Schon vor einer ganzen Weile erreichte mich eine Leserin-Zuschrift zum Blogtalk mit den Leuten von der Bürgerredaktion. Warum Leserbriefe schreiben?, hatten wir uns damals gefragt. Ich habe diese Zuschrift aufgehoben und veröffentliche sie jetzt, weil ich finde, dass diese Frage nicht befriedigend geklärt wurde. Ob Leserbriefe, Online- oder Blog-Kommentare – dieser Gastbeitrag ist ausgesprochen diskussionswürdig.
Hurrtzz und die dunkle Seite der Macht
von Marlis Cavallaro, Frankfurt
Nun kam ich endlich mal dazu, diesen Thread durchzulesen. Viele große, breitgefächerte Ausführungen, wenig „Kleine“ dazwischen. Fast nur Herren mit viel auf die Sache bezogener Zeitverfügung. Verzeihung, wenn mir als Weib spontan auffiel: Ganz schön viel Hahnenkampf (was nicht als Abwertung sachlicher Argumente gemeint ist). Und, ‚tschuldigung vielmals, meinem unbotmäßigen Unterbewusstsein entfleuchte an einigen Stellen auch noch Hape Kerkelings „Hurrtzz!!!“, sowie Loriots leicht diabolisches Lächeln, wenn er Dispute karikierte. Das vertiefe ich hier nicht, auch nicht in Bezug darauf, was eventuell die Quietsche-Entchen in der Debatten-Badewanne waren. Es ist nur ein Hinweis – die Welt kann noch so schlimm sein, wir können auch gelitten haben – doch ohne Humor und Fähigkeit zu Selbstironie verbiestert erfahrungsgemäß jede Diskussion..
Das „Endlich mal“ zu Beginn schreibe ich bewusst. Sowohl ich als auch andere Freunde und Bekannte, die mit der FR eine inzwischen Jahrzehnte alte Ehe „in guten wie in schlechten Zeiten“ führen und ziemlich oft Leserbriefentwürfe im Kopf notieren (oder gar dazu gelegentlich Notizen auf einen Zettel notieren, die dann doch nicht zum Brief werden), müsste/n darauf bestehen, dass die Frage unbedingt zu erweitern wäre: Und warum keine Leserbriefe? Denn die vielfältigen möglichen Antworten auf diese Frage könnten Manchen, die ausschließlich aus der Warte von (Viel)Schreiber/innen diskutieren oder auch resigniert den Sinn von Leserbriefen bezweifeln, den Horizont weiten. Und „Bronski“ zu Komplimenten, die seine hervorragende Arbeit verdient, noch einige zusätzliche schenken.
Mitnichten sind Nicht-Leserbriefschreibende und selten Schreibende dussliges passives Konsumistengezücht. Gerade FR-Leser/innen sind häufig – wie die Rundschau selber in ihrer Eigenwerbung sinngemäß sagte – jene „vielen kleinen Leute“, die „an vielen kleinen Orten“ im privaten, beuflichen, politischen, sozialen, kulturellen Leben alltagsheldenhaft jene „vielen kleine Schritte (zu) tun“ versuchen, die „das Gesicht der Welt verändern können“. Ihr Tag hat 24 Stunden minus Schlafen, Essen, Waschen, Jobs, usw. usf. – mehr nicht. Niemand kann gleichzeitig an allen Orten der Gesellschaft, die ihn/sie angehen, „basisdemokratisch und selbstverwaltet“ stets aktiv zugegen sein. Ohne Delegation geht es nicht.
Alle, die ich kenne, lesen als eine der ersten Rubriken die Leserbriefseiten und finden erfreut fast immer etwas, das sie selber „auch so geschrieben“ hätten. Nur sehr eitle Menschen verspüren dann den Drang, ein weiteres Mal als eigenen Quark anzurühren, was schon gesagt wurde.
Manche schreiben gelegentlich – wenn eben doch noch niemand ihren Gedanken geäußert hat oder etwas sehr drängt. Gerade solche Wenig-Schreiber könnten dann eventuell etwas ganz besonders Substantielles zu sagen haben, auf das andere, „Vielschreiber“, nicht kamen. Alles, was man sehr viel tut, kann zu Betriebsblindheit führen. Von wegen „wer viel gedruckt wird“, habe wohl doch auch besonders „viel zu sagen“ – wie es hier irgendwo hieß. Die spannendsten Meinungsäußerungenl können von Menschen kommen, die in mehreren Wirklichkeitsfeldern zugange sind (und Einfluss nehmen), genau deshalb jedoch selten Zeit finden, zusätzlich in dem kleinen Bereich „Leserbriefschreiben“ tätig zu werden.
