Im Interview vergleicht der französische Soziologe Didier Eribon den Rechtspopulismus in Frankreich mit dem in Deutschland: Vor etwa zwei Jahren habe mit der AfD hierzulande eine Entwicklung angefangen, die seit den achtziger Jahren mit dem Front National in Frankreich zu beobachten sei. In beiden Ländern füllten die rechten Parteien ein Vakuum, indem sie gezielt die vernachlässigte Arbeiterklasse ansprächen. Die Antwort darauf solle allerdings kein „linker Populismus“ sein. Das Interview ist auf FR-online.de nur gegen Bezahlung zugänglich. Es hab also wenig Sinn, es hier zu verlinken. Es war am 2.12. unter der Überschrift „Wir brauchen keinen linken Populismus“ auch in der Print-FR, die ich Sie zur Hand zu nehmen bitte. Dazu der Gastbeitrag von FR-Leser Jürgen Malyssek aus Wiesbaden.

Spaltung der Gesellschaft

Jürgen Malyssek, Wiesbaden


Auch in der Kürze dieses Interviews mit Didier Eribon offenbart sich das ganze Dilemma der rechtspopulistischen und nationalistischen Entwicklung in den führenden westlichen europäischen Ländern. Mit dem Verlust der Klassenidentität, ersetzt durch die nationale Identität („Wir sind das Volk!“ – „Wir sind die Deutschen!“ usw.), hauptverursacht durch eine elitäre Politik mit der chronischen Vernachlässigung der sozialen Frage. Die wiederum hat neue Formen der Prekarisierung hervorgebracht. Und so erleben wir heute diese Angst, diesen Frust, diesen Hass in der Gesellschaft, den sich die Rechtspopulisten und Neofaschisten zu Nutze gemacht haben. Mit einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik – die nun mal und insbesondere (eigentlich grotesk!) die Sozialisten und Sozialdemokraten in Europa mit zu verantworten haben –, wurde Arbeitslosigkeit vom gesellschaftlichen zum individuellen Problem erklärt.

Eribon spricht selbstbewusst von den Arbeitern, dem Arbeitermilieu, der Arbeiterklasse, weil er selbst aus dieser Klasse kommt. Er spricht davon, dass das Übel darin lag, „die Existenz einer Sozialstruktur nach Klassen zu verleugnen. Stattdessen sprach man von der Selbstbestimmtheit des Individuums und dessen Verantwortung für sich selbst.“ Der Arbeitslose wurde vom Opfer zum Täter seiner Notlage herabgewürdigt. So nimmt man den Menschen ihre Identität.

Damit einhergehend der weitere Verlust von Solidarität und sozialen Netzwerken in der Arbeiterklasse. Ersetzt seit Jahren durch eine verlogene Wachstums- und Fortschrittsideologie und einer unaufhörlichen Forcierung des Massenkonsums mit einem übermächtigen Markt der Monopole. Die Sozialdemokratie in Europa – ein Fiasko!

Eine linke Politikdebatte muss nicht nur auf dem alten Muster der Umverteilung stecken bleiben, sondern die Spaltung der Gesellschaft ist auch als ein Verlust von Identität, Verachtung von Minderheiten und sozialen Randgruppen zu erkennen. Das heißt, Integration und Inklusion, respektive Ausgrenzung und Exklusion sind dialektisch viel komplexer als sie nur auf die materiellen Mittel und deren Verteilung zu reduzieren. Der Aspekt der alten und neuen Ideen von Solidarität, Netzwerken und Milieuverständnissen, ist von elementarer Bedeutung: Zu wissen, was es heißt isoliert, abgehängt, ausgegrenzt und sozial verachtet zu sein sowie seine Würde verloren zu haben. Von einer solchen Debatte ist Deutschland, ist Europa weit entfernt.

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18 Kommentare zu “Spaltung der Gesellschaft

  1. Gibt es denn diese Arbeiterklasse überhaupt noch und wer möchte dazugehören? Es war und ist doch das Ziel der meisten Menschen, heute mehr als früher, sozial aufzusteigen, und wenn man das nicht selbst schafft, möchte man – zu Recht – den eigenen Nachkommen diese Möglichkeit eröffnen. Der internationale Trend geht ja dahin – und so falsch ist er angesichts der Umgestaltung der Arbeitswelt durch Digitalisierung auch nicht – dass Länder, denen es nicht gelingt, einer hohen Anzahl von Schülern aus der Arbeiterschicht bessere Bildungsabschlüsse zu ermöglichen als die der Eltern, international angeprangert werden. Wo soll da ein gesundes Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse herkommen?
    Hinzu kommt, dass die Arbeitnehmerschaft in der Industrie aufgespalten ist in die gutbezahlte Stammbelegschaft und prekär beschäftigte Leiharbeiter und befristet Beschäftigte. Auch kein Zustand, der Klassenbewusstsein und Solidarität fördert.

