Die türkische Luftwaffe bombardiert Stellungen der kurdischen PKK in den Nachbarländern Syrien und Irak — und ein bisschen bombardiert sie auch Stellungen der IS-Islamisten. Denen sollte diese Wende der türkischen Politik eigentlich gelten. „Eigentlich“ heißt hier: Offiziell. Böse Zungen behaupten dagegen, dass die Türkei sich zu dieser Wende durchgerungen hat, nur um gegen die Kurden losschlagen zu können. Kaum etwas fürchtet der türkische Staatspräsident Erdogan mehr als erstarkende Kurden, die sich doch tatsächlich zuletzt gleich jenseits der türkischen Grenzen anschickten, staatsähnliche Strukturen zu bilden. Ein solcher Kurdenstaat würde die Türkei verändern, denn der ganze Südosten des Landes ist mehrheitlich von Kurden besiedelt und würde vermutlich zu einem Kurdenstaat tendieren. Im Parlament in Ankara sind die Kurden seit der letzten Wahl ebenfalls auffallend stark; ihretwegen hat Erdogans AKP keine absolute Mehrheit mehr. Dem Himmel sei Dank, möchte man seufzen, wenn man an den zunehmend autoritären Regierungsstil Erdogans denkt. Gut, dass er derzeit nicht alles machen kann, was er will.
Offenbar strebt Erdogan Neuwahlen an und hofft dabei, dass sein hartes Vorgehen gegen die Kurden ihm Sympathien einträgt, so dass er wieder eine absolute Mehrheit bekommen könnte. Das heißt: Erdogans Außenpolitik zielt aufs Innere. Angeblich war der Anschlag von Suruc, bei dem 32 Menschen getötet wurden, der Anlass für diese Wende; er soll auf das Konto des IS gehen. Könnte es sein, dass Erdogan den Anschlag zum Vorwand genommen hat, um gegen die PKK losschlagen zu können? Er hat noch einen anderen Vorteil von dieser Wende: Der Nato-Partner USA wird endlich zufriedengestellt. Seit Monaten, heißt es, drängen die USA darauf, die Flughäfen in der Südtürkei für ihr Bombardement des IS nutzen zu dürfen. Bisher hat die Türkei sich geziert. Jetzt dürfen die Amerikaner von dort aufsteigen — und natürlich halten sie sich nun mit Kritik am türkischen Bombardement der PKK zurück, obwohl die Kurden eigentlich Verbündete der USA im Kampf gegen den IS sind. Verlässliche Verbündete. Wesentlich verlässlicher als Erdogans Türkei. Und das alles im Schutz von deutschen Patriot-Raketen, die in der Südtürkei stationiert sind, und während deutsche Ausbilder die kurdischen Peshmerga trainieren …
Es ist diese Art der Politik, welche die USA wieder und wieder diskreditiert. Diese Politik ist auf den kurzfristigen Erfolg gepolt, auf das in nächster Zeit Erreichbare, auf das praktisch Machbare. Dafür sind die USA anscheinend bereit, frühere Bündnisse zu brechen. Aber sind hinter dieser Politik mit Schnappatmung auch langfristige Tendenzen erkennbar? Hat US-Präsident Barack Obama, der in letzter Zeit viel Lob für politische Erfolge einfahren durfte, immer noch nicht begriffen, dass die Radikalisierung von Teilen der islamischen Welt einen ihrer Gründe in eben dieser US-Politik hat? Er ist eigentlich ein kluger Kopf, und seine Rede von Kairo, in der er den Muslimen die Hand reichte, hat klar davon gekündet, dass er langfristig und strategisch zu denken imstande ist — doch dieser Rede folgte nichts außer Drohnenkrieg und jetzt dieser Coup mit Erdogan, der darauf zielt, den IS militärisch in die Knie zu zwingen. Doch der IS ist eine Idee — eine brutale, autoritäre, dumme Idee zwar, aber dennoch eine, die für zahllose Menschen auch im Westen enorme Attraktivität zu besitzen scheint. Und solche Ideen lassen sich nicht mit militärischen Mitteln niederringen. Dazu braucht man einen Gegenentwurf, eine Idee, die besser und stärker ist als jene Idee, die man besiegen will. Der Kampf gegen den IS ist eigentlich ein Kampf um die Köpfe. Hat Obama das verstanden? Oder ist er, um kurzfristige Ziele zu erreichen, dem Schlitzohr Erdogan auf den Leim gegangen, welcher der Hauptprofiteur dieses Arrangements zu sein scheint?