Die „qualifizierteste“ Aussage im Märchen „des Kaisers neue Kleider“ besteht aus einem einzigen Macht erschütternden Satz. Und „Hurrtz!“, mit der gleichen Aussage, im ganzen Brimborium sei ja gar nichts, ist sogar nur ein im Kontext des Kerkelingschen Sketches sofort verständliches Wort.
Wenn Vielschreiber (oder ein Vielschreiber/innen-„Pool“), die sich dazu für besonders avantgardistisch und qualifiziert halten, weil sie „viel gedruckt“ wurden, an hunderte Zeitungen viele Briefe und Mails senden, nennt man das „Pressekampagne“ – nicht „LESERbriefe“. Leute können individuelle oder Gruppen-Pressekampagnen (mit welcher konkreten Anbindung an welche Bereiche der sozialen Bewegungen?) gerne als „die dunkle Seite der Macht“ potentiell erschütterndes Betätigungsfeld ansehen; denn jede/r hat die Freiheit, sich an den Ort zu stellen, von dem er/sie meint, etwas bewirken zu können. Aber nicht gerne schön finde ich, wenn sie dann andere mit wachsender Wut für diesen eigenen Ort „missionieren“ wollen. Andere wählen mit der gleichern Freiheit andere Orte. Das Gesamtkunstwerk einer eventuell doch mal besser werdenden Welt kann nur als Puzzle entstehen – ohne Zentralkomitees von „immer Recht habenden“ Parteien und ohne nach subjektiven Kriterien selbsternannte Avantgarden in Meinungsführer-„Pools“.
Es ist doch ganz einfach: LESERbriefe sind Briefe von Leuten, die einer Zeitung wirklich LESEND verbunden sind oder auch gelegentlich mehreren Zeitungen.. Zu dem, was sie GELESEN haben, mischen sie sich ein, und zwar um der Redaktion dieser geLESENEN Zeitung Signale zu geben, um zu partizipieren, um mit allen MitLESER/INNEN etwas zu teilen und auch, um den LESE-“Kamerad/innen“, die nicht zum Schreiben kommen, auch eine Stimme zu verleihen (was gelingen oder misslingen kann).
Ja schön und lustig auch, aber da haben viele schon viel weiter gedacht.
Erstens einmal hat Michael Maresch nichts weniger als die „Quadratur des Kreises“ und das „Perpetuum Mobile“ der Leserbriefe versucht, nämlich gleichzeitig Individualität und Breitenwirkung zu erzielen. Die Kritik, die hier geübt wird, hat er auch schon im Blogtalk erhalten.
Zweitens ist die hier vorgetragene Hühnchen-Attitüde, mehr „Realismus“ zu haben als die Hähnchen, ebenso überflüssig wie chauvinistisch.
Drittens wurde den sogenannten „kleinen Leuten“ gar nichts abgesprochen, Herr Maresch hat ihnen lediglich ein Angebot gemacht, ein wenig „unkleiner“ zu werden. (Seine durchscheinende politische Richtung ist auch kritisiert worden).
Viertens: Das Argument, daß der Tag ja schon irgendwie gefüllt ist und keine Zeit bleibt, Leserbriefe zu schreiben ist eher frech. Weiß die Schreiberin denn, was die Schreiber/innen so am Tage leisten? Vielleicht können diese, nach Tagewerk und Wäschewaschen, Kindern, Kirchen und Küchen noch etwas mehr leisten als Marlis Cavallaro?
Fünftens macht Marlis Cavallaro einen Fehler: Gedachte Briefe sind keine Briefe. Da fehlt zwischen dem Gedanken und der Wirkung noch die Sendung. (und des geehrten Bronski Arbeitsplatz).
Ganz so einfach solle es denn doch nicht sein, andere durch den Kakao zu ziehen.
Wer seine Meinung zurückhält, vielleicht weil sie im literarischen Sinn noch nicht druckreif und vollständig zu Ende gedacht formuliert ist, verhält sich nach meiner Überzeugung nicht tugendhaft. Demokatie lebt auch von Quantität – siehe die Wahlergebnisse. In der historischen Rückblende zeigt sich, dass im Widerstreit der Quantitäten erst Qualitäten entstanden sind.
Wenn ich Leser- und Hörerbriefe verfasse, reagiere ich auf Zeitungs- und Rundfunkberichte über Ereignisse und Themen, die direkt oder indirekt mein Leben betreffen: Das sind vorrangig soziale Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Bildung und Kultur, Literatur, Theater, Umwelt- und Verkehrspolitik sowie Krieg und Frieden.