  2. Arbeiter und Angestellte, denen man einredet, Arbeitnehmer zu sein, erweisen sich nicht erst in den Zeiten des Neoliberalismus als empfänglich für schlichte politische Rezepte mit autoritären und faschistischen Inhalten, die im Kern gegen ihre eigenen Interessen gerichtet sind.

    Siegfried Kracauer hat dies in seiner 1930 erschienenen Studie „Die Angestellten“ nachgewiesen. Die exemplarischen Milieuschilderungen belegen, dass sich die Angehörigen der besitzlosen Klasse (also des Proletariats, das über kein Eigentum an Produktionsmitteln und über kein Finanzkapital verfügt und folglich keine Entscheidungen treffen kann) mit einem Opiumderivat über ihre Situation hinwegtrösten: Sie sehen auf die hinunter, denen es vermeintlich (noch) schlechter geht als ihnen und träumen davon, irgendwann Kapitalist zu werden. Gleichzeitig versuchen sie alles, um ihre klein(st)bürgerliche Position gegen den Abstieg zu verteidigen (letzterer ein Bestandteil beim Fortschritt der Produktivkräfte). Diesen Kampf gegen den Abstieg begreifen sie jedoch nicht als Klassenkampf gegen die Herrschenden, sondern als aggressive Diffamierung jener, die sich auf der untersten Stufe der Elendsleiter befinden (Arbeitslose, Geflüchtete, Fremde generell). Ihnen verweigern sie die Solidarität.

    Kracauers journalistische Recherche deckte sich weitgehend mit einer Untersuchung, die Erich Fromm, Anna Hartoch, Herta Herzog, Hilde Weiß und Ernst Schachtel von der Abteilung Sozialpsychologie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1929/1930 durchführten (auf der Basis von ca. 700 ausgefüllten Fragebögen) und die zu ähnlichen Ergebnissen gelangte. Sie wurde unter dem Titel „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs“ erst 1980 in deutscher Sprache publiziert.

    In der Gegenwart spitzen sich diese Tendenzen noch zu: Statt der Globalisierung des Kapitals den Internationalismus der Werktätigen entgegenzusetzen, entdecken die Lohnabhängigen an sich selbst Defizite („Sind wir zukunftsfähig angesichts der Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung?“), die ihnen die wirtschaftlich Mächtigen einreden.

    Allerdings beschrieben bereits Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ vom Februar 1848 die reaktionäre Seite speziell des deutschen Arbeiters bzw. des deutschen Sozialisten: „Er proklamierte die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen … Er zog die letzte Konsequenz, indem er direkt gegen die »rohdestruktive« Richtung des Kommunismus auftrat und seine unparteiische Erhabenheit über alle Klassenkämpfe verkündete…“.

    Man kann angesichts einer solchen Entwicklung durchaus von einer Erbsünde der Sozialdemokratie sprechen, was jedoch die Schröder, Müntefering, Gabriel, Nahles, Steinmeier etc. nicht entlastet.

    Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass Marx bereits 1880 in einem „Fragebogen für Arbeiter“ den Begriff des Proletariers nicht auf den so genannten „Malocher“ reduzierte. Er verstand darunter Arbeiter und Angestellte unterschiedlicher Qualifikation und Lohneinkommen, denen die Nichtteilhabe an den Produktionsmitteln gemeinsam war (Marx/Engels, Werke, Band 19).

    Der durch die Machtverhältnisse von seiner Arbeit entfremdete Mensch spürt die Widersprüche einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft sehr wohl (das Gefühl einer allgemeinen Unzufriedenheit ist dafür typisch). Aber er muss, will er diese Widersprüche beseitigen, ehrlich sein gegenüber sich selbst. Nur dann ist er davor gefeit, dass sein Kopf nicht der Ideologie der herrschenden Verhältnisse gehört, seine Arbeitskraft nicht dem Kapital, sein erarbeitetes Vermögen nicht den Finanzspekulanten, sein Leben und seine Gesundheit nicht der Nahrungsmittel- und Medizinindustrie, sein Privatleben nicht Google, Facebook und anderen asozialen Netzwerken.

    Auf Erlösung von außen darf er nicht hoffen, schon gar nicht von den braunen Kolonnen des Kapitals (AfD, Pegida, Dritter Weg, Querfront etc.). Nein, er muss sich selbst befreien! Das geht nicht ohne Erkenntnis der tatsächlichen Situation. Angesichts der allgegenwärtigen Manipulationsversuche erscheint mir das als der schwierigste Teil des Wegs.

  3. Die Frage von Brigitte Ernst, ob es ‚diese‘ Arbeiterklasse noch gibt, ist nicht unberechtigt. Und was uns nach der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt noch erwartet, kann schon noch ein blaues Wunder sein. Aber trotzdem ist es wichtig, sie (die Arbeiterklasse) auch in der Gesellschaftsdiskussion unter den veränderten Arbeitsbedingungen so bestehen zu lassen. Gleichwohl müsste man von Arbeiter- und Angestelltenklasse sprechen.
    Wir brauche die alten Begriffe wie Klassenbewusstsein oder Solidarität, um zu verstehen, was sich offensichtlich und schleichend verändert hat. Sagen wir mal so: seit den 1950er Jahren bis heute, bis zum allmählichen Verschwinden des uns noch bekannten Klassenbewusstseins und des Zugehörigkeitsgefühls, verbunden mit den Momenten Berufsstolz und Betriebstreue (Opelianer oder Knappe im Bergbau zu sein, usw.).
    Didier Eribon sagt in seinem Interview mit Recht, dass die Klassen existieren, auch wenn keiner darüber sprechen möchte!
    Für diese Debatte sind die Ausführungen von Klaus Philip Mertens sehr hilfreich, weil sie die vorliegenden Gedanken mit weiteren Punkten erweitern, die ich gerne unterstützen möchte.
    Da ist zum Einen Mertens‘ Hinweis auf den Kulturkritiker und Stadtflaneur Siegfried Kracauer, dessen Verdienst es u.a. ist, mit seiner Studie „Die Angestellten“ diese Milieuschilderungen zu beschreiben, bei feinster Beobachtungsgabe, die auf die Widersprüche der Angehörigen der besitzlosen Klasse (Proletariat) hinweisen, zwischen einer Angst vor dem Abstieg und dem Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg der Besitzenden. Was sich äußert in der Abgrenzung nach noch weiter unten, sprich: Diffamierung der Armen und Elenden, und der bereitwilligen Anpassung an die falschen Versprechen der Herrschenden.
    Also die Widersprüchlichkeit, die es zu erkennen gilt (siehe Christian Thomas, FR-Feuilleton vom 26./27. November: Rezension der aktuellen Biographie über S. Kracauer von Jörg Späters), die Ambivalenz, die Uneindeutigkeit der Arbeiter und Angestellten, die überhaupt nicht frei von der Abgrenzung nach noch weiter unten waren (s.o.)
    Herr Mertens hat ja alles Weitere dazu noch genauer gesagt.
    Zum Anderen möchte ich nochmal auf das hinweisen, was Herr Mertens auch noch ausführt, nämlich die „reaktionäre Seite des deutschen Arbeiters bzw. des deutschen Sozialisten“. Desweiteren das Eingeständnis, das auch von Eribon kommt: Rassismus hat es schon immer in der Arbeiterklasse gegeben, auch Homophobie. Und er zitiert Jean-Paul Sartre: „Im normalen Leben ist ein französischer Arbeiter zwar rassistisch. Aber sobald es einen Arbeitsstreik gibt, kommen selbst die Menschen zusammen, die sonst verfeindet sind.“ Man kann auch den Arbeitsstreik ergänzen mit gemeinsamen Aufgaben, Herausforderungen. Auch Albert Camus äußerte sich in seinen politischen Essays und Vorträgen in ähnlicher Weise. Persönlich kann ich wiederum das aus meinem alten Status als Arbeiter und Angestellter in der Industrie bestätigen.
    Ich teile die Skepsis von Mertens auf die geringe hoffnung auf Erlösung des von seiner Arbeit entfremdeten Menschen. Was für uns alle Menschen Gültigkeit hat: Er muss sich selbst befreien. Sonst wird das nichts. Deswegen ist der allzu gerne benutze schnelle Ruf nach der Lösung nicht der folgerichtige, sondern die „Erkenntnis der tatsächlichen Situation“ (Mertens) ist unabdingbare Vorraussetzung. Und das ist nicht wenig anspruchsvoll. Vor allem angesichts der ungeheuren manipulativen Kräfte im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung.
    die fortgesetzten Kränkungen der Ausgegrenzten landen schließlich in den Zonen, die wir heute so beklagen: REchtspopulismus, Nationalismus, Radikalisierung, Verrohung (u.a. Heinz Bude), auch mit Unterstützung der Arroganz der Eliten. Und gerade deshalb müssen wir widerständig weitermachen.