Wenn man der Theorie des Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington („Kampf der Kulturen“) folgen will, hat der islamische Kulturkreis keinen Kernstaat, der ihm führend die Richtung weisen könnte, wie dies für den westlichen Kulturkreis beispielsweise die USA tun. Dieser islamische Kernstaat habe einmal existiert, meint Huntington — in Gestalt des Osmanischen Reichs, das am Ende des Ersten Weltkriegs unterging. Die Theorie der Kulturkreise hat diverse Schwächen, die ich in einer Rezension von „Kampf der Kulturen“ auf meinem Autoren-Blog Ybersinn.de herausgearbeitet habe, aber sie hat auch Ansätze, welche die aktuelle Politik gut erklären können. Unter Erdogan ist die Türkei auf dem Weg, islamische Großmacht zu werden. Es könnte sein, dass Erdogans Ziel eben dieses ist: die Türkei wieder zu dem islamischen Kernstaat zu machen, der früher auf Teilen desselben Territoriums das Osmanische Reich war.
Darin liegen Chancen und Gefahren. Ein Kernstaat Türkei, ein neues Kalifat am Bosporus womöglich sogar, könnte helfen, die islamistische Sezession zu reduzieren oder gar zu beenden. Andererseits wissen wir nicht erst seit den Protesten vom Gezi-Park (FR-Blogtalk vom Juli 2013 mit einem Aktivisten), dass Erdogan ein kühler Machtpolitiker mit deutlich erkennbarem Hang zum Autoritären ist. Was die Türkei in seinen Augen groß macht, könnte zu Lasten von Demokratie und Menschenrechten im Land gehen. Dabei unterstützen ihn die USA nun, um kurzfristige Ziele zu erreichen. Ich fürchte, es gibt hier durchaus einen Politiker, der langfristige Ziele verfolgt und strategisch denkt — aber er heißt nicht Barack Obama.
Nun zu den Leserbriefen. FR-Leser Alex Kunkel aus Essen meint zu dieser verworrenenen Gemengelage:
„Die jüngsten Angriffe türkischer F-16-Bomber auch gegen PKK-Stellungen lösen in Berlin nur lauwarme Reaktionen aus. Ein „Nato-Partner“ nutzt den „war on terror“ für ganz eigensüchtige Hegemonieansprüche in der Region! Und drückt damit seine Verachtung gegenüber den kurdischen Erfolgen bei der tatsächlichen Bekämpfung des „IS“ am Boden aus. Die Politik aus Ankara begünstigte und unterstützte den IS durch Nachschub aus und medizinische Versorgung auf türkischem Boden. Selbst die Kriegsfinanzierung durch Ölverkäufe wurde geduldet. Das Kalkül war die Schwächung der Kurden und der Volksbefreiungskräfte auf syrischem Boden – sie sollten vom IS zerrieben werden.
Nicht anders ist die Verweigerung eines humanitären Korridors aus der Türkei nach Kobani zu verstehen. Medico International (Transport einer Blutbank) und andere Unterstützer werden mit bürokratischen Schikanen an der Solidarität gehindert. Der schon vor einiger Zeit geschmiedete Plan einer vom türkischen Militär errichteten Sicherheitszone auf syrischem Gebiet zielt einzig und allein gegen die vier kurdischen Kantone, von denen sich zwei bereits räumlich vereinigt haben und die dem IS den Nachschub aus der Türkei abschneiden. Dabei tragen die Kämpfer der YPG die Hauptlast der Erfolge gegen den IS an vorderster Front, was sich auch bei der Evakuierung der Jesiden gezeigt hat.
