Berichten Sie religionskritisch!

Es ist immer wieder spannend: Sobald es um Religion geht, wird es ernst. Dabei begann es relativ harmlos. Die Kollegen von der Meinungs-Redaktion in Berlin meinten, noch einmal in der Beschneidungsdebatte nachlegen zu sollen, und präsentierten in der Rubrik „Einspruch“ das Schreiben des Rabbi Menachem Margolin, Direktor des Rabbinical Centre of Europe und der European Jewish Associaton, Überschrift im Print: „Angriff auf die Rituale“, online „Europas Juden müssen Religionsfreiheit haben„. Tenor: Beschneidungsgegner sind Antisemiten. Hatten wir eigentlich schon, regt auch niemanden mehr groß auf – lass ihn reden. Dachte ich. Dann kam der Leserbrief von Peter Bölker aus Neu-Anspach, den ich am 22. April unter der Überschrift „Berichten Sie religionskritisch!“ veröffentlichte, und siehe da: Bronski kriegt Kloppe. Aber zunächst der Leserbrief:

„Religionsfreiheit ist unbestritten ein schützenswertes Rechtsgut. Das heißt aber nicht, dass in einer säkularen Gesellschaft religionskritische Äußerungen nicht zulässig wären, nur weil sich religiös orientierte Menschen angegriffen fühlen. Toleranz ist mit Religion kaum vereinbar. Wenn in einem Zeitungsartikel alter und neuer Papst als „alte Männer“ tituliert werden, sehen katholische Hardliner darin Blasphemie und verlangen eine strafrechtliche Verfolgung.
Religionen haben in unserer Gesellschaft einen viel größeren Einfluss, als es dem Anteil der wirklich religiös Aktiven entspricht. Und sind dank Kirchensteuer immer noch solide finanziert. Sie sitzen in Parlamenten, Rundfunkräten und Verlagen und haben außerdem lautstarke Institutionen, die sich ständig in die gesellschaftliche Diskussion einmischen. Trotz dieser Präsenz fühlen sie sich ständig verfolgt. Und wenn ihnen etwas nicht passt, wird die Religionsfreiheit beschworen. Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, sich endlich von irrationalen Vorstellungen zu lösen. Tradition allein ist noch lange kein Rechtfertigungsgrund, auch wenn sie noch so alt sein mag! Und die Geschichte hat leidvoll gelehrt, dass Religionen nichts zum friedlichen Miteinander beitragen, trotz der friedvollen Floskeln, die in Gottesdiensten permanent runtergeleiert werden.
Von einer liberalen Zeitung würde ich erwarten, dass sie sich der Aufklärung verpflichtet fühlt und dass sie eher religionskritisch berichtet. Und das bedeutet eben nicht automatisch religionsfeindlich. Wenn sie aber heute zum wiederholten Male die Beschneidung von Kindern in einem Kommentar thematisieren, mit falschen Argumenten zu rechtfertigen versuchen, ist das nicht akzeptabel. Und besonders perfide daran: Den Kritikern pauschal Antisemitismus zu unterstellen. Ich frage mich ernsthaft: Hat diese Zeitung noch ein erkennbares Profil?“

***

Ich möchte an dieser Stelle betonen: Der „Einspruch“ des Rabbi war kein redaktioneller Beitrag der FR oder der Berliner Zeitung. In der Rubrik „Einspruch“ werden normalerweise längere Leserbriefe prominent auf der Meinungsseite veröffentlicht. Es handelte sich also zwar um einen Meinungsbeitrag, aber keinen der FR.

Mit diesem Leserbrief ist Klaus Wolper aus Hamburg überhaupt nicht zufrieden:

„Warum kommt Religionskritik immer wieder so niveaulos daher, dass kein Gebildeter sie ernstnehmen kann?! Gewiss, die neuerliche Aufwärmung der Beschneidungsdebatte war überflüssig. Gewiss, die Behauptung, die beiden Großkirchen (keinesfalls „die Religionen“!) seien in staatlichen Gremien überrepräsentiert, könnte stimmen, wäre aber nur empirisch zu prüfen (und wissenschaftsmethodisch sehr schwierig). Jedoch die Unterstellung, der Hinweis auf das Alter der Ppste provoziere Blasphemie-Anzeigen, ist grotesk – schon weil nur schlimmste Häretiker Päpste als göttlich verehren könnten. (In dem wohl gemeinten Taz-Kommentar ging es nicht um das Alter, sondern um persönliche Beleidigungen.)
Und mit welchem Recht tut der Autor kirchliche Friedenspredigten als „runtergeleierte Floskeln“ ab?
Er widerspricht sich selbst, wenn er Religion für mit Toleranz „kaum vereinbar“, aber gleichwohl für schützenswert hält. Aber vielleicht hat er ja uneingestanden die Plädoyers des unverdächtigen J.Habermas für die unentbehrliche Beteiligung religioeser „Sinnressourcen“ an öffentlichen Werte-Diskursen im Hinterkopf …
Warum kann Religionskritik in Leserbriefen sich nicht mal intelligent und kenntnisreich (und im Gestus ueber sich selbst aufgeklaerter Aufklaerung) profilieren? Dafuer gibt es auch in der FR Beispiele – etwa in Beitraegen von Arno Widmann.“

Thomas Klein aus Bolanden meint:

„Um eines gleich vorweg zu nehmen: Ich lese diese Zeitung seit Studententagen wegen der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themen.
Kritik ist eine persönliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Inhalten oder Thematiken und kann positiv oder negativ ausfallen. Wichtig für mich ist dabei die Beleuchtung beider Seiten der Medaille und nicht eine sture Aufzählung persönlicher und unreflektierter Ansichten. Dieses gelingt den Schreiberinnen und Schreibern der FR meiner Meinung nach ziemlich gut. Und dass Sie dabei eher religionskritisch berichten (im negativen Sinne kritisch), zeigt alleine schon die Veröffentlichung des Leserbriefes von Herrn Bölker. Ich erkenne in ihm nichts weiter als eine Zusammenstellung von Floskeln, ohne diese mit Belegen zu füllen.
Da wird zwischen Christentum, Islam und Judentum hin und her geschwankt, alles in einen Topf geworfen und dieses dann unter dem Begriff „Religion“ gleichgeschaltet. Da wird die Geschichte bemüht, um aufzuzeigen, dass Religionen und Frieden nichts miteinander zu tun haben. Das stimmt, wenn ich Politik, Machtinteressen, Wissenschaft und das menschliche Wesen unter den Begriff ‚Religion‘ zusammenfasse. Bedenken habe ich dann, wenn ich mir die Quellen für die Grundlagen des Friedens (Toleranz, Nächstenliebe, Gerechtigkeit) heraussuche. Dann fallen mir eigentlich nur religiös geprägte Schriften ein; in unserem Kulturkreis vor allem die Bibel.
Weiter kann ich lesen, dass ein wie auch immer gearteter Einfluss der Religionen auf die Gesellschaft mit dem Argument beklagt wird, dass dieser größer sei als der „Anteil der wirklich religiös Aktiven“. Soweit ich Studien zu diesem Themenbereich kenne (z.B. im Auftrag des hessischen Rundfunks 2011), sehen sich weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung als religiös aktiv.
Da in dem Leserbrief die Verpflichtung zu Idealen der Aufklärung beschworen wird, möchte auch ich dazu beitragen: „Als Religion (von lateinisch religio ‚gewissenhafte Berücksichtigung‘, ‚Sorgfalt‘, zu lateinisch relegere ‚bedenken‘, ‚achtgeben‘, (…) wird eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene, die menschliches Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen prägen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen, bezeichnet.“, so lese ich es in ‚Wikipedia‘. Dazu zählen neben Christentum und Islam sicherlich auch die Bewegung der Aufklärung, der so genannte Humanismus und andere Strömungen, die sich fälschlicherweise als nicht-religiös bezeichnen.
Die Psychologie beschreibt den Menschen als religiöses Wesen, weil er über Erfahrungen verfügt und diese in Form von Überzeugungen nach innen und nach außen auslebt. Die Soziologie untersucht diese Phänomene und beschreibt die Auswirkungen auf eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft kann wissenschaftlich gesehen ohne Religion nicht existieren, da ihre Werte und Normen eben darauf basieren. Somit sind wir im engeren Sinne irgendwie alle religiös aktiv, wenn wir aktiver Teil einer Gesellschaft sein wollen. Ob wir dies mit Beschneidung, dem Papsttum oder dem alleinigen Wissenschaftsglauben verbinden können oder dürfen, wird in einer Demokratie über die Gesetzgebung entschieden. Und so lange wir persönliche Ansichten und Meinungen öffentlich äußern dürfen – auch wenn sie unreflektiert und inhaltlich falsch sind, freue ich mich jeden Morgen auf „meine“ Zeitung, die FR.“

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18 Kommentare zu “Berichten Sie religionskritisch!

  1. Zwei Anmerkungen dazu:
    1.(eigentlich OT, aber ich kann es mir an dieser Stelle nicht verkeneifen) Ich empfinde es schon als bezeichnend, dass die FR als Neuauflage der Beschneidungsdebatte nur eine Wiederholung von kirchlicher Seite aus druckt, anstatt z.B. darauf hinzuweisen, dass dem medizinischen Gutachten des AAP, auf dessen Basis die meisten Beschneidungsfürworter entschieden haben dürften, inzwischen weltweit widersprochen wurde. Das wäre immerhin eine echte Nachricht gewesen – man kann sie hier nachlesen:
    http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2013-03/beschneidungsgesetz-kinderaerzteverband-aap

    2.) Ein ganz Teil der Widersprüche – sowohl zwischen den Fronten, als auch innerhalb einzelner Beiträge – würde sich auflösen, wenn die Autoren sich die Mühe gäben, zwischen Kirchen und Religionen zu unterscheiden. Unter dem Schutz der Verfassung steht die Religion, sofern ihre Ausübung nicht die Rechte anderer beschränkt, aber nur indirekt die Kirche. Die Religion ist die „Geisteshaltung“, die Kirche dazu die machtpolitisch agierende Verwaltungs- und Vertriebsorganisation der jeweiligen Wahrheit, die in ihrem Handeln aber gleichzeitig normalerweise nicht an dem Maß gemessen werden möchte, das sie selbst verbreitet.

    Und da kommen wir zu dem gewaltigen Unterschied zwischen Strömungen wie der Aufklärung oder Haltungen wie dem Humanismus und einer Religion. Die ersteren verfügen nicht über eine Kirche, ihre Wahrheiten speisen sich nicht aus dem vorgeblich Absoluten, sondern entstehen im argumentativ entwickelten Konsens. Und wenn man einem Humanisten vorwirft, dass er dummes Zeug redet, ist das für ihn ein Anlass, seine Äußerung zu begründen, und er kann das auf einer Basis tun, die weitgehend kulturunabhängig ist. Wenn ich einem Gläubigen sage, dass das in meinen Augen Unsinn ist, was er erzählt, wird er sich auf einen Gott berufen, den wir beide noch nicht gesehen haben und ansonsten das Recht in Anspruch nehmen, in seinen religiösen Gefühlen verletzt worden zu sein.

    Wer also Religion und Humanismus in einen Topf werfen möchte, zeigt damit in meinen Augen nur, dass er vorhat, falsch zu spielen.

  2. Religionen tun sich keinen Gefallen , wenn sie das Festhalten an jedem archaischen Ritual gleich mit der Religionsfreiheit verbinden.
    Da können sie nur verlieren , nach dieser Logik müsste es heute noch Menschenopfer geben , oder , es dürfte im Umkehrschluß nicht von der Existenz der Religionsfreiheit gesprochen werden.

    Und wie wärs mal mit innerreligiöser Selbstkritik?

  3. Vorneweg, ich muss mich voll auf die Seite von Peter Bölker stellen. Er beschreibt die Situation in unserem Lande völlig richtig.
    Wenn jemand, wie Klaus Wolter seinen Beitrag so anfängt : „Warum kommt Religionskritik immer wieder so niveaulos daher, dass kein Gebildeter (!) sie ernst nehmen kann…“ kann ich ihn schon nicht mehr ernst nehmen. Er bleibt auch an der Oberfläche hängen. Peter Bölker beschreibt die Fakten so wie sie jeder sehen kann, der sie sehen will.

  4. Um es mit einem abgewandelten Zitat des früheren Nationaltorwarts Olli Kahn zu sagen: Laizismus, wir brauchen Laizismus.

  5. “Warum kommt Religionskritik immer wieder so niveaulos daher, dass kein Gebildeter sie ernstnehmen kann?!“… (Klaus Wolper)
    Weil die „normale Religionskritik“ gar nicht als solche gemeint ist, sondern lediglich eine Abwehrreaktion gegen den Einfluss der Kirchen und Religionen in das Leben der unreligiösen Menschen darstellt. Es ist mehr ein „last mich mit eurem Kram zufrieden“ als eine theoretische Kritik, es ist also einfach eine praktische Lebensäußerung. Müssen wir jetzt wirklich erst den Bildungsanteil der religiös lebenden Menschen untersuchen, oder ist es möglich, das Thema auch zu betrachten, ohne derart abqualifizierend über die andere Seite zu schreiben? Ich bin als Atheist, obwohl ich bereits aus Kindertagen, in denen ich dieses Wort noch nicht kannte, weiß, warum ich das bin und warum ich meinen religiösen Eltern nicht in ihrem Glauben gefolgt bin, überhaupt nicht an einer Religionskritik interessiert – Kirchen und Religionen interessieren mich nur insofern, als ich möchte, dass sie mich zufrieden lassen, und dass sie erkennen, dass eine Argumentation, die sich auf Offenbarung beruft, für jemanden, der die Anerkennung dieser Offenbarung nicht teilt, keine Argumentation ist, sondern nur dummes Geschwätz. Und Religionen interessieren mich höchstens von der psychologischen Seite ihrer Macht über Menschen und wie sie dahin kommen.

    „…..des Leserbriefes von Herrn Bölker. Ich erkenne in ihm nichts weiter als eine Zusammenstellung von Floskeln, ohne diese mit Belegen zu füllen.
    Da wird zwischen Christentum, Islam und Judentum hin und her geschwankt, alles in einen Topf geworfen und dieses dann unter dem Begriff “Religion” gleichgeschaltet. Da wird die Geschichte bemüht, um aufzuzeigen, dass Religionen und Frieden nichts miteinander zu tun haben. Das stimmt, wenn ich Politik, Machtinteressen, Wissenschaft und das menschliche Wesen unter den Begriff ‘Religion’ zusammenfasse. …..“ (Thomas Klein)
    Wer das Offensichtliche anspricht, muss nicht viel belegen. So haben wir Parteien, innerhalb derer es völlig normal ist, christliche Arbeitskreise zu besitzen. Bei ca. 40% nicht kirchlich gebundener Menschen ist es trotzdem z.B. selbst in einer Partei mit der Geschichte der SPD offensichtlich schwierig auch nur einen laizistischen Arbeitskreis zu gründen, ohne dass das von Teilen der Parteiführung, die christlich aktiv sind, unterbunden wird (dabei ist laizistisch ja nicht antichristlich, es sind auch Christen in dieser SPD-Arbeitsgruppe. Aber Laizismus führt natürlich zu einer Minderung der Macht der Kirche). Wir haben ein Bundesverfassungsgericht, das sich vom Papst beraten lässt und erleben gerade wie Krankenhäuser und Schulen massiv in kirchliche Hände privatisiert werden.
    Ich könnte jetzt noch eine ganze Weile weiterschreiben, lasse es aber. Wie gesagt: Es ist das Offensichtliche, und wer das noch belegt haben möchte, der macht nicht mehr, als auf seinem Recht auf Blindheit zu bestehen.

    Die Geschichte mit dem Eintopf aus Christentum, Islam und Judentum ist schon etwas anspruchsvoller, auch wenn man es sich damit leicht machen könnte, dass das Christentum eine jüdische Sekte und der Islam ein Abkömmling des Christentums ist, die drei werden deshalb nicht umsonst als abrahamitische Religionen zusammengefasst.

    Soweit zur Vergangenheit, in der Gegenwart unterscheiden sich diese drei Religionen natürlich gewaltig: So genügen sich die Juden in ihrer Exklusivität, während Islam und Christentum den Anspruch erheben, die Wahrheit der Welt zu vertreten und dementsprechend auch die Welt unter sich zu versammeln – beide haben ein Missionierungsgebot. Allerdings wird das in weiten Teilen des (europäischen) Christentums heute insofern relativiert, als diese die Bibel zwar als göttlich inspiriert, aber eben nicht mehr als das direkte Wort Gottes ansehen – Christen, die das tun, werden als Fundamentalisten bezeichnet, während der größte Teil des christlichen Priestertums die Bibel -Exegese heutzutage nach der Historisch-kritischen Methode betreibt. Soetwas wiederum gilt im Islam als Ketzerei, weshalb man eigentlich nach den bei uns üblichen Maßstäben praktisch alle Muslime als fundamentalistisch, mithin islamistisch bezeichnen müsste, was allerdings als politisch inkorrekt empfunden wird, weil es gleichzeitig bedeutete, den politischen Anspruch dieser Religion/Kirche zu bewerten, und so etwas gehört sich nicht – da sind sich dann alle Kirchen ganz schnell einig. Diese Einigkeit kann übrigens in Zeiten wachsender Ungläubigkeit sehr schnell provoziert werden, wie auch bei der Beschneidungsdiskussion zu sehen war.

    „… Eine Gesellschaft kann wissenschaftlich gesehen ohne Religion nicht existieren, da ihre Werte und Normen eben darauf basieren. Somit sind wir im engeren Sinne irgendwie alle religiös aktiv, wenn wir aktiver Teil einer Gesellschaft sein wollen….“(Thomas Klein)

    Das ist in dieser Form natürlich purer Unsinn. Die Normen dieser Republik basieren auf den Menschenrechten und die mussten erst gegen die Kirchen durchgesetzt werden. Dass die Menschenrechte inzwischen durch eine nachträglich veränderte Exegese quasi vom Christentum annektiert wurden, ändert nichts daran, dass sie nicht aus der Religion stammen. Letztendlich basieren sie auf der goldenen Regel, zu der letztendlich jede Kultur kommen musste, um überhaupt erfolgreich zu sein. Die Herkunft der goldenen Regel (eigentlich aller sozial sinnvollen Regeln) liegt im Erfolg ihrer Anwendung, Religion ist eigentlich nur das Vehikel einer stabilisierten Tradition. Die Existenz von Normen und die Beschäftigung damit als Religion zu bezeichnen, liegt auf ähnlichem Niveau wie die Bezeichnung des Humanismus als Religion (s.o.).

    Nach dieser Klärung des Hintergrundes noch einmal zu der Frage, was ich sinnvollerweise von einer Zeitung verlangen kann:

    Kerngeschäft jeder Zeitung ist die Nachricht, Neuigkeit, also die Information, die von der Abweichung vom Herkömmlichen, Normalen zeugt. Das lässt bereits einen großen subjektiven Rahmen zu, denn was für mich normal ist und was ich bei beschränktem Platz für wert halte, darüber zu berichten, unterscheidet sich von Person zu Person. Hier ist die erste Gelegenheit für die Ausrichtung einer Zeitung – Zeitungen sind Tendenzbetriebe.

    Die zweite Aufgabe der Zeitung besteht in der Einordnung, Kommentierung des Berichteten. Hier wird die Zeitung mit einem Kommentar beim Leser mit ähnlichem Standpunkt Resonanz erzeugen, bei dem mit anderem Standpunkt wird der selbe Kommentar als Missklang wahrgenommen – Zielgruppe des Kommentars ist die der Leser mit ähnlichem Standpunkt – das dient der Kundenbindung.

    Soviel zur normalen Zeitung – es gibt noch eine andere Zielgruppe für den Kommentar, das sind die Unschlüssigen. Bei denen dient der Kommentar der Erzeugung eines Standpunktes. Wenn eine Massierung der Kommentare erkennen zu erkennen ist, die gegen die Meinung der überwiegenden Leserschaft gerichtet sind, scheidet der normale wirtschaftliche Hintergrund der Kundenbindung aus, die Zeitung begibt sich auf dem Weg in ein Zuschussgeschäft und wird Propagandainstrument. Bei der Beschneidungsdiskussion habe ich fast die gesamte deutsche Presselandschaft so empfunden – sie kam mir vor wie gleichgeschaltet, nur in diesem Fall nicht durch ein Propagandaministerium, sondern durch eine konzertierte Aktion der Kirchen.

    Vor diesem Hintergrund wird klar, dass ich von einer allgemeinen Zeitung, auch von einer mit einer linken oder linksliberalen Ausrichtung, keine explizit kirchenkritische Haltung erwarte. Was ich allerdings erwarte, ist Ungehorsam. Am Beispiel des bereits zitierten Gutachtens des AAP zur Beschneidung eine fachliche Infragestellung der offensichtlich kirchlich erwünschten Nachricht und, am selben Beispiel, die offizielle Korrektur dieser Nachricht (s.o.). In dieser Diskussion hatte die FR in der Summe der Beiträge die Schwelle von der Zeitung zum Propagandaorgan nach meiner persönlichen Empfindung überschritten, denn wo ich diesen Ungehorsam nicht erkennen kann, muss ich die (evtl. neue) Tendenz des Verlages vermuten.

  6. Wie ja hier schon mehrfach thematisiert wurde, geht es hier auch um die aggressive Instrumentalisierung der Freiheit.

    Wenn das zentrale Argument werden sollte, daß sich ein Mensch oder eine Gruppe in „religiösen Gefühlen“ verletzt fühlt und sich dagegen wehren darf, dann ist es ebenso legitim, sich in seinen unreligiösen oder antireligiösen Gefühlen verletzt zu fühlen und sich dagegen zu wehren.
    Die negative Konsequenz ist das Prinzip des geschlossenen Raums, der jedem die Ausübung seines Glaubens dort gestattet, wo niemand anderer gezwungen ist, die Ausübung wahrzunehmen.
    Dies würde einen religionsfreien, auch religionskritikfreien öffentlichen Raum erfordern. Es wäre also auch untersagt, sich zu einem Glauben öffentlich zu bekennen oder dessen Ausübung öffentlich zu vollziehen. Gleichzeitig wären aber die religiösen Gruppen jedem sozialen Korrektiv entzogen.

    Die positive Konsequenz wäre, bei jeder Demonstration von Religiösität, Areligiosität oder Antireligiösität ein Gleichgewicht herzustellen, daß jedem eine angemessene, aber nicht beleidigende oder provozierende Darstellung des eigenen Standpunktes erlaubt. Dazu gehört, daß Religiösität nicht der Maßstab sein darf.
    Dem steht leider noch immer das Urteil im Wege, daß gläubige Menschen dem Guten näherstünden und gegen das Böse eher gefeit seien.
    Sowohl im Opfer-, als auch im Tätergeschehen sind wir darüber belehrt worden.

  7. Zur Beschneidung will und muß ich mich nicht noch einmal äußern, das habe ich an anderer Stelle bereits getan. (#3 in http://www.frblog.de/beschneidung-3) Dabei bleibe ich, mögen mich auch noch so viele Rabbis als antisemitisch und antijudaistisch brandmarken. Das sei dann eben so.

    Was Religionskritik betrifft, mag das zwar eine nette intellektuelle Herausforderung sein, eine niveauvolle Religionskritik zu schreiben, doch letztlich stellt sich mir, nachdem ich das selbst schon mehrfach exerziert habe, die Frage nach dem Sinn dieser Handlung. Cui bono? Die von ihrer Religion überzeugten werde ich damit kaum erreichen, die fühlen sich schlimmstenfalls davon noch persönlich attackiert und schreien „Blasphemie“, „Intoleranz“ und ähnliches. Bestenfalls ignorieren sie es, nach dem Motto „Der Teufel hat viele rationale Argumente, aber man braucht ja nicht auf ihn zu hören!“ (nach Leszek Kołakowski, Der Himmelsschlüssel) Bei den Nichtgläubigen wiederum trage ich Eulen nach Athen oder stoße einfach auf Schulterzucken, siehe Frank Wohlgemuths Beitrag. Über seinen Beitrag hinaus muß ich nicht mehr schreiben.

    Religionskritik kann also bestenfalls der Provokation der Gläubigen dienen, die leicht darauf anspringen. Dafür brauche ich aber nicht schöngeistige Essays zu schreiben, wenn das Ergebnis all der mühevoll gedrechselten Worte der gleiche emotionale Ausbruch ist, als wenn ich das Bemühen auf eine Drei-Worte-Essenz „Religion ist Shice“ eindampfe. In der Kürze liegt die Würze! Das mag Herr Wolper zwar als niveaulos empfinden, aber wenn ich die zum Teil recht aggressiven Attacken von Glaubensanhängern sehe, mit der alle überzogen werden, die ihr eigenes Leben zu leben wagen, frage ich mal hier nach dem Niveau. Da gibt es auch mal einen groben Keil auf eine groben Klotz und kein niveauheischendes Gesäusel mehr: Laßt mich endlich in Ruhe leben und behelligt mich nicht weiter mit eurer Seelenfängerei.

  8. @EvaK
    Ich denke, die Konsequenzen sind weittragender.

    Eine Religion, die sich der Kritik verweigert, schließt sich auch aus dem Dialog aus. Ebenso schließen sich die aus dem Dialog aus, die nur fordern, unbehelligt zu sein.
    Beides führt zu Fundamentalismus und beides unterwirft sich den jeweils Mächtigeren. Religionskritik ist immer auch Religionsverstehen, Atheismuskritik ist immer auch Atheismusverstehen.

    Menschen suchen Frieden in der Monokausalität. Ebendort ist er aber nicht zu finden.

  9. @BvG: Das liest sich alles logisch, ist es aber nicht, weil es IMO der Empirie entbehrt. Mir ist noch keine Religion begegnet, die einen ernsthaft kritischen Dialog sucht, denn wer sich im Besitz der ultimativen und einzigen Wahrheit wähnt, diskutiert nicht darüber. Ich habe mich mit den drei abrahamitischen Religionen ausreichend beschäftigt, um ihre Widersprüche zu sehen und logisch dagegen argumentieren zu können. Die Konsequenzen dessen habe ich beschrieben: Entweder werde ich ignoriert oder ich werde attackiert, denn es fehlt den Religionen eine logische greifbare und beweisbare Antwort.

    Ich strebe daher keinen Dialog mit Religionen an, weil ich nicht über Aberglauben und Esoterik diskutiere. Das führt mich aber nicht zwangsläufig zum Fundamentalismus, denn ich versuche weder Religionsanhänger zu bekehren noch bekämpfe ich Religionen aktiv. Trotz der von ihnen ausgehenden Gefahr für Aufklärung, geistige Freiheit, aufrechten Gang und Individualität usw. toleriere ich ihre Existenz.

    Monokausalität ist für mich übrigens keine Lösung, weil es nicht die eine Wahrheit gibt, sondern nur Entscheidungen für einen von mehreren möglichen Wegen. Das ist bei Religionen nicht gegeben, dort gibt es keine Entscheidungsfreiheit, sondern nur Unterwerfung.

    Frieden suche ich nicht, weil Frieden eine der großen Lügen ist. Der Begriff Frieden, wie wir ihn kennen, definieren und benutzen, ist untrennbar mit seinem Gegenstück Krieg verbunden. Beide bilden ein Gegensatzpaar, eine Dichotomie, das nur miteinander existieren kann. Wer Frieden sagt, meint auch automatisch Krieg. Frieden ist Krieg und Krieg ist Frieden. Machen Sie die Probe und fragen in einer größeren Runde, was den Leuten spontan zum Wort Frieden einfällt.

  10. Da ich schon auf etliche Jahrzehnte gelebtes Leben zurück schauen kann, wage ich es mal meine Wahrnehmung preizugeben.
    Ich halte die „Zeit der Religionen“ für eine Epoche, die jetzt einfach keinen Platz mehr hat in der Entwicklung unseren technisch und wissenschaftlich geprägten Gesellschaften. Sehen wir es einfach so : Die Menschheit ist dabei, eine weitere Entwicklungsstufe zu beschreiten. Religionen behalten ihren Wert als Teil im künftigen Geschichtsunterricht.

  11. @BvG #8
    „Menschen suchen Frieden in der Monokausalität. Ebendort ist er aber nicht zu finden.“ (BvG)

    Ich vermute mal, dass Sie mit Monokausalität eine verordnete einheitliche Weltanschauung meinen, und stimme ihnen in dieser Bedeutung zu, ohne genau danach zu sehen, was denn Friede bedeutet, und wo genau er zu finden wäre.

    Wo ich Ihnen widerspreche, ist folgende Aussage:
    „Religionskritik ist immer auch Religionsverstehen, Atheismuskritik ist immer auch Atheismusverstehen.“

    Sie gilt nur für die Kritik aus dem Inneren, nicht für die von der anderen Seite. Die Kritik von der Gegenseite ist bei diesem Thema immer analytisch, zerlegend, und hat nach Betrachtung der gefundenen Teile keine Intention, das Objekt wieder zusammenzusetzen.

    Etwa ein Franz Buggle, der sich in „Denn sie wissen nicht, was sie glauben – Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann“ die Bibel vornimmt, entwickelt dabei ein eigenes, unchristliches Verständnis der Bibel und damit gleichzeitig ein Unverständnis für das Christentum.
    Oder ein Karlheinz Deschner, der sich in der „Kriminalgeschichte des Christentums“ mit christlichem Handeln auseinandersetzt und damit implizit danach fragt, was das für ein Gott ist, der da inspirierte, und dem auch ziemlich jegliches Verständnis für diesen Gott bzw. seine irdischen Vertreter flöten geht. (@Klaus Wolper: Die z.T. heute noch fehlende Distanzierung von diesen historischen Verbrechen, die allerdings einem Eingeständnis gleichkäme, eben als weltliche Organisation nicht besonders göttlich inspiriert zu sein, ist es übrigens, die die Friedenspredigten so leicht zu Floskeln degradiert. Diese fehlende Distanzierung zeugt von vielem, nur nicht von etwas, das ich als Aufrichtigkeit interpretieren kann.)

    Es gibt also Kirchenkritik von außen, und wer sich ernsthaft mit ihr beschäftigt, findet dabei nicht unbedingt Verständnis für den Glauben und seine Organisationen. Die Existenz dieser Kritik würde ich auch nie in Abrede stellen. Meine Aussage zur „Religionskritik“ als Lebensäußerung bezog sich auf Klaus Wolper, der so viel Wert auf seine Bildung legte, die er eben in Religionskritik nicht fände. Und das kann eigentlich nur daran liegen, dass er sich mit ernsthafter Religionskritik von Außen nie befasst hat und die reine Abwehr kirchlicher Ansprüche auf Nichtmitglieder als Kritik erlebt. Das ist bei der Abhängigkeit eines Gläubigen zwar aus psychologischer Sicht zwar verständlich (@ Thomas Klein: in dem Zusammenhang ganz interessant: z.B. Lactantius und Augustin leiten Religio nicht von relegere ab, sondern von religare = zurückbinden, befestigen), aber diese Abwehr ist trotzdem keine intellektuelle Kritik und versteht sich selbst normalerweise auch nicht so.

  12. @EvaK,maderhholz,Wohlgemuth

    Mit Fundamentalismus meine ich, daß sich ein Mensch auf nur eine Sichtweise zurückzieht, aus welchen verstehbaren Gründen auch immer. Ich sehe die Dialogverweigerung bei den Kirchen auch , aber diese ist, wie maderholz zurecht betont, völlig überholt. Sie wird umso konsequenter um ihr Bestehen kämpfen. Eine aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossene Kirche wird aber zu weiterem, extremerem Fundamentalismus führen. Nur wenn die Gedanken und die Methoden der Auseinandersetzung mit dem „Übermenschlichen“ in die allgemeine Diskussion Eingang finden, werden sie auch rationaler werden. (Damit meine ich natürlich nicht die Methoden der Macht!)
    Ich gebe maderholz Recht, wenn er sagt, die „Zeit der Religionen“ sei vorbei. Aber noch sind sie präsent. Eine solche bedeutende Lücke muß aber auch gefüllt, das Fehlende muss ersetzt werden. Welche Pseudoreligionen und Kulte uns da ins Haus stehen, ist wohl bekannt. Es gilt, die Lücke rechtzeitig und mit dem richtigen Inhalt zu schließen. Was ist aber der richtige Inhalt?
    @Wohlgemuth
    Sie verwechseln „Verstehen“ im Sinne von Erkenntnis und „Verständnis“ im Sinne von Akzeptanz. Ich meine das einfache, distanzwahrende Verstehen von Informationen. Inwieweit sich ein Verstehender gegen die emotionale Faszination oder Verführung des Gegenstandes zu wehren vermag, ist vielleicht eine Funktion seiner Bildung, vielleicht eine Funktion der Bodenständigkeit, vielleicht aber auch bloss eine Funktion der frühen Indoktrination.
    Mit Monokausaliät meine ich das Bedürfnis des Menschen, eine Ursachen-Wirkungs-Kette zu entwickeln, die seinen derzeitigen Wesenszustand als folgerichtig erscheinen lässt und, zum eigenen Seelenheil, als „richtige Folge“, also „Sinn“ empfinden lässt. Wo dies nicht gelingt, ist eine „verordnete, einheitliche Weltanschauung“ ein tröstliches Konstrukt.

    Es gibt den schönen Spruch: Glauben heißt, nicht wissen.
    Man kann ihn auch so verstehen: Solange Glaube nötig ist, ist es mit dem Wissen nicht weit genug gediehen.

  13. @BvG #12
    „Sie verwechseln “Verstehen” im Sinne von Erkenntnis und “Verständnis” im Sinne von Akzeptanz. “ (BvG)
    Nö. Wenn Sie meinen Beitrag noch einmal lesen, können Sie feststellen, dass ich mir sogar den Spaß gemacht habe, das Wort verstehen jeweils zweimal und dabei in unterschiedlichen Bedeutungen zu benutzen. 😉

    Die Monokausaltität (also doch in ihrer richtigen Bedeutung) passt allerdings genauso wenig zu diesem Thema wie die Bildung – die „Faszination“, die von einem Gott ausgeht, entsteht nicht durch Verstehen, die frühe Indoktrination ist ein halber Treffer und gleichzeitig insofern ein Widerspruch in sich, als die religiöse „Prägung“, um die es hier geht, schon viel früher beginnt, als Indoktrination überhaupt möglich ist:

    Die Erwähnung von Monokausaltiät und Bildung in diesem Zusammenhang deutet an, dass Intelligenz und Wissen im Gegenstand um Glauben stünden, das dürfte aber sehr schwer zu belegen sein. Ich kenne Christen, die mir bildungsmäßig weit überlegen sind und intelligenzmäßig mindestens ebenbürtig, die in der Politeia und der Summa contra Gentiles genauso zu Hause sind wie in der Quantentheorie und trotzdem an einen Gott glauben. Nicht unbedingt an einen alten Mann mit weißem Bart, aber immerhin an einen persönlichen Gott.

    Den Anfang der Religiosität nehmen wir wahrscheinlich bereits vor der Sprachfähigkeit rein empathisch mit der Übernahme elterlicher Gefühle in bestimmten Umgebungen oder Situationen auf, und dann hat der Monotheismus den Vorteil, dass sein Gott die Rolle des Vaters aus kleinkindlicher Sicht fortführt. Unsere Abhängigkeit von diesem Gottesbild hat also wahrscheinlich mehr mit der tatsächlichen Rolle des Vaters in der Kindheit zu tun als mit unserem Intellekt. Zu dieser Vorstellung passt auch die Heftigkeit, mit der Menschen auf eine „Verletzung religiöser Gefühle“ reagieren: Die Verhältnisse, aus denen die heftigsten Reaktionen auf Blasphemie erfolgen, kann man sehr einfach als patriarchal beschreiben (Die professionelle Empörung der Berufsgläubigen lasse ich mal außen vor).

    Eine verordnete Weltanschauung, die also nicht gleich der gefühlten, von den Eltern übernommenen ist, ist übrigens nie tröstlich, weil sie immer als falsch, nämlich verordnet wahrgenommen wird. Verordnet bedeutet aus institutioneller Macht bestimmt; das funktioniert nur solange, solange diese institutionelle Macht von so vielen (u.a. von den Eltern) getragen wird, dass die Verordnung gleichzeitig als allgemeiner sozialer Druck funktioniert und deshalb eher als Geborgenheit wahrgenommen wird. So war im Europa des Mittelalters ein Leben außerhalb der Kirchen unmöglich, objektive wie emotionale Sicherheit gab es nur innerhalb der Kirche.

    Noch ist es übrigens so, dass, zumindest in den „alten“ Bundesländern, die Mehrheit der Atheisten nichts Neues erfährt, wenn sie in einen „Dialog mit dem Glauben“ tritt, die Mehrheit stammt nämlich aus einer gläubigen Umgebung , ist christlich sozialisiert, und der aktive Austritt aus der Kirche geschah im Erwachsenenalter. Diejenigen, die diese Trennung bereits als Kinder vollzogen hätten, wenn man sie gelassen hätte, dürften die Minderheit sein. Dass Kinder offen atheistisch aufwachsen wie meine, ist in dieser Menge eine relativ neue Entwicklung in dieser Republik, die Atheisten heute standen bzw. stehen also bereits lange in diesem Dialog..

    Es will eigentlich auch niemand die Religionen aus dem öffentlichen Leben verbannen. Alles, was gefordert wird, ist die Rolle der Kirche im Staat und damit ihre politische Macht auf das Maß zu begrenzen, das ihr von ihrer Rolle im Leben der Menschen zusteht, und dieses Maß nimmt, wie die Austritte ziemlich unmissverständlich zeigen, von Jahr zu Jahr ab. Stattdessen gibt ihr die öffentliche Hand die Macht, die die Menschen der Kirche durch Austritt entziehen, dadurch wieder, dass sie die Kirchen über die Privatisierung öffentlicher Aufgaben in kirchliche Hand zu einen immer größeren Arbeitgeber mästet, der noch dazu als Tendenzbetrieb zu besonderer Willkür fähig ist und dies auch ausübt. Und damit die Kirchen das leisten können, erhalten sie Steuergelder, die über das hinausgehen, was der Staat durch die Privatisierung angeblich spart.

    Und wo wir gerade bei Strohmännern sind: Was genau soll dieses „Übermenschliche“ eigentlich sein, für das Gedanken und Methoden der Auseinandersetzung Eingang in die allgemeine Diskussion finden sollen, das also scheinbar außer der Kirche niemand behandelt?

    „Es gibt den schönen Spruch: Glauben heißt, nicht wissen.
    Man kann ihn auch so verstehen: Solange Glaube nötig ist, ist es mit dem Wissen nicht weit genug gediehen.“ (BvG)
    Entgegen der früheren Vorstellung, dass man die Götter brauchte, um das nicht vorhandene Wissen zu ersetzten, dürfte der Ursprung der Religionen im Wunsch nach Kontrolle liegen: Wer anstelle der unkalkulierbaren Macht der Natur eine Person setzt, hat jemanden, an den er Bitten richten kann und hat die Hoffnung, mit dieser Bitte etwas zu erreichen. Wir können diese Haltung heute direkt bewundern, wenn z.B. Evangelikale in den USA über die Statistik von Heilungserfolgen versuchen zu beweisen, dass es nutzt, für Kranke zu beten.

  14. @Wohlgemuth
    Falls Sie mit „Verstehen“ meinen „Die Kritik von der Gegenseite ist … und hat nach Betrachtung der gefundenen Teile keine Intention, das Objekt wieder zusammenzusetzen.“, folge ich dem nicht, denn es ist ja eine Binsenweisheit, daß verstandene Teile nicht das Verstehen des Ganzen zur Folge haben. Aber ein Indikator kann die Methode trotzdem sein, denn etwas, das man auseinandernehmen, aber nicht mehr zusammensetzen kann, ergibt zwei Möglichkeiten: Man hat es nicht verstanden oder es funktionierte nicht.

    Ob wir uns im Begriff der „Monokausalität“ einig sind, weiß ich nicht. Sie scheinen damit einen „Urgrund“ oder einen einzigen Gott zu verstehen, auf dessen Ursache alle Wirkungen zurückzuführen sind. Das wäre immerhin eine weitsichtige offene Sichtweise.
    Das meine ich damit nicht.
    Ich meine das Bedürfnis der (mancher)Menschen, eine Kausalitätskette zu entwickeln, die das heutige Sein folgerichtig erklären soll und immer denjenigen „Grund“ akzeptiert, der die „Folge“ zu erklären vermag. Dies ist eine kurzsichtige, geschlossene Sichtweise.

    Im Bezug auf die „verordnete Weltanschauung“ überschätzen sie die Menschen oder unterschätzen deren Autoritätsbedürfnis (oder auch nur deren Gleichgültigkeit). Ich denke, daß sehr viele zufrieden damit leben, wenn man ihnen sagt, was sie glauben sollen.

    Bezüglich „Glauben heißt, nicht wissen.“ :
    Auch hier verstehen sie falsch: Der Mensch ist, aufgrund seiner begrenzten Lebenszeit, gezwungen, sich irgendwann mit seinem begrenzten Wissen für eine Sicht der Dinge zu entscheiden und nach dieser zu leben. Der Mensch kann nicht ewig lernen. Er kann aber, wenn er sich auf Erkenntnisse der Wissenschaft verlassen kann, die Phase des Lernens verkürzen und sich auf bestehende Erkenntnisse stützen und berufen. Diese Funktion hat Religion auf unwissenschaftliche Weise erfüllt, diese Funktion praktikabel zu erfüllen hat die Wissenschaft bislang nicht geschafft. Man braucht keine Götter, um Wissen zu ersetzen, man braucht Abstraktion.

  15. @BvG: Wenn Sie mit bestimmten Assoziationen belegte Begriffe wie Fundamentalismus in Ihrem Sinne redefinieren, dann sollten Sie das auch dranschreiben. Das erspart Ihnen, eine weitschweifige Erklärung nachschieben zu müssen.

    Zudem widersprechen Sie sich, wenn Sie einerseits maderholz recht geben, daß die Zeiten der Religionen vorbei ist, aber im gleichen Atemzug postulieren, daß die entstehende Lücke durch neue (Pseudo-)Religionen und Kulte gefüllt werde, daß die entstehende Lücke grundsätzlich und überhaupt gefüllt werden müsse. Das ist nicht logisch.

    Was das glauben betrifft, so werden Sie wohl oder übel nicht darauf verzichten können. Weder können Sie alles wissen noch alles überprüfen können, was Ihnen als Wissen oder Nachricht dargebracht wird. Und selbst das gesichert erscheinende Wissen erweist sich nicht selten als bloßer Glaube oder Annahme, wenn plötzlich bisher unbekannte Faktoren ins Spiel kommen. Die Gegenweisheit zum „Glauben heißt nicht Wissen“ lautet „Alles Wissen ist Stückwerk.“ Mit welchem Bindemittel füllen Sie die Lücken? Werfen Sie das Beil also nicht zu weit weg.

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    @maderholz: Sie verkennen die Hartnäckigkeit, mit der sich Geister- und Götterglauben und daraus abgeleitete Kulte und Religionen halten – immerhin schon so lange, wie Menschen nach Antworten suchen und sie in „jenen höheren Wesen, welche wir verehren“ fanden. Ein theologischer Grundsatz sagt „Menschen machen Götter“, nach ihrem Bilde formen sie die Götter. Eigentlich wäre es wichtig zu fragen, warum sie das tun, aber die Antwort kenne ich nicht.

    Und selbst wenn die herkömmlichen Religionen wirklich verschwinden sollten, was ich noch lange nicht sehe, so lieferen die „technisch und wissenschaftlich geprägten Gesellschaften“ schon die neuen Götter, die Ingenieure und Wissenschaftler sind die neuen Theologen und Priester. Da werden dann als personifizierte Neo-Gottheiten „die Natur“, „die Evolution“ und ähnliche beschworen, die irgendeinen Willen oder Nichtwillen haben sollen. Die Astronomie wiederum liefert die neuen Kosmologien mit Schöpfungs- und Endzeitmythen, schauen Sie sich mal so eine Astronomiesendung bei ZDF Info an, die werden regelmäßig wiederholt, das hat schon was mystizistisches.

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    @Frank Wohlgemuth: Erst waren die Geister und Dämonen, die zu Göttern wurden, und daraus entstanden – zumindest im vorderasiatischen Kulturraum – die organisierten Religionen mit Priestertum und Schrift zwecks Herrschaftsausübung. Die Evangelikalen sind bzgl. dieses Themas allerdings eher bescheiden. Interessant ist die Entwicklung eines mordgierigen, blutrünstigen und herrschsüchtigen Wüstendämomen, der einmal der Stammesgott eines kleinen Nomadenvolkes irgendwo im nahen Osten war. Immerhin hat der es zum Glaubensinhalt der drei abrahamitischen Religionen gebracht.

    Der Islam hat diese Vorstellung eines abstrakten Gottes, der sich jeder Vorstellung entzieht, dem aber trotzdem bedingungsloser Gehorsam zu leisten sei, hervorragend perfektioniert. Der Gipfel der Selbstversklavung ist es, mehrmals täglich vor einer absoluten Abstraktion, also Nichts, die Proskynese zu vollziehen, d.h. sich in den Staub zu werfen. Wer das tut, duldet fraglos auch andere Hrrschaft, solange sie sich nur in den Mantel der Religion kleidet. Das ist ein schon fast perfektes totalitäres System.

  16. @BvG #14
    Über die Monokausalität sind wir uns einig, evtl. nicht darüber, dass es nicht das Bedürfnis nach einfachen Zusammenhängen ist, das zur Religiosität führt.

    Insofern glaube ich auch nicht, die Menschen zu überschätzen – Unterordnung führt zu emotionaler Sicherheit und ist damit für die große Mehrheit attraktiv. Da sehe ich auch keine Differenzen.

    Die entstehen dadurch, dass Sie das Weltbild oder den Glauben nur im Intellekt ansiedeln und deshalb meinen, man könne sich sein Weltbild so einfach aussuchen, bzw. ein verordnetes annehmen. Das ist mit Sicherheit etwas komplexer – auf die Mechanismen der Entstehung des persönlichen Weltbildes habe ich oben schon hingewiesen.

    Mit dem letzten Absatz kann ich nicht soviel anfangen: Ich lebe mit der Unsicherheit, und das geht prima. Ich brauch keine Wahrheit, und diese kann Wissenschaft auch nie geben: gute Wissenschaft gibt immer nur hinlängliche Beschreibungen der Vergangenheit und der Gegenwart zu einer brauchbaren Vorhersage für einen definierten Zeitraum. Aber damit lässt sich gut leben. Vorhersagen für die Ewigkeit braucht nur, wer von einem ewigen Leben ausgeht – das vom Gefühl her auch nicht zu leugnen ist. An dieser Stelle ist es tatsächlich nur der Intellekt, der mich darauf vertrauen lässt, dass ich mir für mich um die Ewigkeit keine Sorgen zu machen brauche, weil ich nur dieses eine begrenzte Leben auf der Erde habe.

    Aber ein Zwang zu irgendeiner Entscheidung besteht hier an keiner Stelle, es besteht nur die Möglichkeit dazu und das Nutzen dieser Möglichkeit ist immer schmerzhaft, weil es uns aus der Sicherheit der einfachen Übernahme der Überlieferung, die weitgehend nicht durch den Intellekt, sondern unbewusst d.h. durch das Gefühl geschieht, herausreißt. Und das ist unabhängig davon, ob die elterliche Tradition uns in eine religiöse, d.h. esoterische Welt mit Übersinnlichem oder in eine physikalische Welt ohne derartigen Schabernack führt.

  17. So interessant diese Debatte ist: Sie erscheint mir doch etwas akademisch angesichts der (im Prinzip wohl richtigen) Feststellung von EvaK: „Religionskritik kann also bestenfalls der Provokation der Gläubigen dienen, die leicht darauf anspringen.“ (#7)
    Vielleicht ist es hilfreich, zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Da ging es ja nach Bronskis Darlegung um ein „Nachlegen“ in der „Beschneidungsdebatte“, und zwar mit dem übelsten der dabei zu Tage getretenen Aspekte, nämlich dem Vorwurf „Beschneidungsgegner sind Antisemiten“. Und um die „Kloppe“, die er dafür bekam, auch andere Meinungen zu berücksichtigen.
    Herr Wohlgemuth: So sehr Ihre in #5 geäußerte Toleranz gegenüber Glaubensrichtungen, die Sie nicht teilen, Sie ehrt: Sie werden damit dem Vorwurf des „Antisemiten“ nicht entgehen. Zumindest, solange Ihre Einstellung nicht auf Gegenseitigkeit beruht – und davon sind wir weit entfernt. Sie stellen ja auch richtig fest: „Und Religionen interessieren mich höchstens von der psychologischen Seite ihrer Macht über Menschen und wie sie dahin kommen.“ – Genau darum geht es!
    Tendenz zur „Selbstversklavung“, wie EvaK (#15) sie am Islam feststellt (ich würde dies eher auf islamistische Formen der Interpretation einschränken) ist nur eine Seite der Medaille. Sie zielt notwendigerweise auch auf die Versklavung anderer. Es geht ja um das Verhältnis zu einer realen sowie (bei religiösen Menschen) auch imaginären Macht. Und wie ein Heinrich Mann schon im „Untertan“ blendend analysiert hat: Wer sich einer Macht unterwirft, hat, wenn auch leidend, Anteil an ihr.
    Wie sieht die Geschichte also unter dem Aspekt der Machtfrage aus? Geht es lediglich um die pathetisch hinausposaunte Verteidigung „jüdischer Identität“, wenn eine Staatsmacht, die nicht nur der weltanschaulichen Neutralität, sondern auch den Menschenrechten verpflichtet ist, erstmals nicht nur Verletzungen der Integrität der Schwächsten stillschweigend duldet, sondern auch gesetzlich absichert? Wenn nicht nur Frank Wohlgemuth „fast die gesamte deutsche Presselandschaft“ wie „gleichgeschaltet“ vorkam, „nur in diesem Fall nicht durch ein Propagandaministerium, sondern durch eine konzertierte Aktion der Kirchen“? (#5)
    Und warum soll erwartet werden, dass nach diesem Einknicken vor fundamentalistischen Forderungen einer kleinen Minderheit die Antisemitismus-Keule, die sich so erfolgreich gezeigt hat, ins Korn geworfen wird?
    Man kann diese „konzertierte Aktion der Kirchen“ auch so sehen, dass da noch ganz andere Süppchen gekocht werden und man so am besten gewährleistet, auch eine entsprechende Portion abzubekommen.
    Um mich recht zu verstehen: Es geht mir keineswegs um ein neues Aufwärmen einer höchst unseligen Debatte. Wohl aber darum, die Grenzlinie zwischen persönlichen religiösen Überzeugungen und fundamentalistischen Einstellungen aufzuzeigen, die sich so schön hinter der Forderung nach „Religionsfreiheit“ verstecken lässt. (Wiewohl dies wie auch der mögliche Hang zum Totalitären keineswegs nur Angelegenheit religiös eingestellter Menschen ist.) Dass auf solche Grenzziehungen immer wieder mit der Allzweckwaffe „Antisemistismus“-Vorwurf geantwortet wird, zeigt gerade, wie notwendig dieses ist.

  18. „Herr Wohlgemuth: So sehr Ihre in #5 geäußerte Toleranz gegenüber Glaubensrichtungen, die Sie nicht teilen, Sie ehrt: Sie werden damit dem Vorwurf des „Antisemiten“ nicht entgehen.“ (Werner Engelmann #17)

    So einen Vorwurf sollte man nicht einfach bei Seite wischen, aber bei diesem Thema habe ich länger darüber nachgedacht und bin für mich zu dem Ergebnis gekommen, dass er nur auf der psychischen Ebene erklärbar ist. Deshalb ist er mir hier Woscht, wie man in Frankfurt wohl sagen würde. (Ich bin mir auch nicht sicher, dass einem religiösen Menschen das Attribut tolerant das erste wäre, was ihm zu dem einfiele, was ich da geschrieben habe. 😉 )

    Es fällt mir in dem Zusammenhang sowieso öfter auf, dass es eine Gemeinsamkeit mit der „politisch korrekten Fraktion“ und der dezidiert als politisch inkorrekt auftretenden Rechtsaußen-Fraktion gibt: Beide sind sich sehr sicher, schon an ganz wenigen Wörtern (dieser Plural wurde bewusst gewählt) feststellen zu können, wer ganz sicher zur anderen Seite gehört. So bin ich inzwischen auch daran gewöhnt, in Diskussionen von der politisch korrekten Fraktion, zu deren Zielen ich mich eigentlich bekenne, als Nazi eingeordnet zu werden. Aber das nur nebenbei.

    Noch einmal ganz konkret zum Titel und zum Anlass dieses Threads: Es haben nur sehr wenige Medien nachträglich darüber berichtet, aber gibt es außer der SZ überhaupt eine überregionale Zeitung, die ankündigend über die Demonstration vor dem Kölner Landgericht zum „Day of Genital Autonomy“ anlässlich des Kölner Urteils vor einem Jahr berichtet hat? Die Organisationen, die dazu aufgerufen hatten, waren nicht unbedingt vom rechten Rand unserer Gesellschaft, auch der „SprecherInnenKreis der Säkularen Grünen“ unterstützte die Demonstration am 7. Mai in Köln.

    Angesichts der Größe der Debatte finde ich die allgemeine Zurückhaltung in dieser Nachricht ähnlich auffällig wie es innerhalb der Debatte der Tenor der Kommentare war.

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