  4. Frau Ernst fragt, wie ich finde zu Recht, ob es heute noch so ist wie früher und die Antworten sind von früher (1930 und 1848).
    Ich frage mich, ob Marx und Engels sowie Kracauer der letzte Stand der sozioligischen Forschung sind.

  5. Diese Diskussion erscheint mir zu abgehoben. Menschen, die nicht(mehr) dazugehören, ordnen von oben herab andere bestimmten Gruppen zu und beklagen die Veränderung der Welt. Für mehr als ein soziologisches Seminar taugt das nicht. Um Verbesserungen herbeizuführen, reicht es nicht, von anderen ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Klasse zu fordern, die so gar nicht mehr existiert. Wie wollte man ein solches Bewusstsein denn auch herbeiführen? Der einzige Weg dazu verliefe über Bildung, und diejenigen, die diesen Bildungsstand erreicht haben, gehören und zählen sich dann automatisch nicht mehr zur Arbeiterklasse, sondern zu den Intellektuellen.
    Um Ungerechtigkeit zu erkennen, bedarf es keiner Klassenzugehörigkeit, was dieses Blog deutlich macht, und wer sie abschaffen will, muss an der Wurzel des Übels ansetzen und z.B. prekäre Arbeit abschaffen und den Menschen Sicherheit und eine Zukunft geben, egal, welche Theorien Marx, Engels oder Kracauer aufgestellt haben.

  6. An Henning Flessner und Brigitte Ernst:
    Es ist schwer eine solche Diskussion zu führen, wenn sie jetzt schon als abgehoben interpretiert wird. Es geht nicht darum, die Antworten für heute aus den Jahren 1930 und 1848 zu finden, sondern um die Wahrnehmung der schwierigen widersprüchlichen Wirklichkeiten der Arbeiter- und Angestelltenklasse. Damit um die Schwierigkeit einer Veränderung. Und damit eben nicht von oben herab irgendwas zu verordnen und zu beklagen, sondern mit der „Erkenntnis der Situation“ keine unmöglichen Veränderungen von oben zu erwarten.
    Natürlich ist ein Klassenzugehörigkeitsgefühl ein Boden, um von unten eine Veränderung zu erreichen. Wozu denn die ganze Gewerkschaftsbewegungen?
    Was ist denn nun die Wurzel des Übels?
    Wer hat denn die prekären Arbeitsverhältnisse geschaffen? Wer hat den Menschen in unserem vormals durchaus funktionierenden Sozialstaat die Sicherheit genommen und die Perspektiven?
    Die Theorien Marx, Engels oder Kracauer sind doch keine Lösungsrezepte, sondern sie zeigen auf, wie die Systeme und die Klassen funktionieren. Weder Herr Mertens noch ich haben einen Ansatz von Veränderungen von oben aufgezeigt oder irgendwelche intellektuellen Spielchen gemacht. Eine Bewußtseinsveränderung zu erfahren, ist wie eine saure Zitrone. Ganz ganz schwer. Letztlich geht es darum, zu wissen wer man ist und auf welcher Seite man stehen will.