Und ich äußere meine Ansichten zu diesen Vorgängen unverzüglich, nachdem ich davon Kenntnis erlangt habe. Das geht immer wieder mal zu Lasten der sprachlichen Qualität. Aber die Sache als solche, zu der ich mich zu Wort melde, steht im Vordergrund. Ein Zuwarten könnte von denen, deren Handlungen ich kritisiere, als stillschweigende Zustimmung gewertet werden. Ich berücksichtige die verfügbareb Fakten, aber bewusst verzichte ich auf Ausgewogenheit; denn ich artikuliere meine Interessen. Der Ausgleich von Interessen muss dann woanders unternommen werden.
Ob meine Zuschriften gedruckt werden, ist zweitrangig. Viel wichtiger ist, dass sich die Meinungen der Bürger zu den einzelnen Themen in den veröffentlichten Leserbriefen im Sinne eines demokratischen Meinungsbildungsprozesses spiegeln und dadurch bei den eigentlichen Adressaten, den politisch Verantwortlichen aller Ebenen, wahrgenommen werden.
Die Zeit zum Verfassen der Briefe nehme ich mir, so wie ich mir die Zeit zum Lesen und Hören nehme – und das immer ohne Stress. Neben der Berufsausübung, neben der Wahrnehmung des rein Privaten, neben ehrenamtlichem Engagement, neben Theaterbesuchen, neben Reisen etc. Denn menschliches Leben bedeutet nach meiner Überzeugung, dass es durch persönliches Handeln wahrgenommen und ausgefüllt wird. Ich möchte mich nicht in einem Grab der Lebendigen bewegen, sondern mitten im Leben stehen. Die so genannten Herrschenden möchten den Einzelnen gern auf seine Existenz in der Masse reduzieren. Aber dem widerspreche ich grundsätzlich und immer wieder, u.a. durch meine Leserbriefe.
Frau Cavallaro, Sie und Ihre Freunde und Bekannten sollten trotz Zeitmangel ab und zu einen Leserbrief schreiben. Auch ich habe, wie sicherlich viele andere Schreiber, meinen ersten Leserbrief nach Beendigung der bezahlten Tätigkeit geschrieben. Meine derzeitige unbezahlte Tätigkeit nimmt mich aber auch nicht weniger in Anspruch (Rentner haben nie Zeit). Aus Andeutungen in Leserbriefen kann man entnehmen dass ein hoher Prozentsatz der Einreicher, so wie ich, nicht gerade jugendlich genannt werden können. Wollen Sie dafür mitverantwortlich sein, dass die Leserbriefschreiber wegen Nachwuchsmangel aussterben?
Ab wann man zu den Vielschreibern gehört weiß ich nicht, aber ihr Leserbrief hat mein vollstes Einverständnis.
# Matthias Borck-Elsner
Was die Nennung eines weiblichen Vornamens in Verbindung mit dem im Sprichwort-Zitat genannten Begiff „kleine Leute“ und mit dem Hinweis auf die Existenz anderer Wirklichkeiten doch so alles anrichten kann – mir scheint da eine „Projektionsbrille“ beim Lesen auf der Nase gewesen zu sein: was kann die Schreiberin wohl anderes sein als ein zwischen Kindern und Küche gefangenes Frauchen , das mal kurz „klein“geistig das Hühnchenhaupt aus Wäschewasch-Bergen rausgestreckt hat, um weiblich-chauvinistisch die „Hähnchen“, die „mehr leisten“, als es selber das „kann“, frech gackernd durch den Kakao zu ziehen und so zu rechtfertigen, dass es zu faul und unfähig ist, um das „Angebot,..ein wenig unkleiner zu werden“ anzunehmen? Womöglich hat sie auch noch nur mal schnell was geschrieben, um so wie die, die Loriot’sche Jodeldiplome u.ä. machen, „was Eigenes“ zu haben?
Das berühmte, vielzitierte afrikanische Sprichwort meint mit den „kleinen Leuten“ keine, die sich anstatt um „die Welt“ nur um sich, ihren Bierbauch oder ihre Dreckwäsche kümmern wollen, ganz im Gegenteil. Es sagt etwas über soziale Bewegungen und Strategien, es spricht von „Gesicht der Welt verändern“.
# Klaus Philipp Mertens
Lieber Herr Mertens, ich respektiere und verehre Ihre Tätigkeit und Leistung als „Vielschreiber“ von Leserbriefen – sie gehört für mich rundum zu einem Teil dessen, was an sozialer Bewegung und Engagement nötig ist und es ist Ihr – auch meiner Ansicht nach „tugendhafter“, wie Sie’s formulieren -Weg, den Sie gewählt haben. Ich habe nirgends einer Haltung das Wort geredet, „die …Meinung zurückhält“, sondern versucht zu sagen: es gibt viele Orte sozialer und politischer Bewegung, an denen Menschen Meinungen und Tätigkeit einbringen und sich zu beteiligen versuchen an Initiativen, die „das Gesicht der Welt verändern können“, nicht nur den (ohne Zweifel sehr wichtigen!) Ort des Schreibens an Zeitungen.
