werden und später dann in die Altersarmut fallen oder eben auch schon Grundsicherung brauchen. Die Hörigkeit unserer Regierungen gegenüber der Unternehmen muss beendet werden, die Politik muss ihre Regulierungsverantwortung wieder wahrnehmen und auch zugeben, dass die diese schröderische neoliberale Wirtschaftspolitik gescheitert, weil völlig menschenverachtend, ist. Weder der Ansatz der Grünen noch meine oder andere Positionen in diese Richtung haben etwas mit sogenannter linker Politik zu tun. Es geht schlicht und einfach um eine humane, also auf den Menschen ausgerichtete Politik.“
Ernst Niemeier aus Wentorf:
„Der Erfolg von Hartz IV scheint so klar zu sein, weil mit seiner Einführung der Abbau der Arbeitslosigkeit begann. Aus dem gleichzeitigen Auftreten zweier Phänomene aber auf einen kausalen Zusammenhang zu schließen, ist eine zu einfache Analysemethode. Notwendig ist die Erforschung der Ursachen, die das negative Phänomen ausgelöst haben. Hartz IV liegt die Diagnose zugrunde, dass die Arbeitslosen arbeitsunwillig sind, von Ökonomen allgemein als institutionelles Hemmnis bezeichnet. Deshalb werden die Arbeitslosen mit verschiedenen Maßnahmen – wie Verkürzung der Zahlung des Arbeitslosengeldes, Zahlung nur noch eines bedürftigkeitsgeprüften Arbeitslosengeldes II, Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen für die Annahme eines Arbeitsplatzes – unter Druck gesetzt. Den Hintergrund für diese Diagnose bildet das neoklassische Arbeitsmarktmodell, demzufolge Arbeitslosigkeit durch zu hohe Löhne und/oder durch institutionelle Hemmnisse verursacht wird. Diese Diagnose der Arbeitslosigkeit, die dann auch als „freiwillige Arbeitslosigkeit“ bezeichnet wird, ist bei deutschen Ökonomen vorherrschend. Dabei wird aber übersehen, dass das neoklassische Arbeitsmarktmodell die Bedingung einer gegebenen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage setzt. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist ein wichtiger Faktor für die Beschäftigung einer Volkswirtschaft. Ihre Vernachlässigung durch deutsche Ökonomen und deutsche Politiker bildet den Grund sowohl für die Fehldiagnose „Arbeitsunwilligkeit“ als auch die Unmöglichkeit, dass Hartz IV das sog. Arbeitsmarktwunder ausgelöst haben kann. Dass diese Diagnose falsch ist, ergibt sich bereits aus dem Blick auf die Arbeitsmarktsituation zum Zeitpunkt der Hartz IV-Konzeption. Die Anzahl der Arbeitslosen insgesamt war ca. zwanzigfach höher als die Zahl offener Stellen. Selbst wenn alle offenen Stellen besetzt worden wären, hätte es weiter eine hohe millionenfache Arbeitslosigkeit gegeben. Nicht die Arbeitsunwilligkeit war die Ursache der Arbeitslosigkeit, sondern die fehlende gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die – wie der französische Ökonom Charles Wyplosz richtig feststellte – das Ergebnis einer „systematisch prozyklischen“ Fiskal- und Geldpolitik schon seit 1991 war. Verstärkend wirkte die sog. moderate Lohnpolitik, die die Lohnsteigerungen unterhalb der Produktivitätssteigerung zu halten versuchte und die deshalb für die schwache Binnennachfrage mitverantwortlich war. Auch der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow wies darauf hin, dass sich die deutsche Debatte der Arbeitslosigkeit zu sehr auf den Arbeitsmarkt als Ursache verenge und „dass beinahe keine adäquate Diskussion spezifisch makroökonomischer Probleme und derer Lösungen“ stattfinde. Denn generell gelte, dass „wenn die aktuelle Produktion hinterder potenziellen Produktion zurückbleibt“, dies geschehe, „weil die Gesamtnachfrage zu gering ist, um den potenziellen Output zu erwerben“. Das Verhältnis der Zahl der Arbeitslosen zur Zahl offener Stellen bestätigt Robert Solows Analyse. Es fehlte an ausreichender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, das erforderliche Produktionsangebot bereitzustellen, das die notwendigen Arbeitsplätze entstehen lassen konnte. Der deutsche Sachverständige Peter Bofinger hat in seiner Minderheitenmeinung im Sachverständigengutachten 2007 bereits aufgezeigt, dass nicht die Arbeitsmarktreformen für den Aufschwung am Arbeitsmarkt verantwortlich waren, sondern die gesamtwirtschaftliche Nachfrageentwicklung, diei durch die weltwirtschaftliche Nachfragedynamik ausgelöst worden war.