  7. @ Jürgen Malyssek
    Ich bin nicht der Auffassung, dass man zu einer bestimmten Klasse gehören muss, um zu verstehen, dass die Güter und Chancen in unserem Land und mehr noch in der restlichen Welt aufgrund von Ausbeutung weniger privilegierter Bevölkerungsgruppen ungerecht verteilt sind. Und es bedarf auch keines Klassenbewusstseins, um die Notwendigkeit zu sehen, diese ungerechten Zustände zu verbessern. Ich selbst bin in einem gut situierten bildungsbügerlichen Elternhaus aufgewachsen und habe einen akademischen Beruf ausgeübt, der mir eine auskömmliche Altersversorgung beschert hat, und dennoch sehe ich die Notwendigkeit, eine Partei zu wählen, die für sozialen Ausgleich eintritt. Und ich habe viele Freunde und ehemalige Kolleginnen und Kollegen, die eine ähnliche Position vertreten, einfach weil sie sich als Menschen fühlen und Solidarität mit anderen Menschen verspüren, ganz abgesehen von dem Wunsch, in einem stabilen Staat ohne Extremismus und soziale Unruhen zu leben. Aber vielleicht stammen wir alle noch aus der Zeit der 68er, die allmählich aussterben.
    Mein Problem ist nicht das Bewusstsein, sondern der Mangel an Politikern, die bereit und in der Lage zu sein scheinen, de facto ein gerechteres Gemeinwesen aufzubauen. Früher habe ich diese Ziele bei der SPD oder z.T. auch bei den Grünen verortet, seit der Agenda 2010 bin ich und sind viele mit mir politisch heimatlos geworden.

  8. Vielleicht fängt man mal damit an das man nicht zwischen Angestellten und Arbeitern unterscheidet. Da hat man schon eine Lebenslüge weniger. Das macht die IGM übrigens schon seit vielen Jahren

  9. An Brigitte Ernst und hans:
    Was Sie, liebe Frau Ernst, im letzten Absatz sagen, sehe ich auch nicht viel anders. Trotzdem bleibe ich bei der Bedeutung des Klassenbewusstsseins. Ich zweifele auch nicht dran, dass man aus einem gut situierten bildungsbürgerlichen Haus sehr wohl die gesellschaftlich notwendigen Veränderungen erkennen kann. Fast setze ich’s voraus. Aber mir geht es auch um die möglichen Veränderungen von unten, so schwierig sie auch sein mögen. Sicher kann man vieles aus der 68er Zeit lernen, wenn man nicht dogmatisch an reinen Lehren festhält. Außer den Stichworten Solidarität und Klassenbewusstsein, ist die Auseinandersetzung mit der Freiheit ein wichtiger Aspekt, wie wir heute mehr als deutlich erleben können. Siehe weiter oben bei den Kommentaren.
    Um noch einmal auf die Sozialdemokraten zu sprechen kommen, so streube ich mich langsam, immer wieder zu erklären, wie ich mir wünsche, wie diese Partei eigentlich zu sein hat. Man kommt sich ja fast schon wie ein Erziehungsberater vor. Entweder sie (die Partei) kriegt die Kurve (was ich bezweifle) oder dann ist die Ära eben zuende. Zu groß ist Anspruch und Wirklichkeit auseinander geraten.
    Ansonsten (hans) habe ich vorstehend schon die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben. Zumindest in den allermeisten Bereichen.

  10. @ Jürgen Malyssek

    Veränderung von unter wäre toll, aber wie wollen Sie die Notwendigkeit dazu in die entsprechenden Köpfe einpflanzen? Ganz unten hat sich doch längst Resignation breitgemacht. Früher war die Gewerkschaft eine Instanz, die hier aufklärerisch wirkte, aber für das Heer der prekär Beschäftigten bringt es ja nichts mehr, dort einzutreten, wenn die Tarifabschlüsse für sie gar nicht gelten.

  11. An Brigitte Ernst:
    Ich bin alles andere als optimistisch, was die Frage der Veränderung von unten angeht. Aber es geht nicht darum etwas in die entsprechenden Köpfe einzupflanzen. Das funktioniert so auch nicht. Ich zähle augenblicklich auch nicht unbedingt auf die Kraft der Gewerkschaften. Aber sie sind es, die als Funktionäre, Vertreter der Arbeiter und Angestellten was bewirken können. Intellektuelle sind hilfreich und notwendig, aber unmittelbar können sie auch nichts bewirken. Das Heer der prekär Beschäftigten und der diskrimierten Arbeitslosen, das alles hat uns die Politik der letzten 20 Jahre beschert. Und darüber ist eigentlich alles gesagt worden. Übrigens habe ich jetzt erfahren, dass die erste Auflage des Buches „Die Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey), suhrkamp,schon vergriffen ist, und gerade wieder gedruckt wird. Ist doch ein Zeichen, dass ein Interesse am Thema ist.

