Demokratie und Religion – passt das zusammen? Es wird derzeit viel über unsere angeblich christlich-jüdische Leitkultur gesprochen, nicht jedoch über unsere republikanische oder demokratische Leitkultur oder über die Werte, die unter anderem aus unserem Grundgesetz resultieren. Die Versicherung, dass unsere Kultur religiöse Wurzeln hat, scheint wichtig zu sein, als sei diese Kultur nichts ohne den Gottesbezug. Dabei ist die Geschichte – aller! – Religionen eine Geschichte der Dogmen. Aktuell in der Diskussion: der Islam und sein Verhältnis zur Demokratie. Dogmen sind letztlich Denkgebote, die sich mit der Freiheit des Denkens und der Meinung naturgemäß schlecht vertragen. Daher kommt der Philosoph Markus Tiedemann in seinem Beitrag „Das Dogma ist der Kern des Glaubens“ (Print-Überschrift) zu dem Schluss, dass Demokratie wohl Religion verträgt, aber nicht von ihr getragen wird. Dieser Beitrag hat eine kleine Debatte losgetreten:
Gottes Reich ist nicht von dieser Welt
„Es mutet seltsam an, wenn ein Professor für Philosophie den demokratischen Rechtsstaat gegen „die Religion“ verteidigen will und dabei grundsätzliche Wertungen des Rechtsstaats ignoriert oder gar ausgehebelt sehen würde. Dass die Religion nur einen legitimen Ort hätte, nämlich das Private, entspricht nicht der Verfassungslage (Art. 4 Abs. 1 GG). Das Grundrecht der Religionsfreiheit erlaubt – im Rahmen der verfassungsmäßigen Grenzen – die Teilnahme der Religionen und religiöser Menschen (als solcher!) am pluralistischen, öffentlichen Diskurs.
Darüber hinaus ist die übliche Schwarzbuchrhetorik, mit der der Autor die historischen Verfehlungen der Religionsorganisationen aufzählt, problematisch. Jeder der genannten Punkte ist selbstredend kritikwürdig. Aber die zumindest implizierte Aussage, dass all dies bei Aufklärern oder Nichtgläubigen nicht vorkäme, ist ebenso falsch. Abgesehen von den Gräueln des großen Atheisten Stalin gab es einen aufklärerischen Impetus in der Kolonialpolitik vieler Länder, das Licht der Vernunft zu „den Wilden“ zu bringen. Auch der Aufklärer Kant befürwortete ein Vergeltungsstrafrecht, Todesstrafe inklusive. John Locke legitimierte den Landraub an den amerikanischen Ureinwohnern mit der „aufgeklärten“ Begründung, Eigentum stehe nur denen zu, die es bearbeiteten. Das alles ist vor dem Hintergrund historischer Gegebenheiten verständlich. Aber auch die meisten der durch den Autor vorgebrachten Fehlleistungen der Kirchen (Hexenwahn pp.) sollten dann unter dem Aspekt ihrer historischen Bedingtheit betrachtet werden.
Auch die Annahme, der Schutz der Menschenwürde im Staat des Grundgesetzes beruhe ausschließlich auf aufklärerischen Prinzipien und richte sich ebenso ausschließlich gegen religiösen Dogmatismus, ist unzutreffend. Die Menschenwürdegarantie der deutschen Verfassung ist zunächst eine Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus mit seiner Vergottung von Staat und Stärke. Ferner hat sie ihre Begründung auch in dem jüdisch-christlichen Konzept von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (vgl. Gen. 1, 27).
Ich teile die Auffassung des Autors, dass weder Religion überhaupt noch eine bestimmte Religion Maßstab der politischen Struktur eines Landes sein sollten. Diese Haltung ergibt sich auch aus dem Christentum selbst, nach dem das Reich Gottes „nicht von dieser Welt“ ist (Joh., 18, 36). Aber der mit allem Pathos aufgezogene Gegensatz von Licht (Aufklärung) und Dunkelheit (Religion bzw. Glaube) ist intellektuell unredlich.“
Johannes Ploog, Berlin
Der Islam muss reformiert werden
„Dieses Votum von Professor Tiedemann für Demokratie und Freiheit in einer modernen Gesellschaft müsste Pflichtlektüre in allen Ausbildungsstätten in der Republik werden. Es muss unter den Menschen in diesem Land endlich ein Konsens hergestellt werden, dass Religion Glaubenssache ist und damit in den privaten Bereich eines Einzelnen gehört. Hier kann er sich nach seinem Gusto verwirklichen, auch in einer Gemeinschaft gleichgesinnter Gläubiger. Dort aber, wo die Mehrheitsgesellschaft ihre Werteordnung (Grundgesetz und alle darauf aufbauenden Gesetze und Gerichtsentscheidungen) niedergelegt hat, haben die Religionen keinen Platz.