Das heißt, ich habe nicht aus der Sicht eines Menschen geschrieben, der sich mit rein „privatem“ (=abgetrennt von anderen) Tagwerk, „Wäschewaschen“ und Sprüchen wie „die da oben machen ja doch, was sie wollen“usw. begnügt, sondern aus der Sicht eines Menschen, der sein Leben lang(seit ich als Kind in den 60er Jahren das erste Mal vom pazifistisch engagierten Vater zu einem Ostermarsch mitgenommen wurde), auf vielfältige Weise sozial und politisch engagiert war und ist, ebenfalls, wie viele andere, neben sonstigen Lebenstätigkeiten. Dabei schrieb /schreibe ich auch phasenweise mal sehr viel, mal weniger für irgendwelche Diskussionen (auch ab und zu Leserbriefe).
Eins der Hauptübel, die ich im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr in allen Gruppen und Verbänden, mit denen ich zu tun hatte, wahrnahm, ist das Verabsolutieren der je eigenen Wirklichkeit und der je eigenen Art und Weise,wahrzunehmen, zu folgern, sich zu engagieren und die Geringschätzung oder gar Diffamierung der Wege, die Andere gewählt haben. Mein Satz, dass eine hoffentlich doch mal mögliche bessere Welt nur als „Puzzle“ vielfältiger Wege entstehen kann, war deshalb zentral.Weder mein Weg allein, noch der Ihre allein noch der Anderer dürfen den Anspruch der alleinigen weltverbessernden Tugend und Seligkeit erheben – das ist aus der erschreckenden Menschheitsgeschichte, gerade auch aus der Geschichte aller „weltverbessernden“ Bewegungen und Parteien zu lernen.
In den verschiedenen Bereichen der „sozialen Bewegungen“ heute kann man auch feststellen, dass häufig Leute alle diejenigen, die nicht in ihrem Zusammenhang tätig sind, für „ inaktiv“ halten. Jeder will die meisten Aktiven für den je eigenen Bereich und nimmt oft nicht wahr, dass Andere auf anderen Wegen ebenfalls etwas tun – ohne sich klarzumachen, dass erst eine Vernetzung aller Bereiche und Wege sowie das Wertschätzen jedes kleineren oder größeren Beitrages zu Veränderungsversuchen mehr Wirkmacht erreichen könnten.
Das heißt: ich habe eine apodiktische Haltung kritisiert, nicht einzelne Personen angegriffen. Zu den Arroganten gehören Sie ganz bestimmt nicht, soweit ich das wahrnehmen konnte.Sie ziehen auf Ihre Weise an einem Strang, an dem viele andere auf ihre wiederum eigene Weise zu ziehen versuchen.
# Sturm, Gerhard Lieber Gerhard Sturm,das wäre ein Missverständnis: ich habe keinesfalls „keine Leserbriefe“ schreiben auf meiner Fahne, im Gegenteil – ich habe schlicht einen vernachlässigten Aspekt der Debatte betonen wollen: dass das Leserbriefschreiben, so wichtig es ist, eben an einem der vielen Orte einer der vielen Schritte ist, die „das Gesicht der Welt verändern“ könnten. Wie Sie sehen, habe ich ja einen geschrieben…:-), als mir dieser Aspekt vernachlässigt schien – nicht aus der Sicht von jemandem, der Leserbriefe unwichtig fände oder nie einen schreiben wollte, oder gar „sich Einmischen“ unwichtig fände, im Gegenteil. Wenn andere aber, z.B. auch manche „Vielschreiber/innen“, und das geschieht häufig, schon formuliert haben, was ich auch denke – da bin ich für Sparsamkeit. Schon Gesagtes wiederholen, nur um selber „ich auch“ brüllen zu können, liegt mir nicht. Eine Sache lesen und sofort, wie manche es können, eine Meinung dazu parat haben, passiert mir eher selten.
@Marlis Cavallaro
Ich habe geschrieben:
„…was die Schreiber/innen so am Tage leisten?“
Gut so.
Hallo Bronski,
zu den frechen und bösartigen Wortverdrehungen, die M.Cavallaro #4 zu meinem Beitrag äussert , solltest Du vielleicht etwas sagen, ich laß es lieber bleiben 🙂