Ein besonderer Zynismus dabei ist, dass die türkischen Bomber im Windschatten deutscher Patriot-Abwehr-Raketen agieren können. Ausserdem hat offenbar mit der US-Regierung ein Kuhhandel stattgefunden, der US-Bombern den Stützpunkt Incirlik freimacht um im Gegenzug freie Hand gegen die Kurden zu haben.
Man erinnere sich an die kürzliche Armeniendebatte. „Völkermord“ für die Vertreibung der Armenier ist jetzt auch regierungsoffziell. Und im nächsten Atemzug wird eine aktuelle Politik, die darauf zusteuert, den Kurden den Garaus zu machen, mit Worten kommentiert wie: „Bitte den Gesprächsfaden mit der PKK nicht abreissen lassen.“ Man erinnere sich ebenfalls: Die PKK hatte den Waffenstillstand einseitig von sich aus erklärt. Die kurdischen Kantone stehen an vorderster Front gegen den IS. Die internationale Politik ist dabei, sie dem IS und der Türkei zum Fraß vorzuwerfen! Der sogenannte „Westen“ mit seinen zivilisatorischen Werten ist mal wieder dabei dabei sein wahres Gesicht zu zeigen – der Irak lässt grüßen!“
Heinz-Ewald Schiewe aus Berlin:
„Es ist einfach zum Kotzen mit der Nato und der deutschen Regierung. Welche Menschenrechte verteidigen die eigentlich? Die der Kurden sicherlich nicht, denn wenn man so einen wie Erdogan unterstützt, kann man ja wohl nicht von Verteidigung der Menschenrechte sprechen. Nur man kann von Merkel und Gabriel ja nichts mehr erwarten, leider …“
Günther Rohr aus Rodgau denkt strategisch:
„Was macht eigentlich die NATO, wenn sie sich gegenseitig überfallen? Zum Beispiel Zypern! Neuerdings liegen sogar die baltischen Staaten am Nordatlantik und demnächst wird es Georgien sein, kurz hinter Helgoland. Weiter so.“
„Dazu braucht man einen Gegenentwurf , eine Idee , die besser und stärker ist als die Idee , die man besiegen will“
Das ist der Kern des gesamten westlichen Problems , das , was die USA einst stark gemacht hat , weil man ihr moralische Überlegenheit und Eintreten für die Freiheit zuschrieb , ist mittlerweile den Bach runter , nur eine innere Erneuerung des Westens kann daran wieder etwas ändern .
Amerika sollte man dabei aber nicht vorzeitig abschreiben , Obama erinnert stark an Kennedy , eine überschätzte Lichtgestalt , die in der Praxis recht fragwürdige Politik betreibt – versuchte Invasion Kubas , Drohnenkrieg , Vorbereitung des Vietnamkriegs , Ukraine…
Damals folgte die Kehrtwende von 68 , und auch heute gibt es schon seit Jahren die Etablierung mehrerer Gegenbewegungen , auch das ein Spiegelbild der 60er.
Offener Brief an Staatspräsident Erdogan
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Welt, die Kurden und Sie selbst haben ein Problem mit sich: Sie hassen die Kurden! Es gehört sich nicht für ein Staatsoberhaupt, einen Teilseines Staatsvolkes zu hassen. Die Kurden sind ein gleichberechtigtes Volk mit den Türken und haben die gleichen unveräußerlichen Menschenrechte welche die Türken auch für sich beanspruchen können. Die Kurden haben bereits zur Zeit der persischen Großkönige in Anatolien gewohnt, als die Türken noch auf den Berggipfeln Zentralasiens gesessen haben. Vergessen Sie das nicht! Deutschland hat leidvolle Erfahrungen mit einem politischen Führer machen müssen, der seinen Hass auf einen Teil seines Staatsvolkes nicht bezähmen konnte. Wir Deutschen wollen diesen Führertyp in Europa nicht mehr sehen, schon gar nicht in einem Lande, das danach strebt, Mitglied der EU zu werden. Hören Sie endlich damit auf, die Kurden zu drangsalieren, zu diskriminieren, zu malträtieren zu schikanieren! Herr Erdogan, Sie haben eine große Chance, sich persönlich und das türkische Volk für eine Mitgliedschaft in der EU zu qualifizieren: im Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920, Artikel 62 und 64, war vorgesehen, dem kurdischen Volk das Territorium um Diyarbakir für die Schaffung eines eigenen Staates zur Verfügung zu stellen. Setzen Sie diese uralte Absichtserklärung endlich in die Tat um und erweisen Sie damit dem kurdischen Volke endlich den Respekt, den die Kurden selbst und das zivilisierte Europa von Ihnen erwarten! Geben Sie den Kurden endlich den zu Recht beanspruchten eigenen Staat, und in Ostanatolien wird Frieden herrschen! Nur mit dieser „befreienden Tat“ werden Sie für sich und Ihr Volk die Fahrkarte nach Europa verdienen!
BRAVO!!!!!!!!
Den Brief von Otfried Schrot sollte sich auch die Bundesregierung zu Herzen nehmen. Im Sinne der o.a. Leserbriefe wäre es sinnvoll, die NATO sofort aufzulösen; ihre eigentliche Aufgabe als „Verteidigungsbündnis“ gegen den Warschauer Pakt hat sich ja schon vor 25 Jahren erledigt.
Seitdem mischt sie sich unsinnigerweise in mehreren Ländern ein, ohne jedoch dadurch mehr Frieden zu bewirken, sondern eher das Gegenteil, wie die Aufmärsche, Manöver und laufenden Drohungen an der Grenze zu Russland unter Beweis stellen.
Die Politik Erdogans eskaliert inzwischen schon seit Jahren, ohne dass die NATO-Partner, weder die USA noch die EU, in irgendeiner Weise eingeschritten wären. Seit Jahren warte ich darauf, dass die Menschenrechtsverletzungen Erdogans von den Friedensnobelpreisträgern EU oder Obama verurteilt und mit Sanktionen belegt werden. Stattdessen unterstützt man ihn jetzt in einem vorgeschobenen Kampf gegen die IS, der sich in Wirklichkeit gegen den einzigen Widerständler gegen die IS, nämlich die PKK, richtet. Dass hier ein regelrechter Völkermord inszeniert wird wie seinerzeit gegen Armenier und Griechen u.a., wird weder von Kerry noch von Steinmeier erwähnt.
Das ganze Dilemma wird sich in der Ukraine vermutlich fortsetzen; denn die Falken diesseits und jenseits des Atlantik warten nur darauf, die Ukraine schnellstmöglich in die NATO aufzunehmen und ihr noch mehr Waffen zu liefern, allerdings ohne menschenunwürdige Bedingungen wie im Falle Griechenlands.
Was für eine Ironie , der wichtigste Partner des Westens vor Ort sind die Kurden , die einzige Kraft in der Region , der es gelungen ist , ihren linken Arm zu erhalten.
Das sollte dem Westen zu denken geben , die Kurden sind ein Paradebeispiel dafür , daß westlich-säkulare Werte nicht denkbar sind ohne die Integration linker Werte.
Leider folgt auch die Obama-Administration der seitherigen amerikanischen Maxime: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und gegenüber Freunden drückt man schon mal ein Auge zu. Jedoch wird Erdogan das gewöhnliche Schicksal eines Ex-Freundes Amerikas zu gegebener Zeit wohl nicht ereilen.