Diese Wahlen waren strukturell undemokratisch

Der Rechtsruck in Frankreich ist nicht so kräftig ausgefallen wie befürchtet. Grund dafür ist jedoch nicht etwa mangelnde Zustimmung der Bevölkerung für die Rechtsextremen, sondern das Mehrheitswahlrecht.

Und die politische Kultur. In Frankreich ist es üblich, Allianzen und Listen zu bilden, um einen Sieg des politischen Gegners zu verhindern. So kam es, dass die Rechtsextremen von Marine Le Pens RN nur an dritter Stelle landeten, was die Zahl der Mandate in der Nationalversammlung betrifft, obwohl sie tatsächlich die stärkste politische Kraft im Land sind. Doch eine linke Regierung ist nicht in Sicht; die Linksfront ist zu zerstritten, um sich auf einen Kandidaten für das Amt des Premierministers zu einigen.

Im Vereinigten Königreich hingegen ging alles ganz schnell. Die Labour-Partei hat deutlich gewonnen, und das Tory-Chaos ist von einem Tag auf den anderen beendet, da der neue Premier Keir Starmer bereits am Tag nach der Wahl den Regierungssitz in Downing Street No. 10 bezogen hat. Man sollte aus dem Labour-Sieg allerdings keine überzogenen Hoffnungen auf eine prorgressive oder gar linke Politik ziehen – oder auf eine Rückkehr der Briten in die EU.

FR-Leserinnen und -Leser kommentieren diese Wahlergebnisse wie folgt.


Die Linksextremen sind keine Alternative

Wie nicht anders zu erwarten, hat der Rassemblement National (RN) im ersten Wahlgang bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung die meisten Stimmen erhalten. Die politische Konkurrenz reagiert heftig, doch mehr als der Versuch, Bündnisse gegen den RN zu formieren, fällt den Protagonisten nicht ein. Dazu ist es wahrscheinlich auch zu spät. Aus Sicht der Demokratie ist ein Sieg der Partei von Marie Le Pen übrigens gleichermaßen bedenklich wie eine Volksfront gegen den RN zu gründen.
Dass sich das Lager von Macron (Ensemble) mit dem Linksbündnis zusammenschließen möchte, ist grotesk. Im Linksbündnis befindet sich an der Spitze mit „La France insoumise“ (FI) und Jean-Luc Mélenchon eine Partei, die mindestens ebenso wenig von der EU hält wie der RN und darüber hinaus in einer extremen Weise antisemitisch und antiisraelisch ist. Rassismus ist in der FI stark verwurzelt. Dazu gesellen sich Kommunisten und Antifa-Gruppen. Woher kommt der Gedanke, mit dieser in weiten Teilen linksextremen Front eine glaubwürdige und bessere Alternative zum RN zu besitzen?
Der zweite Wahlgang wird zeigen, ob ein untaugliches Zweckbündnis bei den Wählern Eindruck hinterlässt und die Wahlentscheidung beeinflusst.“