Es wäre sicher förderlich, wenn diese Erkenntnis in die bisher widersprüchliche Auseinandersetzung mit dem Islam substanziell Eingang finden könnte. Genau hier ist die Demokratiefähigkeit des Islam zu messen. Als ein Beispiel könnte die Entwicklung der Beziehungen von Staat und Religion nach dem Zweiten Weltkrieg dienen, wo auch das Christentum, besonders die katholische Fraktion, gewaltig Federn gelassen hat, besonders was die Sexualität und die zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft. Wer weiß noch, dass „Kuppelei“ und „Homosexualität unter Männern“ einmal strafbar war? Wie der Islam das sieht: 4. Sure, Vers 17 lesen. Eine Aufklärung des Islam durch Reformen ist unverzichtbar, um diese religiöse Werteordnung in unsere Demokratie zu integrieren. Es gibt genügend Ansätze, die leider von der Politik und den meisten Parteien nicht genug unterstützt werden“
Uwe Thoms, Frankfurt
Gefährliche nichtkirchliche Dogmen
„Sicher bleibt die Kritik an kirchlichen Dogmen eine bleibende Aufgabe, denn sie wurden in der Regel von den Machthabern ihrer Zeit mit Gewalt durchgesetzt. Es gibt aber heute nichtkirchliche Dogmen, die gefährlicher sind und ebenso gewalttätig vertreten werden. Die Dogmen des Neoliberalismus und der militärischen Sicherheitslogik bedrohen weit mehr als etwa das Dogma von der Jungfrauengeburt. Den Glauben an diese bedrohlichen Dogmen verweist niemand in „den privaten Bereich eines Einzelnen“ oder in eine „Gemeinschaft gleichgesinnter Gläubiger“. Auch Parteien, die ihre neoliberale Politik als christlich verkaufen wollen, werden mit ihren Dogmen nicht hinter Mauern ihrer neoliberalen Tempel verbannt. Dazu fehlt noch die Machtbasis.
Es wäre eine größere Herausforderung für Philosophieprofessoren, die Irrationalität dieser gefährlicheren Dogmen und die Brutalität ihrer Durchsetzung anzuprangern. Wenn das Dogma verbreitet wird, bei Millionen Arbeitslosen und hunderttausend freien Stellen sei die Lösung, die faulen Arbeitslosen durch Hartz IV zu motivieren, dann müssten rationale Philosophen an die Grundrechenarten erinnern und das christliche Dogma verkünden, dass faires Teilen von Arbeit und Lohn die rationale Lösung ist. Oder wenn das Dogma vertreten wird, die Welt sei durch immer mehr Waffen, vor allem neue Atomwaffen, friedlicher zu machen, dann sollten Philosophen die Irrationalität dieses Dogmas aufzeigen und die Rationalität der Warnung Jesu: „Wer zum Schwert greift, wird durchs Schwert umkommen“ (Mt 26,52) sowie für einen gewaltlosen gerechten Frieden werben.
Wenn die heutigen Philosophen diese Herausforderung annehmen, dann können sie sich verbünden mit Papst Franziskus und müssen sich mit ihm nicht über kirchliche Dogmen auseinandersetzen. Sie können sich mit Muslimen zusammentun, die sich auf die ersten drei der vier Wirkungsepochen des Propheten beziehen, als dieser noch den barmherzigen Allah verkündete und nicht verbittert aggressiv predigte. Dann könnten sie gemeinsam aufklärerisch wirken gegenüber den Dogmen des Neoliberalismus und des Militarismus.!
Die Intention des F. Gehring ist klar und auch zu Recht vorgebracht. Nur stellt sich die Frage, ob hier nicht eine Begriffsverschiebung vorliegt, was die Bedeutung „Dogma“ betrifft. Dogma wird in der Regel als feste Glaubenslehre oder festgelegte Lehrmeinung im Rahmen einer wissenschaftlichen Darlegung verstanden. So ist auch der Dogmatiker einer Kritik kaum zugänglich. Ob Neoliberale und Sicherheitslogiker darunter fallen, müsste in einem anderen Rahmen näher untersucht werden. Interessant ist aber der Bezug von Gehring auf die medinensischen Suren (4.Epoche), in der z.B. die Gläubigen aufgefordert werden, die Ungläubigen zu töten, wenn sie nicht den Weg Allahs einschlagen. Das ist historisch zu sehen und sollte dem Islam heute hier in Deutschland nicht mehr vorgehalten werden. Den Islam aber als eine friedliche, ja sogar undogmatische Religion anerkennen zu können, bedeutet, seine aktuellen religiösen Praktiken bei der Umsetzung der Lehren des Koran, der Sunna und des Hadith zu verfolgen und auch zu dokumentieren. Hinzu kommen die Forschungsergebnisse der 4 Koranschulen, die Auslegungen der Ahmadiyya-Gemeinden etc.,etc. Hierzu gibt es zahlreiche Bücher, journalistische Berichte und politisch/gesellschaftliche Erfahrungen aus den muslimischen Zentren in den bekannten Großstädten. Vor allem die Entwicklungen in den Schulen und Hochschulen bezüglich der Vermittlung der Lehre des Islam werden zeigen, in wie weit man auf islamischer Seite bereit ist, das islamistische Dogma aufzuweichen, den konservativen Fundamentalisten die rote Karte zu zeigen, damit der Islam zweifelsfrei als ein Teil des religiösen Lebens in Deutschland anerkannt werden kann. Der Kopftuchstreit würde dann eine andere Bedeutung erhalten.