  12. Ich steige etwas, vielleicht zu spät, in den Diskurs ein. Für mich stellt sich die Frage anders: Wer fühlt sich eigentlich welcher Klasse zugehörig, und warum? Und warum nicht? Mein Kopf sagt mir oftmals etwas anderes als mein Bauch. Vom Kopf her bin ich Arbeiterklasse, vom Bauch her aufgestiegen. Will ich zu den Gewinnern oder den Verlierern gehören? Will ich wirklich kämpfen und warum, und für wen, wenn ich mich nicht mehr zugehörig fühle? Die SPD als, angebliche, Vertretung ist für mich das typische Beispiel, in ihrer Wandlung und Verwandlung von der alten Ausrichtung zur neuen „Aufsteiger“-Partei unter Schröder & Co. Da wurde doch nicht nur mit den Eliten paktiert, weil man hoffte, von den Brosamen vom Tisch etwas abzubekommen! Da zählte man bzw. Mensch sich selbst zur Elite. Und genau das hat dann die wirklich Abgehängten in die Arme der AfD getrieben. Wenn links keine Hoffnung mehr auf Veränderung verspricht, probiert mensch es eben rechts, die Geschichte von Hitler, Mussoline, Franko bis heute zu den rechts-populistischen bis rechts-nationalen Parteien läßt grüßen.

    Begeben wir uns in die, ich sage mal, Niederungen, in denen sich normale Arbeiter der Faust oder des Kopfes bewegen, dann können wir diesen mehr oder weniger vom Abstieg, tatsächlich oder befürchtet, Betroffenen, nicht mit Erzählungen kommen. Sie wollen eine reale Änderung, und wenn eben links nur Geschwafel bzw. hoch-intellektuelle Erklärungen anbietet, mag man die ärmelaufkrempelnden Worte auf der Rechten, eben das, was wir Hessen früher als „Gehe mer uff die Gass“ bezeichnet haben. Genau das ist es nämlich, auch geistig „uff die Gass'“ zu gehen, und die Menschen dort wahr zu nehmen, ernst zu nehmen, und zu treffen, in ihrem Alltag, ihrer Wirklichkeit.

    Widerspruch gerne.

  13. An Wolfgang Fladung:
    Das, was ich Ihnen bereits geschrieben hatte, ist leider wieder abgestürzt. Neuer Anlauf.
    Ihre Fragen finde ich in Ordnung. Wer fühlt sich eigentlich welcher Klasse zugehörig und warum? Und warum nicht? Das Gefühl einer Klassenzugehörigkeit ist ja keine intellektuelle Leistung (etwas vielleicht). Sondern hat damit was zu tun, dass man weiß, woher man kommt und was man erfahren hat. Ich bin bei nüchterner Betrachtung sozial aufgestiegen, wenn ich auf meine Herkunftsverhältnisse schaue. Ich fühle mich aber nicht als Aufsteiger (Bauch!). Vielmehr fühle ich mich mehr der Arbeiterklasse zugehörig, zumindest so wie ich sie noch gekannt habe. Ich bin in den Ebenen der normalen Arbeiter und mittleren Angestellten emotional stärker geprägt als in den weiter oben liegenden Etagen. Hinzu kommen meine Erfahrungen in der Arbeit mit den gesellschaftlichen Aussenseitern, der Armutbevölkerung. Da bleibt zum Schluss wenig Platz für Aufstiegsgefühle, eher Demut.
    Der Hang der Sozialdemokraten, die vor allem poltitisch aufgestiegen waren, sich immer mehr den Eliten anzubiedern, ist mir schon immer unangenehm aufgestossen. Die SPD, wie Sie sie mit den Genossen der Bosse (Schröder, Clement, Steinbrück, Müntefering und Co.) beschreiben ist wirklich typisch. Es kommt mir vor, die Kompensation eines tiefliegenden Minderwertigkeitsgefühls, das durch die Erringung und Erhaltung der Macht gut erhalten werden kann. Das, was seit der Agenda 2010, von der Sozialdemokratie und den Grünen verantwortet, gesellschaftlich entstanden ist, hat erst die Gründung der Partei Die Linke möglich gemacht. Ansonsten ist es so, wie Sie sagen, werden die sog. Abgehängten in die Arme der AfD, der Rechtspopulisten, der Rechtsnationalen u.a. getrieben. Mit irgendwelchen Erzählungen braucht man tatsächlich den Betroffenen nicht mehr zu kommen. Wenn man so will: „uff die Gass“ zu gehen und die richtige Sprache zu finden, ist jedenfalls näherliegend als hoch-intellektuelle Erklärungen abzugeben. man muss sich auf diese menschen einlassen und deren Alltag versuchen zu verstehen. Da hat die Linke nun auch nicht das neue Rad erfunden. Das weiß ich aus naher Erfahrung mit einer Partei, die heute sehr wichtig ist, aber mit der Bodenhaftung ist es oft auch nicht so weit her. Es ist zwar nicht immer nur Geschwafel, aber auch Marx und Engels retten die soziale Schieflage nicht mehr. Natürlich ist die alte Arbeiterbewegung nicht mehr da. Aber es gibt die Klassengesellschaft noch immer.
    Ich mache hier mal einen Punkt, bevor das nächste Aus meines alternden Laptops kommt.
    Friedliche Weihnachten!

  14. Hallo, Herr Malyssek,

    erst einmal vielen Dank für die Replik. Ich denke oft, das ich eher so als eine Art weltfremder Spinner angesehen werde, welcher sich der Realität verweigert und unfähig ist, Kompromisse einzugehen und zu beschreiben.

    Dazu fällt mir dann das alte Wort ein: „Zwischentöne sind nur Krampf – im Klassenkampf!

    Hierzu eine schöne Beschreibung von Herrn Schumann, siehe hier: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/dezember/die-herrschaft-der-superreichen

    Ich neige derzeit dazu, mir öfters einen Ouzo oder eine Roten einzuschenken, als es meiner Frau lieb ist. Und ich weiß, das Sedieren nichts hilft und nicht bewirkt. Daher habe ich eine Mail an den KV der AfD Limburg-Weilburg abgesandt, zwecks Kontaktaufnahme. Ich verspreche mir, aufgrund meiner Erfahrungen, mehr davon, die Dinge von innen, durch gezielte Fragen z.B., anzugehen, als von außen, weil sich Mensch gerne gegen Kritik sperrt. Weil er diese als persönlichen Angriff betrachtet – und es sowieso besser weiß. Ich nehme mich da nicht aus.

  15. Im Prinzip möchte ich den beiden Beiträgen die vor diesem geschrieben wurden einfach zustimmen, aber ganz so einfach ist es nicht.
    Ich habe vor einigen Jahren als Betriebsrat kandidiert und bin auch gewählt worden, weil ich mit der abgehobenen Politik des alten BR nicht einverstanden war. In den folgenden Jahren habe ich gemerkt das ich in vielen Punkten das gemacht habe was ich vorher kritisiert habe. Mir wurde als Angestelltem sogar immer wieder zu große Nähe zum Arbeitgeber unterstellt. Also eine gewisse Abgehobenheit. Ich habe das selbst nie so gesehen und als es richtig hart wurde ähnlich FR vor ein paar Jahren. Ich meine definitiv nicht vergnügungssteuerpflichtig, war das dann auch vorbei, aber es hat mir gezeigt das man sich in den Mühen des Alltages ,zumindest in der Wahrnehmung von Außen, schnell als schlechter Interessenvertreter einen ungerechtfertigten Namen machen kann. Das hat natürlich Grenzen und kann auf keinen Fall das entschuldigen was die SPD sich unter Gerhard Schröder geleistet hat.

  16. Guten Tag, Herr Fladung,
    ich kann jedenfalls nichts Weltfremdes aus Ihren Feststellungen erkennen.
    Es gibt Situationen, wo Kompromisse sinnvoll sind. Und es gibt welche, da sind es nur faule. Das ist nicht immer leicht, nicht ins Schwanken zu geraten. Bei der AfD kann ich mir persönlich keine freiwillige Kontaktaufnahme vorstellen. Was will ich da noch weiteres erfahren? Vielleicht, wenn ich mir vorher ein zwei Ouzo „einschenke“. Aber lassen wir das mal so stehen.
    Der Artikel von Schumann, den Sie eingebracht haben, ist beim schnellen Lesen weiter zu empfehlen. Klare Analysen zu Reichtum und Herrschaft und Armut und Machtlosigkeit.
    Um zum Anfang zurückzukehren, bleibt die Lektüre von Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) eine wichtige, um sich mit dem Zustand der heutigen Arbeiterklasse (dem heutigen Proletariat) auseinander zu setzen. Vorausgesetzt man ist bereit anzuerkennen, dass wir weiterhin in einer Klassengesellschaft leben. Dabei ist die Verbindung der biographischen und gesellschaftlichne Beschreibung eine außerordentliche Leistung.
    Vielleicht auch für Sie von Interesse noch ein Buchtip: Patrick Spät: Die Freiheit nehm ich dir. 11 Kehrseiten des Kapitalismus. Rotpunktverlag (2016). Eine kompromisslose Kritik!
    An hans: In der Rolle eines Betriebsrates oder Mitarbeitervertreters kommt man wohl häufig in eine Situation, wie Sie’s schildern, zumindest als Interessenvertreter nicht eindeutig genug zu sein. Das Erkennen der erfahrenen Widersprüche und Ambivalenzen rettet nicht, aber kann eine Form von Aufrichtigkeit sein.
    Zur SPD sage ich heute nichts.

  17. Guten Tag, Herr Malyssek,

    und danke für Ihre Worte. Sowohl mein Stiefsohn als auch eine alte Freundin (früher frauenkämpferisch a la Schwarzer) neigen – aus unterschiedlichen Gründen – der AfD zu bzw. symphatisieren mit dieser Partei(-Richtung). Da ich bei beiden nicht weiterkomme, bei meinem Stiefsohn noch eher, weil er auch Wagenknecht und Lafontaine für o.k. hält, dachte ich mir, ich schaue einfach mal, wer sich alles auf dem Feld AfD tummelt und was die Argumente sind.

    Meine Erfahrungen sind die, das, wenn überhaupt, sich Menschen durch Fragen und das Aufzeigen von Ursache und Wirkung eher zum Nachdenken bringen lassen als durch stures Behaupten bzw. Aufzählen von Fakten. Genau diese Erfahrung mache ich ja auch hier im Blog, z.B. mit Herrn Briem.

    Ich habe gestern ein längeres Gespräch mit meinem Stiefsohn geführt, und einfach einmal nur gefragt, was bei den Grünen noch grün-basisdemokratisch ist, bei der SPD noch sozial und demokratisch und bei der CDU noch christlich, demokratisch und konservativ im ursprünglichen Sinne, also „bewahrend“. Und das leider dieser Umfirmierungs-Virus inzwischen auch Teile der Linken befallen hat, siehe rot-rot-grüne Gedankenspiele, wissen Sie ja so gut wie ich, hoffe und denke ich. Danke auch für den Buchtipp, den ich zu den anderen 20 ungelesenen und aufgrund von Tipps erworbenen Werken hinzu füge.

    Dann noch einen angenehmen und ruhigen Feiertag allen, die hier mitlesen.

  18. Lieber Herr Fladung,
    danke auch für Ihre Zeilen. Ich muss gerade auf den PC meiner Frau ausweichen, weil mein alter Laptop dabei ist seinen Geist aufzugeben. Das alternative Gerät dauert noch etwas.
    Zu Ihren Aussagen:
    Ich habe in meinem persönliche Umfeld auch die eine oder andere Person, mit Neigungen zur AfD, die ich nicht verstehen, sondern nur erahnen kann, dass dies keine neuerlichen Neigungen sind, sondern, dass das immer schon da war. Man hat es nur in „friedlichen“ Zeiten nicht so gemerkt.
    Gespräche mit jungen Generationen halte ich dennoch für sinnvoll (s. Ihr Stiefsohn).
    Aus der Sahra Wagenknecht werde ich nicht immer ganz schlau. Da sind viele Widersprüche in ihrer Kapitalismuskritik, ihrer wohl sehr bürgerlichen Affinität und dem verbalen Umgang mit dem Flüchtlingsproblemem. Mal abgesehen von ihren intellektuellen Talenten, weiß ich nicht, ob das so toll ist mit ihrer Rolle als Spitzenkandidatin der Linken. Ich halte auch die rot-rot-grüne Idee nicht für sehr originell. Kann nicht einerseits die SPD mit ihren Verfehlungen kritisieren oder den Grünen gegenüber skeptisch sein (Politikwende???) und dann begeistert für den geplanten Farbenwechsel sein. Illusion. Nur der Macht wegen? Sie beschreiben das ja mit dem „Umfirmungs-Virus“, wenn ich’s richtig verstanden habe.
    Zur Debatte um die Arbeiter- und Angestelltenklasse passt meines Erachtens der FR-Artikel vom 23.12. (Wirtschaft, S. 14/15 zum Dauerkonflikt bei Amazon „Streik am laufenden Band“ ganz gut als aktuelle Zeitaufnahme. Beschäftigte erzählen von ihren Alltag. An einer Stelle ist da von einer neuen Arbeiterbewegung die Rede. Hm!?
    Freundliche Grüße aus Wiesbaden.

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