Weil Hartz IV auf einer falschen Ursachendiagnose der Arbeitslosigkeit beruht und die positive Arbeitsmarktentwicklung nicht ausgelöst hat, sollte diese Arbeitsmarktreform zurückgenommen werden.“
Auch wenn es in manchen Ohren geradezu ketzerisch klingen mag, darf nicht vergessen werden, dass die geltenden Normen des Zweiten Sozialgesetzbuches (landläufig als Hartz IV bezeichnet) vielfältig Gelegenheit dazu bieten, auf eigenen Füßen zu stehen. Bereits die Frage nach zumutbarer Arbeit gibt genügend Anlass, sich damit auseinanderzusetzen, was unzumutbar und daher abzuweisen ist. Dient das vermeintlich zumutbare Arbeitsangebot fremden Zwecken, degradiert es den Einzelnen zum Objekt und zerstört auf diese Weise dessen Subjektivität. Sollte eine Agentur für Arbeit auch noch einen Zwang ausüben, das Angebot dennoch anzunehmen, handelt sie nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Problem sind daher weniger die verhängten Sanktionen, als vielmehr, dass sich die Sozialbehörden dadurch in außergesetzliche Einrichtungen verwandeln, die ihren eigenen Regeln folgen. Das zu entlarven, ist aller Mühe wert.
Der Presse entnehme ich folgende Zahlen.
Die Sanktionen betreffen 3.1% der 4.36 Millionen Zahlungsempfänger, also etwa 135’000 Menschen. Gegen die anderen 96.9% = 4’359’000 Menschen werden keine Sanktionen ausgesprochen. Auf jeden der 135’000 Sanktionierten entfallen im Durchschnitt ca. 7 Sanktionen pro Jahr.
Es gibt sicherlich Verbesserungsbedarf, z.B. bei der Sanktionierung von Jugendlichen.
Hier wird mMn ein Randproblem aufgeblasen, um sich politisch zu profilieren.
Das eigentliche Problem ist doch, dass es Menschen gibt, die aus verschiedenen Gründen in unserer modernen Gesellschaft nicht in der Lage sind ein «Produkt» mit ihrer Arbeitskraft zu erstellen, für das wir bereit sind, einen Lohn zu zahlen, mit dem man anständig leben kann.
Wenn ich als Unternehmer jemanden einstellen will, dann muss ich in der Lage sein, dessen Arbeitsleistung am Markt verkaufen zu können.
Die Aufhebung der Sanktionen ändert daran rein gar nichts.
Bitte aufhören mit dieser Zahlenspielerei und der Relativierung der Sanktionen!
Wer die gesellschaftlichen Folgen der Hartz-IV-Gesetze nicht wahrhaben will, der sollte sich mäßigen diese „moderne“ Gesellschaft hoch leben zu lassen. Etwa sind die Zahlen der wohnungslosen Menschen, die auf der Straße gelandet sind in den letzten 15 Jahren um ein Mehrfaches gestiegen. Das ist nur EIN Aspekt. Ich könnte eine Menge anderer nennen. Komme mir keiner mehr mit dem „Produkt“ Arbeitskraft und gerechtem Lohn oder wer was in dieser Gesellschaft zu leisten hätte, um wieder einigermaßen eine soziale Gerechtigkeit und von mir aus sowas wie eine soziale Marktwirtschaft herzustellen. Es ist beschämend wie mit dem über 6 Mio Hartz-IV-Empfängern in der politischen Debatte umgegangen wird! Irgendwann wundern sich dann alle, dass es Unruhe im Lande gibt, wo es doch allen so verdammt gut geht. Pah!
@Jürgen Malyssek
Ich habe nichts gegen die Abschaffung, nur glaube ich nicht, dass es etwas Substantielles ändert.
Wenn Sie das anders sehen, dann beschreiben Sie doch mal welche substantiellen Änderungen vor allem die 96.9% hierdurch erfahren.
@ Henning Flessner
Ich weise auf die inzwischen höchst bedenklichen gesellschaftlichen Schieflagen hin, die weiter das soziale Klima verschärfen werden, weil es zu viele Verlierer gibt, wo zumindest vor dem unsäglichen Hartz-Gesetzen wenigstens die Arbeitslosen und die Sozialhilfeempfänger noch weitestgehend human aufgefangen waren. Da fielen dann auch Teile dieser heute „96,9 %“ drunter.Das habe ich an anderen Stellen schon x-mal „herunterbetet“.
Die Menschen, die nach SGB II in die Abhängigkeit dieser Bezüge kamen, haben noch nie bzw. hätten so nie zuvor solche fortgesetzten bürokratischen und politischen Demütigungen erfahren. Das ist die Krux. Darum geht es mir, um die Wiederherstellung eines diesen Namen auch verdienenden „Sozialstaates“.
Was wir heute erleben, ist doch ein immer mehr wachsendes Elend auf den Straßen. Eine Politik, die es fertig gebracht hat, wieder Armenspeisungen und Tafeln auch noch als wohlfahrtsgesellschaftliche Errungenschaften (in Sonntagsreden) zu preisen! Da werde ich mich doch nicht jetzt mit der Prozentzahl 96,9 gemein machen.
Sie glauben, Herr Flessner, dass sich nichts Substantielles ändert, wenn …
Ich glaube aus einem ganz anderen Grund, nicht, dass sich etwas mit dieser Armutsentwicklung ändert: Es ist politisch so gewollt. Warum ist denn die SPD so abstürzt. Und lese ich, dass der DGB bei Hartz-IV auch die A…backen zusammenkneift. So ist es in der Tat hoffnungslos. Im Übrigen haben wir natürlich auch vieles Elend der Lohnpolitik der letzten Jahre zu verdanken. Aber da hängt wieder alles mit allem zusammen. Aber das muss ich jetzt nicht auch noch wiederkauen.
