Der Publizist und Politologe Martin Hecht hat einen Gastbeitrag in der FR veröffentlicht, in der er die Gewissensentscheidung von Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts auseinandernimmt: „Von Müntefering über Vogel bis in die führenden Blätter der Republik herrscht Verständnis, wenn nicht Respekt für Abgeordnete, die so mutig ihrem Gewissen folgten. Was allenfalls verstörte, war das Timing in letzter Minute. Das sei „grenzwertig“ oder unmöglich gewesen. Keiner hat gefragt: Was hat das alles eigentlich mit einer Gewissensentscheidung zu tun?“
Hechts Argumentation: Gewissensentscheidungen sind Grenzfällen vorbehalten. „Das Gewissen war einmal reserviert für die großen ethischen Ausnahmefälle, bei denen es ums Ganze geht. Bis zu dem Tag, als Dagmar Metzger kam. (…) Zu einer echten Gewissensentscheidung gehört ein hohes Gewicht der Entscheidung. (…) In einem tatsächlichen Gewissenskonflikt hätten die Werte von Humanität, Freiheit, Rechtstaatlichkeit – verkörpert durch Metzger, Walter, Everts, Tesch – ihren Gefährdungen durch Unrecht, Unterdrückung, Menschenverachtung – verkörpert durch die sechs Abgeordneten der Linken – gegenüber gestanden. Aber war das auch der innere Konflikt, der die vier trieb? Eignet sich dieses Häufchen hessische Linkspartei für solch extreme Bewertungen? Oder ist es in Wirklichkeit nur an den Haaren herbeigezogen, eine Kontinuität der Unmoral zu beschwören, die vom historischen DDR-Folterstaat bis zur parlamentarischen Tätigkeit von sechs Fraktionsmitgliedern der hessischen Linkspartei im Jahr 2008 verläuft, um darauf eine Gewissensentscheidung zu gründen? (…) Ohne Zweifel befanden sich die vier Treulosen in einem schweren inneren Konflikt. Das war ihnen anzusehen. Nur hatte der einen ganz anderen Kern: Frustration, Enttäuschung, Aufmerksamkeitsdefizit. Sie fühlten sich übergangen und nicht genügend beachtet. Wollen wir das schlucken oder schlagen wir zurück? Nicht das Gewissen, sondern das gekränkte Ego hat da gesprochen – und forderte Satisfaktion. ‚Jetzt bin ich mit mir im Reinen‘, sagte Jürgen Walter. Gemeint hat er: ‚Jetzt sind wir quitt‘.
Gewissensentscheidungen haben einen großen Vorteil. Weil sie von einer inneren Stimme diktiert werden, sind sie nicht kritisierbar. Das lädt zum Missbrauch ein: Nicht weil die Abtrünnigen nicht anders konnten, sondern weil sie um die Fahrlässigkeit ihres Handelns wussten, begaben sie sich instinktiv in den Schutz einer Gewissensentscheidung.
Damit aber überschritten sie eine Grenze. Indem sie die höchste moralische Kategorie in der Politik als Allzweckwaffe für den eigenen Egotrip instrumentalisiert haben, haben sie diese bis zur Unkenntlichkeit entwertet. Nicht nur das – sie haben versucht, dadurch ihren eigenen moralischen Regelverstoß zu kaschieren.“
Dazu Heidemarie Spielbrink-Uloth aus Bad Vilbel:
„Martin Hechts Beitrag zum Thema ‚Gewisssensentscheidung‘ war das Beste, was zum 3.4.08 bisher beigetragen wurde, weil er die Begriffe, deren Inhalt und vor allem deren Verwendungszusammenhänge geklärt hat. Damit hat er nicht nur den Begriff geerdet, sondern auch den Blick auf die tatsächlichen Schuldigkeiten in der Sache „geplatzte Wahl“ zurechtgerückt. Nicht Ypsilantis von der Partei gebilligte Vorgehensweise war das Debakel, sondern die als ‚Gewissensentscheidung‘ bekleidete Mixtur aus Rivalität, Rachedurst, Gesinnungsmaximen, verletzten Eitelkeiten, Einflussverlust und Intrigen. Wo man Dagmar Metzgers ‚Notbremse‘ ohne den Gewissensvorbehalt einfach als Verweigerung aus Überzeugung noch hatte gelten lassen können, da ist jetzt die Inflationierung des ‚Gewissens‘ kritisch zu hinterfragen.“
George Andoor aus Leicester (UK):
„Sicherlich hat Herr Hecht mir mit seinen 20 Jahren Altersvorsprung einiges an Lebenserfahrung voraus. Doch bin ich mir sicher, dass er sich in diesem Fall eher von seinen Emotionen als von Fakten hat leiten lassen.
Bereits das Bundesverfassunggericht beschreibt eine Gewissenentscheidung als ‚jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte‘. Mehr noch: Es beschreibt eine Gewissensentscheidung als eine Entscheidung, ‚die für den Betroffenen als innerer Zwang verbindlich ist, so dass ein Zuwiderhandeln gegen diesen Zwang die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen würde‘. Es ist also gerade der Charakter einer Gewissenentscheidung, dass sie eine sehr subjektive Werteerfahrung darstellt, welche durch Art. 4 GG für alle Bürger geschützt ist. Bundestagsabgeordneten eröffnet das Grundgesetz in Art. 38 I 2 das Recht, sich auch als Amtsperson und Teil eines Staatsorgans darauf berufen zu können.
Es ist ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz (Grundrechtskommentar von Maunz-Dürig zu Art. 38 GG), dass die Berufung auf das Gewissen nicht ausschließlich echten Gewissenentscheidungen wie solchen, die Herr Hecht nennt, vorbehalten ist, sondern jeder Entscheidung. Dies ergibt sich aus dem freien Mandat des Abgeordneten, aus der Tatsache, dass ein Abgeordneter seine Funktion als Individuum wahrnimmt und nicht, wie viele meinen, als Auftragnehmer der Wähler, des Wahlkreises oder gar der Partei. Herr Hecht bringt hier das Wort und den Rechtsbegriff Gewissen gehörig durcheinander.
Es ist schade, dass Herr Hecht sich auf das Niveau einer Stammtischdiskussion hinablässt. War die Entscheidung der Abweichler klug? Sicher nicht. War sie politisch sinnvoll? Wohl nicht. War sie aber eine Gewissensentscheidung? Wenn sie es sagen, ganz sicher! Das macht eine Gewissensentscheidung aus. Sie ist der objektiven Prüfung nicht zugänglich.“
Dr. Jochen Vollmer aus Reutlingen:
„Dem Gastbeitrag kann ich weitgehend zustimmen. Eine Gewissensentscheidung ist ethischen Grenzfragen vorbehalten, in denen es um Leben und Tod geht. An einem Punkt möchte ich Martin Hecht aber ergänzen. Die Entscheidung, einen Wortbruch mitzutragen, kann sehr wohl die Qualität einer Gewissensentscheidung in Anspruch nehmen, auch wenn sie von den betreffenden Personen erst sehr spät erkannt wird. Die Stimme des Gewissens kennt keine zeitlichen Fristen.“
Frau Metzger glaube ich ihre Gewissensentscheidung. Sie hat sie auch reichlich begründet, erläutert, nicht damit hinterm Berg gehaltem. Und wenn sie der Meinung ist, ganz links ist nix demokratisches, mache ich auch keine gemeinsame Backstube mit ihnen auf.
Den anderen kaufe ich das Deckmäntelchen „Gewissensentscheidung“ nicht ab. George Andoor verweißt zurecht auf die Erläuterungen des BvG hin, aber wie das abgelaufen ist, kann ich nur Martin Hecht recht geben. Wenn in einem Nobelhotel plötzlich sich das Gewissen rührt – wie man sich bettet so liegt man – dann hat wer das Badehandtuch mitgehen lassen.
Kommen wir zu dem Gewissen – ich betreibe 8 Monate Schweigen, ich betreibe 8 Monate Zustimmung, nehme an den Koalitonsverhandlungen teil und dann lasse ich wieviele wegen meinem Gewissen über die Klinge springen, auch unbeteiligte die nicht der SPD angehören, weswegen ich nun gar kein schlechtes Gewissen habe?
Ich gehe trotdem wählen, den Sohn der Wüste natürlich, wenn er nicht vorher in die Bundespolitik flüchtet.
Ich denke jeder dieser Gewissensentscheider haben in naher Zukunft einiges an Nachteilen zu erwarten und dass allein ist für mich ein Indikator für Mut und Berechtigung auch zu diesem späten Zeitpunkt zu entscheiden.
Sollte es doch andere Gründe geben die sich uns zu diesem Zeitpunkt nicht erschließen werden sie auffallen und an die Öffenlickeit gezerrt werden.
Nach wie vor Hut ab vor so viel Courage
Dann hoffen wir mal, daß das Gewissen vieler nicht anfängt Capriolen zu schlagen.
sehr gern ,wenn es der Warheit in der Öffenlichkeit nahe kommt !
du weißt – umgekehrt ist auch was wert, oder?
Da gibt es heute auf der Seite 6 der Printausgabe der FR die Kurzmeldung, dass Dieter Althaus beim Landesparteitag der ?DU mit 100 % bestätigt wurde. Da hatten also die Delegierten allesamt kein Gewissen, dass sie mit der Blockpartei der DDR verglichen werden könnten.
Gewissen hin oder her – wer monatelang braucht, eben dieses zu entdecken, um dann in letzter Minute Laut zu geben, ist nicht glaubwürdig. Und dies gerade wegen der zu erwartenden und nun eingetretenen Angriffe durch die eigene Partei. Man darf zu Recht fragen, wie (und von wem) den Dreien der Abschied von der Macht (Verlust des Landtagsmandats) versüßt wird. Vor dieser Art von „Courage“ muss nun wirklich niemand den Hut ziehen. Wer es dennoch tut, ist m. E. grenzenlos naiv.
Sicher müssen die vier Abweichler in naher Zukunft mit Benachteiligungen rechnen. Die Partei kann sie ja nun schlecht für diesen fragwürdigen Schritt loben.
Sie hatten ja anfangs noch gehofft, dass eine Große Koalition zustandekommt. Ohne Koch und ohne Ypsilanti. Aber mit ihrer Mitwirkung.
Doch dazu war dann der Zeitpunkt ihrer Offenbarung zu spät gewählt.
Sie sind dieses Risiko eingegangen und haben – so wie es sich derzeit darstellt – verloren.
Ob sie sich der schlimmen Tragweite ihrer Handlung voll bewusst waren ? Es ist doch schließlich auch „ihre“ Partei, der sie schweren Schaden zufügen.
Jetzt kann sie ihr Gewissen nur noch dazu drängen, ihr Mandat niederzulegen…
maderholz
Es wird sich zeigen ob und in wie weit ihnen dieser Schritt versüßt wurde,warten wir es ab.
Wenn dem so nicht ist und sie an ihrem Mandat festhalten wäre ich gern doppelt Naiv,denn dann hätten wir wirklich mal Mandatsträger mit Courage.
Ist doch was sich alle mal wünschen ,oder passt das nicht mehr ins Bild?
Sind wir wirklich so weit nicht mehr daran zu glauben,weil wir schon gar nicht mehr glauben wollen ?:-)
…wenn sich der Landtag auflöst, Neuwahlen anstehen, sind die alten Mandate sowieso erloschen.
In den Wahlkreisen werden neue Kandidaten er mittelt und schießlich gewählt…
maderholz
@alterbutt:
Wenn der Wunsch Vater aller Gedanken ist… wollen wir mal seine Durchlaucht den Fürst Roland vom hinteren Teil des Blogs hier hervorzerren?
Wir haben bestimmt noch viele andere Themen hier, wo deine von dir definierte Courage sich in deinen Wortgebilden plötzlich in Wohlgefallen auflöst, dann von etwas ganz anderem die Rede ist. Liegt aber wahrscheinlich am falschen tag (engl.).
Mich düngt es, da ist wieder wer schwer am taperzieren.
Wohl dem der die Weisheit und Warheit mit dem Löffel gefr…hat
Mein lieber rü ,wenn Du keine Wünsche mehr hast bekunde ich Dir mein Bedauern.
Und wenn ,wie Du schreibst es hier viele andere Themen gibt,soll „es“ und Du mich nicht hindern meine Meinung zu schreiben unabhängig ob es immer „so“ oder Dir oder anderen gefällt.
Fangen wir doch mal im kleinen mit gegenseitigen Respekt an,dann wird es schon klappen in diesem Land.
Mich düngt ,Dich düngt …:-(na dann zieh mal wieder blank
Respekt muß man sich verdienen, den gibt es nicht automatisch und ist nicht gleichzusetzen mit flächendeckenden „Zuckerrohranbau“, gelle?
Und bei Smilies (Smileys) immer Leerzeichen vor und dahinter, schlimm schlimm, diese verkommene ICQ/MSN-Smileykultur.
Und du mußt dich hinten anstellen, schön warten, mit der Beileidskundgebung. Bis dahin kannst ja überlegen, ob es mir nicht erlaubt ist, zu deiner Schreibe in diesem Fall nicht schweigen zu müssen, wg. der nun getagten Respekauslegung. Das willst doch, oder hört es schon wieder auf, mit der Courage, dem Gewissen und was damit einhergeht?
Ich bin Frau Metzger hier und du…? wahrscheinlich die Vertretung der schweigenden 3/4 Mehrheit – bis zum Tag X.
tut mir leid ,ich verstehe Dich nicht,aber Du hast meinen Respekt.
…bisher wurde das Thema mal wieder gründlich verfehlt – obwohl, so schwierig ist’s doch garnicht.
Verletzte Eitelkeiten sind halt wichtiger,denn sie gehen ins persönliche.
(:-)
Weiß ich nicht, ob verletzte Eitelkeiten hier in den Mittelpunkt gerückt worden sind. Das Thema wurde keinesfalls verfehlt, es wurde nur ein andere Weg genommen. Bißchen krumm und erdig, geb‘ ich ja zu.
Sich über die Gründe der 4 Gedanken zu machen führt nicht weiter. Die ?PD hat ein Wahlprogramm gehabt. Darin stand nichts davon, mit wem koaliert oder nicht koaliert werden soll. Das Programm war für Wähler nachvollziebar. Mit diesem Programm ist A. Ypsilanti angetreten und hat die ?PD von 26 % auf 36 % gehievt. Das soll ihr erst einer ihrer Kritiker nachmachen. Bei denen ist eher die 18 % das Ziel, scheint mir. Wie die Rest-?PD (außerhalb Hessens) mit ihr umgegangen ist, grenzt an Mobbing. Die VIER sollten sich mal dazu äußern, warum sie als Kandidaten für ein Wahlprogramm antraten, welches sie nicht mittragen wollten. Und an den Antworten darauf müssen sie sich messen lassen. Mit ?DU oder der ?DP ließ sich das Programm jedenfalls nicht verwirklichen. Die Letztgenannte verweigerte sich ja auch noch und niemand aus dieser Partei scheint sich Gedanken darüber gemacht zu haben, dass in einem Landtag vertretende Parteien miteinander koalieren können müssen. Haben sich die Freien Demokraten in Hessen nun von Koalitionen außer mit der CDU verabschiedet? Dann könnte der Wähler doch lieber das Original – nämlich Koch – wählen.