Bernd Barutta, Hirschberg

Diese Politik fördert die weitere Verrohung

Wir alle haben weder den Beschluss der Bill of Rights noch den Schwur im Ballhaus vor 235 Jahren miterlebt. Nach dem 1. Juli 2024 könnte es aber möglich sein, dass wir Zeitzeugen werden von einem Schlussmoment einer demokratischen Idee, die damals fast gleichzeitig in der USA und in Frankreich ihren Ausgang nahm und in der Nachfolge Politik, Wissenschaft und Künste bis heute bestimmen sollte. Damals hatte, von der Aufklärung inspiriert, eine neue Idee über den Menschen die Welt betreten, die sich im Grundsatz der Freiheit, Gleichheit und Würde für jeden Menschen formulierte, der in Vielfalt und Solidarität mit den Anderen gelebt werden wollte. Die Wahl in Frankreich und der Spruch des Supreme Court in den USA verbindet nun wieder die beiden Kontinente in der Abkehr von den Maximen der Wahrhaftigkeit. Selbsternannte egomane Dealmaker würden durch schlechte Herrschaft die dunklen Seiten des Menschen bestärken und ausgedehntes Leid verursachen, wie es im Sturm auf das Capitol schon sinnbildlich wurde. Vielleicht würden die Börsen nicht abstürzen, wenn der RN in Frankreich absolut gewinnt, aber die Zukunft eines friedlichen Zusammenlebens der Menschheit im Sinne eines Weltbürgertums würde vielleicht die letzte Chance verlieren. Figuren wie Orban, Kickl und Babis eint eine Ehrlosigkeit, die sie mit Männern wie Trump verbindet in einer Persönlichkeitsstruktur ohne verbindliche Werteverpflichtung. Sie eint der Wille nach „Geld und Macht ohne Kontrolle“, wie Donald Tusk es formuliert. Alle leben in Angst vor dem Recht und wollen dessen Einfluss darum reduzieren. Der Weg ihrer Politik wird Verrohung und Verelendung befördern und diese Richtung werden auch Frauen wie Le Pen und Meloni nicht umkehren wollen.
Wenn religiöse Leitsysteme ihre Leitfunktion verlieren und sogar für Verbrechen missbraucht werden, braucht es eine neue Inspiration für die Orientierung zur Lösung der globalen Existenzfragen der Menschheit. Nicht „Geld und Macht“ sondern „Arbeit und Leben“ wären Leitbegriffe für die Bestimmung der Inhalte der Antworten auf die Sinnfragen des Menschseins. (Nicht zufällig gleichlautend mit der Bildungsorganisation des DGB) Es müssen neue Stimmen laut werden, die Gedanken Worte geben für eine Lebensweise, die den natürlichen Lebensraum erhält und das Wohlergehen jedes einzelnen Menschen fördert. Es wären leise nachdenkliche Stimmen, die von natürlicher menschlicher Intelligenz in Ruhe und Zugewandtheit nachzuvollziehen wären. Sie könnten überzeugen.

Peter Hartwig, Ginsheim-Gustavsburg

„Die drei Koalitionspartner erlitten bei den Europawahlen teils heftige Einbußen, Wilders Freiheitliche aber legten zu“. So wie Peter Riesbeck kommentierte die überwiegende Mehrheit der Beobachter in Funk, Fernsehen und Presse die jüngsten Europawahlergebnisse in den Niederlanden.
Freilich: Vergleicht man die Ergebnisse von Wilders‘ rechtspopulistischer PVV von 2019 (3,5 Prozent) mit 2024 (17 Prozent), ist die Verfünffachung verblüffend. Zieht man die Ergebnisse der im November 2023, also erst vor einem halben Jahr, stattgefundenen Parlamentswahl hinzu, sieht das Bild bereits anders aus: Wilders PVV erzielte damals 23,5 Prozent und war stärkste Partei geworden. Nochmals ein halbes Jahr zuvor bei den Wahlen zu den Provinzregierungen im März 2023 erzielte die PVV nur 5,3 Prozent.
Sicher kann man die Europa-, Provinz- und Parlamentswahlen nicht gleichsetzen, dennoch stellen die Europawahlergebnisse ein Stimmungsbarometer über die Gefühlslage der niederländischen Wähler dar. Die in dieser Woche vereidigte neue Regierung von PVV, VVD, NSC und BBB erzielte im November 2023 gemeinsam 56,3 Prozent der Wählerstimmen. Bei den Europawahlen waren es für diese 4 Prateien nur noch 37,5 Prozent! Viele Wähler ärgerten sich über die internen Querelen zwischen den vier rechten Parteien. Wilders frühzeitiger Rückzug vom Amt des künftigen Ministerpräsidenten ist nur ein Ausdruck davon. Erstaunlich auch, dass die BauerBürgerBewegung BBB im März 2023 mit 21,3 Prozent einen Überraschungssieg erzielte und auch Wilders PVV links (oder rechts?) liegen ließ.
Das schnelle und häufige Auf und Ab der Wahlergebnisse zeigt, wie labil und volatil das parlamentarische Kräftespiel in den Niederlanden ist. Ob Wilders und seine drei Bündnispartner eine ganze Legislaturperiode standhalten werden, ist also mehr als fraglich.