Ein chinesisches Sprichwort lautet sinngemäß: „Gib einen Mann einen Fisch, und er ist einen Tag lang satt. Lehre ihn fischen, und er wird nie wieder hungern.“
Was macht man mit denen, die sich beharrlich wehren, fischen zu lernen?
Diese Ungerechtigkeiten haben sich die Deutschen selbst zuzuschreiben. Haben sie sich dagegen gewehrt? Sowas schickt sich nicht, auf Demos geht kein Deutscher, wir sind obrigkeitshörig. Das haben wir vom Kaiser und dem Führer gelernt. Aber langsam wacht das Volk auf und straft die Täter (SPD und CDU)
wenn auch nur bei Wahlen ab. Da Lob ich mir die Franzosen. Der Herr Präsident will den Schröder machen, also Umverteilung von unten nach oben ohne das Volk zu fragen. Franzosen
haben eine andere Tradition sie können sich wehren und der Präsident wundert sich jetzt.
@G. Krause
Was Sie feiern, ist die Herrschaft des Mobs und das Ende der Demokratie. Meine französische Verwandtschaft war entsetzt, dass der Präsident vor dem Pöbel in die Knie gegangen ist.
@Henning Flessner
Der von Ihnen sogenannte Mob hat in Frankreich Tradition und die Demokratie ist schon bei Fehlentscheidungen des Präsidenten in Gefahr. Er hat die Macht dies mit anderen Mitteln zu tun, sodass Sie nicht in Gefahr geraten, diesen als Mob zu bezeichnen und was Sie als Pöbel bezeichnen, sind Menschen die um ihre Existenz kämpfen.
Ich teile die Wahl der Mittel nicht, kann aber verstehen, dass „man“ an diesen Punkt kommen kann.
Es ist gleichzeitig ein Ausblick auf die Zukunft wenn die Politik kein Mittel findet den Ausgleich zu schaffen bzw. damit aufhört, die Spaltung in der Gesellschaft auch noch zu unterstützen.
Es ist immer leicht, “ den Pöbel“ zu verdammen, wenn der eigene – sorry – Arsch im trockenen sitzt.
Ich halte es für ein selten dämliches Statement, die Aktion von Macron als vor dem Pöbel in die Knie gehen zu bezeichnen.
@Anna Hartl
„Der von Ihnen sogenannte Mob hat in Frankreich Tradition…“
Das ist eins der vielen Probleme in Frankreich. Es wird gewählt, damit sich endlich etwas ändert. Dann beschließt das neue Parlament ein Gesetz. Prompt gehen einige Leute auf die Autobahn und zünden Reifen an oder beginnen das Land mit einem politischen Streik lahmzulegen und die Regierung nimmt das Gesetz zurück. Das war bei Sarkozy so, bei Hollande und jetzt macht Macron es auch noch. Wozu hat man dann noch ein Parlament?
Gut, Frau Hartl!
@ Henning Flessner
Hören Sie bitte auf, ganze Menschengruppen pauschal mit Bezeichnungen wie „Mob“ und „Pöbel“ zu diffamieren. Das wird in dieser Allgemeinheit weder der Thematik gerecht noch den „Gelbwesten“, die durchaus berechtigte Interessen vertreten. Während in Frankreich Vermögenssteuern für Reiche gesenkt wurden, wurden auf der anderen Seite Normalverdiener belastet. Das ist auf jeden Fall kritikwürdig. Wenn es im Parlament keine Opposition gibt, die dagegen die Stimme erhebt, dann tut dies die Straße. Das hat in Frankreich Tradition. Bei uns nicht. Hier ballen die Leute die Fäuste in den Taschen, aber auch das hat Folgen.
Und jetzt zurück zum Thema: Hartz IV und die damit verbundenen Sanktionen.
@Bronski
„Hier ballen die Leute die Fäuste in den Taschen, aber auch das hat Folgen.“
Ja leider!
Aber auch hier gibt es zwei Seiten. In Deutschland wird diese Art der Meinungsäußerung nicht als Korrektiv verstanden und von der Politik auch nicht angenommen.
Demonstrationen gab es in jüngster Zeit wieder vermehrt auf unseren Straßen. Interessanterweise, wenn meine Wahrnehmung stimmt, sind es hier nicht so sehr die sozialen Themen, die die Menschen auf die Straße treiben. Die steigenden Mieten haben auch nicht so viele dazu bewogen, das öffentlich kund zu tun.
Mein Eindruck ist, das Hartz IV und Armut in diesem Land stark mit Scham besetzt sind und dadurch vieles hingenommen wird.
Die vielen Flüchtlinge haben die verborgenen Ängste aufgebrochen und die AfD “ groß“ werden lassen.
Das ist die Richtung die hier ein Teil der Gesellschaft die Fäuste hat aus den Taschen nehmen lassen.
Hier gab es Reaktionen aus der Politik. Aber wie?
Der Bezug war immer die AfD und nicht die Probleme der Menschen.
Auch hier gibt es keine Partei mehr, die sich durchdacht und ernsthaft mit dem Ungleichgewicht in der Gesellschaft auseinander setzt. Das hat Folgen, die der große Teil in diesem Land nicht hinnehmen kann und will.
Ich frage mich gerade, wofür die Regierung Millionen für Berater ausgibt? Soziale Themen sind davon wohl ausgenommen!
(…)
Kommentar gelöscht, da nicht zum Thema. Bronski
Beim Thema Hartz IV und seiner Bewertung gibt’s wie man sieht, unterschiedliche Ansichten, die sich auch hier zeigen.
Die Geschichte einer ehemals prominenten deutschen Schauspielerin ist mir im Gadächtnis, die 2010 anlässlich einer Lebenskrise zur Empfängerin von Hartz IV Leistungen wurde. Sie empfand diese Hilfe als ausgesprochen positiv und „es hat mich in’s Leben zurückgebracht“, so Iässt sie sich zitieren.
Ich habe eine Seite des Zweiten Sozialgesetzbuchs kennengelernt, die meines Erachtens selten beleuchtet wird, es geht um die Wohnungskosten, die dem Empfänger von Hartz IV gezahlt wird.
Als Vermieter einer Wohnung, dessen Mieter Leistungsempfänger wurde, wurde ich zum Gelackmeierten, wie’s der Volksmund sagt.
Kurz, die vom zuständigen Jobcenter des Mieters gezahlte Miete incl. Nebenkosten -die ich an jedem Monatsanfang von der Verwaltungsgesellschaft per Lastschrift von meinem Konto zu zahlen hatte- behielt der Mieter für sich. Er weigerte sich, die erforderliche Abtretungserklärung zu meinen Gunsten zu unterschreiben. Nur mit dieser Erklärung hätte das Amt dieses Geld mir direkt überwiesen.
Telefonate und Briefe nutzten nichts, man verwies mich auf eben dieses Zweite Sozialgesetzbuch. Ein Brief an das entsprechende Bundesministerium war erfolglos, ich bekam die Auskunft, das zuständige Ministerium in Hessen würde dazu Stellung nehmen, was nie geschah. Ich beschritt den Klageweg gegen den Mieter, unter Beachtung der gesetzlichen Kündigungsfristen, dann Räumungsklage.
Als der erste Räumungstermin mit Umzugsunternehmen und Gerichtsvollzieher angesetzt war, ließ ich mich vom Mieter überreden, ihm 2 Wochen Zeit zu geben, dann zöge er selbst aus. Es war eine Lüge, einen 2. Räumungstermin
musste ich beantragen, bei dem dann die Zwangsräumung vollstreckt wurde.
So hatte ich Gerichtskosten, 2 Umzugstermine mit den angerückten Umzugsfirmen und den Ausfall von Miete und vorgelegten Nebenkosten zu tragen. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, trotz Verweigerung der Abtretungserklärung den dem Mieter als Mietkostenerstattung zugedachten Teil der Hartz IV Leistung mir zur Verfügung zu stellen, wäre mir der Verlust von fast 5000 Euro erspart geblieben. Dabei hätte es noch teurer werden können, aber ich zog die Klagen selbst, also ohne rechtsanwaltlichen Beistand durch.
@Anna Hartl
„Ich halte es für ein selten dämliches Statement,..“
Wenn Sie (und Bronski) es erlauben, verabschiede ich mich von dieser niveauvollen Diskussion.
@ Anna Hartl
Man muss tief in die Geschichte der Armut und die der Sozialen Sicherung eintauchen, um zu verstehen, was seinerzeit mit der Inkrafttretung von den Hartz-Gesetzen in der Gesellschaft angerichtet worden ist. Ich will das Wort und die rasante Entwicklung des Neuliberalismus nicht weiter strapazieren, aber hier liegt der ideologische Kern der allmählichen Vernichtung des Solidaritätsgedankens der sozialen Gesetzgebung. Bis weit in die 1980er Jahre und darüber hinaus war das noch ein halbwegs festes Gerüst, auf den Hilfeempfänger sich noch stützen konnten und jedenfalls einer gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht total ausgeliefert waren. Was dann so nach 2003 ff. folgte war ein Bruch, der das hervorbrachte, worüber wir jetzt seit Jahren debattieren. Das Menschen- und Gesellschaftsbild, das mit dem Gongschlag 1.Januar 2005 in die Welt gesetzt wurde, hat tiefe Risse in die Bevölkerung und in die Geisteshaltung der Politik verursacht.
Es gab in der Sozialen Gesetzgebung immer eine Mitwirkungspflicht. Aber mit den systematischen Sanktionsmechanismen ist ein Höhepunkt des Zwangs (zur Arbeit), der Verachtung von sozial Benachteiligten und der Bestrafung von Arbeitslosen erreicht worden. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ ist (u.a. aus der Sozialen Arbeit herrührend) ist pervertiert worden und ist diesen Namen nicht einen Buchstaben wert!
Sie haben, Frau liebe Hartl, mit Ihrer Grundeinstellung und mit Ihren obigen Fragen an Gesellschaft und Politik meine vollste Zustimmung. Es ist ein Skandal, wie bis zum heutigen Tage um diese Hartz-Gesetze herumgeeiert wird, bis zur kleinsten Reparaturreform, die nichts anderes als die Wirkung einer Verschlimmverbesserung hat.
Mit dem Startschuss der rot-grünen Führung ab 1998 ist Faulenzer zu strafen und Fleißige zu fördern sozialstaatliches und bildungspolitisches Konzept geworden. Entstanden ist in der Folge eine entwürdigende Behandlung der Leistungsbezieher von Hartz IV, in der zum Schluss die miesesten Jobs für zumutbar erklärt wurden. Einschüchterung durch Politik und Wirtschaft, steigender Druck auf die Arbeitslosen und Lohnbeschäftigten, Wiedereinführung von Tagelöhnern (Minijobs), Verlust der sozialen Sicherung auf breiter Ebenene, Untergrabung natürlicher Lebensgrundlagen für die Armen (und am Rande des Existenzminimums lebenden Menschen) waren/sind die Kennzeichen, für die es so gut wie keine Partei mehr gibt, die den Mut hat, diesen Spuk zu beenden.
Ich lasse es mal bei dieser noch nicht abgechlossenen Aufzählung. Und was die Sanktionen betreffen, so kann man sich an fünf Fingern abzählen, was das auf Dauer mit Menschen macht, die von Hilfe und Geldmitteln abhängig geworden sind. Auch wenn sie nicht die Alleinschuldigen sind, aber es ist bemerkenswert, dass die Sozialdemokraten noch immer nicht zu begreifen scheinen, warum sie so abgestürzt sind. Die Grünen haben nochmal Glück gehabt, weil sie sich nicht so weit aus dem Fenster gelehnt haben.
Allzu oft wird vergessen, dass die Leistungen der Grundsicherung (Regelsatz, Unterkunft und Heizung) ein allgemeiner Maßstab sind, der für die Bevölkerung insgesamt gilt. Spätestens dann, wenn jemand etwa im Alter nicht mehr ambulant gepflegt werden kann, zieht das Sozialamt seine kompletten Reichtümer (Geld auf dem Girokonto, Sparverträge, Immobilien etc.) ein, die zuvor jahrzehntelang aufgetürmt worden sind. Es macht daher Sinn, sich rechtzeitig darauf einzustellen, dass es vor solch einem Schicksal nahezu kein Entrinnen gibt; es sei denn, man stirbt vorher. Wähnen sich heute welche dem enthoben, holt sie schnell die Realität ein. Angesichts dessen lediglich über Sanktionen zu diskutieren, die für den im Vergleich dazu sehr kleinen Kreis arbeitsfähiger Hilfebedürftiger vorgesehen sind, springt mit seiner Kritik somit viel zu kurz.
@Henning Flessner
Wenn „niveauvoll“ Arroganz, soziale Gleichgültigkeit und ein schnelles Verurteilen mit Beschimpfungen wie Mob und Pöbel bedeutet, dann pfeife ich darauf und Sie tun gut daran sich zu verabschieden.
(…)
Kommentar gelöscht, da nicht zum Thema.
Bronski
Ich sehe hier stellvertretend die Meinung von Jürgend Malyssek, gleichzeitig erinnere ich mich an einen Artikel aus der ZEIT vom 6.12.2018 Seite 35.
Hier schreibt eine von Hartz IV lebende Wirtschaftsrätin (46) mit 2 Kindern von ihren Erfahrungen. Sie lebt in Bonn, in 5 Jahren (!) mit Hartz IV hat sie eine einzige Sanktionsandrohung bekommen, die sich im Nachhinein als Missverständnis herausstellte. Sie war sehr überrascht, dass in den meisten Fällen der Grund für Sanktionen ein Nichterscheinen zu Terminen ist. Nach eigener Aussage kann sie nicht verstehen, warum jemand öfter nicht erscheint. Für sie sind die Termine im Jobcenter absolut feste Termine, die man nur absagt wenn man selbst oder ein Kind krank ist. Sie sagt: „Letztlich liegt ganz viel an meiner eigenen Einstellung“. Ich zitiere sie aus dem Artikel nochmals wörtlich: „Ich persönlich bin wirklich dankbar, dass ich nicht, wie es in vielen anderen Ländern der Fall wäre, mit dem Jobverlust obdachlos, krank und arm geworden bin, sondern dass mich ein System auffängt und mich versorgt“.
Mit ihrer Haltung kooperiert sie leicht mit dem Jobcenter, sie sieht es nicht als Feind. Sie empfindet sich als privilegierte Hartz IV Empfängerin, sie hat studiert, kann sich gut ausdrücken und mit den Vermittlern diskutieren.
Insgesamt scheint ihr das Thema mit den Sanktionen als zu sehr aufgebauscht.
Sie sieht andere drängendere Probleme, nämlich fehlende Perspektiven für Langzeitarbeitslose und zu wenig Verständnis für die eingeschränkten Arbeitszeiten für Alleinerziehende. Auch die Isolation von der Arbeitswelt und den sozialen Kontakten erzeugt eine hohe psychische Belastung.
Mein Fazit, ich kann mir keine festgezurrte Meinung bilden, was Hartz IV betrifft.
Lieber Herr Schmidt, auch wenn Sie keine festgezurrte Meinung haben zu Hartz IV, was ich verstehen kann. Und es ist weit besser als irgend eine weitere Begründung für die Berechtigung des Sanktionsapparat auszubreiten. Die Wirtschaftsrätin hat bestimmt alles richtig gemacht und und sich ganz korrekt an die Termine gehalten. Das begründet aber nicht, warum es Leistungsbezieher gibt, die Terminversäumnisse haben. Es ist eben und oft auch eine andere soziale Welt, die dieser klaren Logik nicht immer folgt oder folgen kann, weil sie sich von vorne herein ausgegrenzt und gekränkt oder überfordert fühlt. Die Gründe für Jobverlust, Krankheit und Obdachlosigkeit, Armut sind sehr komplex. Deshalb sind die Vergleiche zwischen Frau W. mit zwei Kindern nicht übertragbar auf andere Armutssituationen. Es gilt die Berücksichtigung des Einzelfalles!
Wenn sich jmd. wie W. als privilegierte Hartz-IV-Empfängerin aufgrund ihres Studium empfindet, kann ich ihr das nicht ausreden. Aber dann ist sie eben auch privilegiert und die Kommunikation mit den Vermittlern ist eine ganz andere als was viele Nichtprivilegierte erleben. Hat was mit Augenhöhe zu tun.
Eines ist klar zu sagen: Das Thema mit den Sanktionen ist nicht aufgebauscht. Ich habe es weiter oben zum Ausdruck gebracht.
Mit den fehlenden Perspektiven für Langzeitarbeitslose hat W. natürich recht. Überhaupt ist die Isolation von der Arbeitswelt ein ganz großes Problem für die Betroffenen mit Langzeitwirkung bis in die nächste Generation.
Die Arbeitszeiten für Alleinerziehende sind nochmal ein spezielles Problem.
Entscheidend ist der tiefere Blick in dieses Machwerk Hartz IV und was es auf unterschiedlichen Ebenen mit den Menschen, die in diese Abhängigkeit geraten sind, gemacht und was es mit dem Klima in der Gesellschaft gemacht hat. Neben den Sanktione haben wir auch das Thema der Ein-Euro-Jobs. Ich könnte mit diesem Thema die Seiten füllen.
Will sagen: Hartz IV ist ein sozialpolitisches Moloch!
Während ich das hier so schreibe, denke ich zurück an 2003-2005 und merke, wie ich damals in der Arbeit tiefsten inneren Widerstand gegen den sozialpolitischen Paradigemenwechsel empfunden habe und so ist es geblieben und die Debatte legt es wieder schmerzlich offen.
Das ist bitte nicht pathetisch zu interpretieren.
Hallo Herr Malyssek,
argumentieren möchte ich hier einmal mehr aus persönlichem Erleben, als aus sozialpolitisch kritischer Sicht.
Es ist natürlich so, dass es bei einer solchen Diskussion mehrere Sichtweisen gibt. Ich vergleiche das mal mit 2 den Enden einer Polstange an dessen einem Ende Ihre Sichtweise, am anderen eben die von der erwähnten Leistungsbezieherin aus Bonn steht. In meinem ersten Kommentar vom 12.12. 10:56 präsentierte ich kurz ein weiteres Beispiel, bei dem die Existenz des Systems Hartz IV dankbar als Hilfe für’s Überleben und Schritt in ein neues Leben empfunden wurde.
Ich gebe Ihnen Recht, dass es vIele Gründe für das Abrutschen in Armut gibt, ich selbst kann ein „Lied davon singen“, wie leicht das gehen kann. Ich begann meine berufliche Laufbahn als lohnabhängig Beschäftigter 1957 -nach 8 Jahren Volksschule- und musste sie im Januar 1996 beenden, einzelne Bereiche der Firma für die ich arbeitete, wurden aufgelöst und meiner gehörte dazu. Damals war ich 52 Jahre alt und es war nahezu unmöglich, in diesem Alter einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Wer in der Freien Wirtschaft beschäftigt ist, wird das wissen.
Beim Arbeitsamt in Frankfurt, so hieß das damals wohl noch, hatte ich einen Sachbearbeiter, der mir ganz klar sagte, in meinem Beruf und mit meinem Gehalt ist es unmöglich einen neuen Job zu finden. Dazu kann ich nur sagen, „ich habe nichts anderes erwartet“.
Als Realist hatte diese Auskunft zunächst mal Einfluss auf meine Erwartungshaltung und mir wurde klar, ich muss Kreativität entwickeln bei dem, was ich in Zukunft tun werde.
Ein Jahr später lebte ich im Ausland -lebe dort heute noch für den überwiegenden Teil des Jahres- und musste mein ganzes Leben umstellen. Es bedeutete vor allem, Sprache(n) lernen, außer der Landessprache eben auch Englisch. Zugegeben, dies entsprach sehr meinen Interessen und ich konnte bald durch das Annehmen unterschiedlichster Tätigkeiten und ohne in das System Sozialhilfe abzugleiten, die Zeit bis zum Renteneintritt überbrücken. Zugegebenermaßen hatte ich auch Glück dabei und dies wird kein Modell für viele sein, aber zunächst bedeutete es für mich erst mal das, was mit „Arsch hoch“ umschrieben wird.
Die Arbeitsplätze in der Freien Wirtschaft unterliegen nun mal alle dem Gesetz der Rentabilität. Es braucht nicht viel Phantasie dazu zu erkennen, was das für den bedeutet, der einen solchen Arbeitsplatz besetzt….
Der heutigen Forderung, sich permanent den Veränderungen eines Berufsbildes anzupassen -Stichwort Weiterbildung- war ich schon ab den 1960er Jahren ausgesetzt. Ging es zuvor bei mir um hochkomplexe mechanische Büromaschinen, hielt sehr schnell in diesem Bereich mehr und mehr die Elektrotechnik Einzug, die wiederum sehr bald von der Elektronik abgelöst wurde. Ich entschloss mich in den späten 1970er Jahren noch einmal etwas ganz Neues anzupacken und wurde Softwareentwickler. Dies alles in der selben Firma über den Zeitraum von 31 Jahren.
Dass ich eine ambivalente Sicht auf die Schimpfkanonaden gegen Hartz IV habe, sieht man mir hoffentlich nach, auch vor dem Hintergrund der Äußerungen der zwei angesprochenen Damen.
@Juergen Malyssek
Was mir heute morgen zu diesem Thema durch den Kopf zieht ist vielleicht überspitzt, aber doch verständlich.
Die Hartz IV Sätze und die damit verbundenen Sanktionen sind der Wert den diese Gesellschaft den Menschen zugesteht, die Einbrüche in ihrem Leben verkraften müssen.
Da wir nicht alle gleich „funktionieren“ richtet dies beim einen mehr, beim anderen weniger Schaden an.
Der von Ihnen angesprochenen Augenhöhe stimme ich zu. Es ist aber nicht nur eine Frage der Bildung, sondern auch der Gabe der Resilience.
Die Wertschätzung jedes einzelnen kann nicht von seinem Status und seiner Bildung abhängig sein.
Wir alle haben unterschiedliche Gaben oder Talente. Den Wert eines Menschen daran zu messen, was er im Leben erreicht hat, sagt mehr über diejenigen aus, die danach Leben.
Will sagen, nicht jedem fällt es leicht, „seinen Wert“ zu erkennen um auch in Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit vom Staat zu leben ohne der Hoffnungslosigkeit Raum zu geben.
Wenn unser PC nicht funktioniert sehen wir nach den Ursachen und versuchen es zu beheben. Beim Menschen setzen wir funktionieren voraus, sonst …
Verstehen zu wollen ist für mich auch eine Lösung.
@Anna Hartl,
„Die Wertschätzung jedes einzelnen kann nicht von seinem Status und seiner Bildung abhängig sein“. Dieser Satz von Ihnen muss mit 100%iger Zustimmung unterschrieben werden.
Menschen, bei denen das was Sie mit Resilience beschreiben, zu früh verloren geht, haben nun einmal die geringsten Chancen. Das trifft ebenfalls voll zu.
Dass man sich auch für solche Menschen einsetzt, ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, um diese aber aus ihrem Dilemma herauszuführen, sind Anstrengungen von beiden Seiten notwendig.
Und das wiederum ist nach meiner Meinung das Dilemma bei der Diskussion um Hartz IV. Da sind wir, glaube ich, nahe beieinander.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Eine Bekannte von mir arbeitete einige Jahre lang an der Bundesagentur für Arbeit in der Betreuung von Hartz-IV-Empfängern. Sie erzählte. dass sie öfter festgestellt habe, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sich gar nicht die Mühe gemacht hätten, ihre Kunden umfassend über ihre Leistungsansprüche zu informieren, so dass einigen von ihnen Leistungen vorenthalten worden seien. Auf ihre versäumnisse hingewiesen, hätten diese Kolleginnen und Kollegen meiner Bekannten noch vorgeworfen, sie gebe sich zu viel Mühe mit ihren Klienten.
In solchen Fällen – und hoffentlich sind sie nicht die Regel – hat ein gebildeterer Mensch den Vorteil, dass er sich selbst über seine Ansprüche kundig machen kann und nicht vom Fleiß oder der Gutwilligkeit seiner Betreuer abhängig ist.
@ Manfred Schmidt
Ihre Argumente aus dem persönlichen Erleben sind absolut nachvollziehbar. Wobei Sie den Faden von den frühen Jahren her aufziehen. Alles klar. Jedoch die Kritik an Hartz IV findet in einer Zeit statt, die mit den 1960er/70er schwer zu vergleichen ist.
Wie dem auch sei, Sie haben recht, Herr Schmidt, dass es a) mehrere Sichtweisen zum Thema und b) dass es viele Gründe für das Abrutschen in Armut gibt.
Die eigenen Erfahrungen und verschiedenen Sichtweisen sind für mich kein wirklicher Streitpunkt. Aber die Haltung zu den Dingen und das Menschen- und Gesellschaftsbild sind mir wichtig. Da liegen wir meines Erachtens nicht weit auseinander. Man kann auch viele Jahre in der Freien Wirtschaft gearbeitet haben, ohne ein „Drecksack“ werden zu müssen.
Die Bedingungen dort sind natürlich andere als, sagen wir mal, im Sozialen Sektor (auch da gibt es befremdende Einstellungen und problematische Zeitgenossen).
Ihre Vita verfolgend, der ich auch gut folgen kann, da ich ab 1964 bis Mitte 1970 selbst in der Industrie gearbeitet habe, sowohl im Gewerbe (Druck) als auch als Industriekaufmann. Somit ist mir Ihre Schilderung sehr nachvollziehbar. Die Sache mit der Kreativität und mit dem „Arsch-hoch-kriegen“ kommt gut an.
Ich habe später gelernt, dass auch meine persönlichen Ressourcen (die mich bestimmt vor einem möglichen Abrutschen bewahrt haben) nicht übertragbar auf andere Menschen sind, die ich vor allem im Armutssektor (Soziale Brennpunkte, Wohnungslosenhilfe etc.) kennenlernte und auf die ich mich auch eingelassen habe.
Insofern ist es uns beiden gut gegangen. Wir haben weiter gelernt, auch in komplexen Gebilden und Strukturen. Aber, wie gesagt …
Wenn ich ehrlich bin, so weiß ich nicht, ob ich diese fortgesetzte Entwicklung der Digitalisierung noch wirklich verkraftet hätte?
Ich kann aufgrund unseres hiesigen Gedankenaustauschs auch Ihre „ambivalente Sicht auf die Schimpfkanonaden gegen Hartz IV“ verstehen, eben aufgrund Ihrer und auch in gewissen Anteilen mit meiner Vita. Ich habe auch die Äußerungen „der zwei angesprochenen Damen“ nachvollziehen können. Trotzdem ist es eine andere Lebenswelt als die der vielen anderen Betroffenen von Hartz IV.
Es geht halt nicht überall damit auf: „Wer will, der kann!“
Der Faktor „Resilienz“ spielt gewiss eine große Rolle im Kampf ums persönliche Überleben. Sie sprechen es weiter an (@ Anna Hartl).
Wir haben Glück und […] gehabt!
Letztlich bleibe ich bei meiner sozialpolitisch kritischen Sicht in Verbindung mit den erfahrenen Schicksalen der Menschen, die weniger Glück und tragfähige soziale Bindungen erlebt haben. Und die auch unsere Solidarität und Achtung brauchen.
Ich finde übrigens, wir haben hier eine gute Debatte geführt. Danke!
@Jürgen Malyssek,
ist es nicht erfreulich, dass man miteinander diskutieren, dabei unterschiedliche Meinungen beibehalten kann und dennoch die Meinung des Gegenübers respektiert? Sie verstehen meine ambivalente Sicht, ich respektiere Ihre Meinung, sie ist mir lieber als die derer, die aus dem Raster gefallene Menschen in Bausch und Bogen verurteilen. Wie gesagt, ein Problem scheint wirklich zu sein, die „Lebensgeister“ von Menschen zu wecken, die resigniert haben. Und dass das in größerer Zahl gelingen möge -nämlich die „Lebensgeister“ der Betroffenen wieder zu erwecken- halte ich für ein gesellschaftliches Erfordernis. Eine Aufgabe für alle Beteiligten.
@ Anna Hartl
Im Kern ist einiges vom dem, was ich gerade Manfred Schmidt geschrieben habe, auch Ihnen zugewandt.
Es geht nicht um verschiedene Erfahrungen oder Sichtweisen. Unter dem Strich ist die Grundhaltung entscheidend. Ich schätze durchaus das „Vive la differénce!“, aber das Wie!
Sie haben, Frau Hartl, die Resilienz ins Spiel gebracht. Die „Gabe“ hat nicht jeder. Das ist eine Ausstattung, die tiefe Wurzeln hat, die man selber nicht immer begreift, woher?
Das ist eine Seite des Problems und auch des Konflikts mit dem „Monster“ Hartz IV, je nach dem wie man dieser über 6 Mio Menschen umgreifenden Bürokratie begegnet.
Ich kehre auf die sozialpoltische Ebene zurück und sage: Mit der Agenda 2010 ist die Arbeitslosigkeit de facto vom gesellschaftlichen zum individuellen Problem erklärt worden, für die der Einzelne verantwortlich gemacht wird – die Schuld für sein soziales Schicksal ist auf ihn abgewälzt worden. Und inzwischen sind die Sanktionsregeln bei hartz IV ein unverhältnismäßiges Instrument zur Disziplinierung von Arbeitssuchenden geworden. Bei dem propagierten Prinzip des „Förderns und Forderns“ ist das Übergewicht längst beim Fordern und Strafen angekommen, wenn Leistungsempfängern sog. „Pflichtverletzungen“ nachgewiesen oder unterstellt werden. Das mag bei hier angesprochenen „privilegierten Hartz IV-Kunden“ in der Ausgangssituation und der Kommunkation anders und auch freundlicher ablaufen.
So ist das denn auch mit der Augenhöhe, die wir schon angesprochen haben.
„… nicht jedem fällt es leicht, „seinen Wert“ zu erkennen, um auch in Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit vom Staat zu leben ohne der Hoffnungslosigkeit Raum zu geben.“ So sehe ich das auch.
Der Mensch funktioniert nicht nur, wie es die schlichten technokratischen Gemüter gerne haben wollen.
„Verstehen zu wollen ist für mich auch eine Lösung.“
Zustimmung!
Auch Ihnen danke für diese offene und einfühlsame Debatte!