Reinhard van Vugt, Siegbach

Schuld ist das britische Mehrheitswahlrecht

Wahlen im Vereinigten Königreich: „Labours Erdrutschsieg“ und „Starmer lässt hoffen“, FR-Titel und -Meinung vom 6. Jull

„So glorreich wie die Überschriften vermitteln wollen, war der Sieg Labours nicht. Der Wahlsieg ist dem völligen Versagen der britischen Konservativen nach 14 Jahren Regierung geschuldet. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von nur 60 Prozent wird deutlich, dass 40 Prozent der Wählerschaft in der tiefgespaltenen britischen Klassen-Gesellschaft alle parlamentarischen Hoffnungen haben fahren lassen. Die riesige Mehrheit (an Parlamentssitzen) für Labour ist dem britischen „Mehrheitswahlrecht“ geschuldet. Hätten wir in Deutschland ein „Mehrheitswahlrecht“ würden dann bei knapp 34 Prozent der AfD in den ostdeutschen Bundesländern auch „Erdrutschsiege“ ins Haus stehen?
Starmer verlor in seinem Wahlkreis die Hälfte der Wählerstimmen. – Hier war der linke unabhängige Kandidat Adrew Feinstein – ohne Parteiorganisation und Geld im Rücken – angetreten. Wohingegen der Ex-Labour Chef und aus der Labour-Party ausgeschlossene Corbyn im Londoner Nachbarwahlkreis als „Unabhängiger“ in das Unterhaus als Sieger ziehen konnte. Und das ist auffällig: 27 „Unabhängige“ haben es gegen die Kandidaten der etablierten Parteien ins Parlament geschafft. – Wenn Labour nicht für die zum Teil völlig verarmten Millionen Menschen auf der Insel vernünftige Sozialleistungen (Bildung, Gesundheitswesen, Eisenbahn/ÖPNV etc.) organisiert, wird dem Aufstieg der extremen Rechten auch in Großbritannien der Weg geebnet. – Meine einzige Freude: Großbritannien hat der arroganten Konservativen Partei die schwerste Niederlage ihrer Geschichte zugefügt. Die deutsche Schwesterpartei SPD sollte sich – mit Blick auf den Lobour-“Erfolg“ hüten, mit „fremden Muskeln“ anzugeben. Sie hat ihr mieses EU-Wahlergebnis von 13,9% noch längst nicht be- und verarbeitet. Und auch wenn sie als 3. stärkste Partei – hinter der AfD (!) – in Hessen den stellvertretenden Ministerpräsidenten stellt, ist das in erster Linie Ergebnis strategisch-kühler Überlegung der CDU, die eine extrem schwächelnde Hessen-SPD vor dem Untergang bewahren möchte?!“

Thomas Ewald, Nidderau

Kaum jemand beschwert sich

Die Zahlen in der Grafik der FR zu den englischen Parlamentswahlen zeigen deutlich den manipulativen Charakter des Mehrheitswahlrechts. Der „Erdrutsch“ für Labour wurde ausgelöst durch einen mäßigen Stimmenanstieg von 32,1% auf 33,8%. Diese 1,7 Prozentpunkte ließen die Anzahl der Parlamentssitze von 214 auf 412 in die Höhe schnellen; die 198 zusätzlichen Abgeordneten besetzen also 30,4% der 650 Parlamentssitze. Insgesamt werden 33,8% der Wähler durch 63,4% der Parlamentarier repräsentiert; Labour beherrscht also mit einem Drittel der Stimmen rund zwei Drittel des Parlaments. Umgekehrt erhält eine kleinere Partei mit 14,3% Stimmenanteil (Anstieg um 12,3 Prozentpunkte, also eine Versechsfachung) ganze 5 Sitze; das entspricht 0,8%. Das Verwunderliche ist, dass sich kaum jemand im Königreich über diese strukturell undemokratische Mogelpackung „Wahlen“ beschwert.

Rolf Oesterlein, Nieder-Olm

Das Vereinigte Königreich ist mehr als Großbritannien

Ich finde es ein wenig traurig, wenn große Medien so wesentliche Begriffe falsch verwenden. Großbritannien ist eine Insel. Sie beheimatet England, Schottland und Wales. Das Vereinigte Königreich – United Kingdom – UK – besteht aus Großbritannien und Nordirland. UK ist einer der Staaten dieser Erde. Genau dort waren heute Wahlen. In eurer Berichterstattung wird Großbritannien erwähnt. Das ist schade UK ist nicht gleich GB.

Thomas Stelne, Pressbaum (A)

Das Engagement lohnt sich

Die Wahlen in England und Frankreich haben gezeigt: Es lohnt, sich gegen Rechtspopulisten zu engagieren und nationalistische Scheinlösungen zu entlarven.

Kurt Lennartz, Aachen

Verwandte Themen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert