Gerichtsurteil im UK: Wir alle haben mit Julian Assange verloren

Das Londoner Appellationsgericht hat am Freitag den Weg zur Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA freigemacht. Die beiden Höchstrichter hoben eine Entscheidung der Erstinstanz auf, die mit Blick auf den labilen psychischen Zustand des 50-Jährigen die Überstellung verweigert hatte.Das ist ein Skandal und ein Angriff auf die Pressefreiheit, denn Assange hat nichts anderes gemacht als das, Journalist:innen gemeinhin machen, wenn man sie denn arbeiten lässt: Er hat berichtet, dokumentiert und enthüllt. Assange 2017Unter anderem Bilder von Menschenrechtsverbrechen im Irak, verübt von US-Soldaten. Diese Bilder gingen um die Welt und brachten die US-Kriegspolitik noch mehr in Verruf, als dies vielfach ohnehin schon der Fall war. Daher ist Assange für die USA ein Hochverräter. Sie wollen ihm unbedingt den Prozess machen. Dabei sind wir uns doch hoffentlich alle darin einig, dass nicht nur das Whistleblowing, ohne die solche Berichterstattung nicht funktionieren kann, geschützt werden müssen – Beispiel Chelsea Manning, früher Bradley Manning –, sondern auch die Plattformen und Medien, die solche Berichterstattung aufgreifen und sie verbreiten. Ohne Whistleblowing hätten Journalist:innen bedeutend weniger Quellen. Dabei geht es ja nicht immer nur um die großen, spektakulären Fälle. Wie sollen sie über die Skandale unserer Zeit berichten, wenn es nicht mehr möglich ist, dass sich Menschen, die Geheimnisse kennen, vertraulich an sie wenden? Wir hatten gerade erst den Fall der Ippen-Recherche zu „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Ob die betroffenen Frauen sich überhaupt dem Rechercheteam offenbart hätten, wenn sie nicht davon hätten ausgehen können, dass dieses Team sie als Quelle schützt?

Daher ist dieses Urteil ein Angriff auf die Pressefreiheit und damit auf die Demokratie, zu deren Grundpfeilern eben jene Pressefreiheit gehört. Die ehemalige FR-Chefredakteurin Bascha Mika kommentiert das Urteil dann auch glasklar als „Kuschen vor den USA„.

fr-debatteDas Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet

Da wird Joe Biden noch so manches Demokratieforum einberufen müssen, nicht nur, um die demokratisch Zurückgebliebenen zu fördern, sondern um sich an die eigene us-amerikanische, undemokratische Nase zu fassen und mit ihm die westlichen Verbündeten. Nun haben all die Diktatoren und Unrechtsstaatenvertreter wieder neues Material, um mit dem Finger auf die selbsternannten demokratischen Musterschüler zu zeigen. Die Feinde der Demokratie in den eigenen Ländern werden sich mal wieder bestätigt fühlen und den Fall Assange zum Anlass nehmen, ihre Regierungen der Unterstützung des Unrechts bezichtigen, selbst wenn ihnen das Schicksal des Betroffenen völlig gleichgültig ist. Die Aufgeklärten werden empört und masslos enttäuscht sein. Leider muss man konstatieren, dass ihnen gemeinsam ist, wenn auch aus so unterschiedlichen Gründen, dass sie mehr das Vertrauen in Politik und Rechtsstaat verlieren. Die einen werden die Demokratie weiter bekämpfen, die anderen sehen sich gezwungen, sich gegen ihre eigenen Regierungen für mehr Demokratie einzusetzen. Aber natürlich wird von deren Seite abgewiegelt und relativiert, denn es macht einen Unterschied, ob man Assange einer langjährigen, zermürbenden psychischen Folter unter dem Denkmantel des Rechtsstaats aussetzt oder einen Bürger des eigenen Landes in einer Botschaft grausam zerstückelt, was nicht daran hindert, weiter Waffen zu liefern und blühende Geschäfte miteinander zu machen.
Das Leben von Assange ist ob dieses schreienden Unrechts gefährdet, verloren aber haben wir alle, indem Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaat in dieser Weise seiner Wehrhaftigkeit beraubt werden.

Robert Maxeiner, Frankfurt

fr-debatteBeispielloser Angriff auf die Pressefreiheit

Heute hat das Londoner Gericht nach zwei Jahren „Nachdenken“ beschlossen, dass Julian Assange doch an die USA ausgeliefert werden kann. Ein beispielloser Angriff auf die Pressefreiheit. Warum schweigt die internationale Presse?
Warum schweigt Europa? Wäre es nicht angebracht, aus Protest, einmal in allen demokratischen Ländern einen Tag lang keine Zeitungen herauszugeben. Will man solange warten, bis man selbst betroffen ist? Man erinnere sich an das Zitat von Martin Niemöller. Verkürzt „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Gilt jetzt die neue gesetzliche Regelegung, dass die Mörder die Augenzeugen ihrer Verbrechen als Spione verfolgen können?
Ich empfehle dringend allen Lesern in der ZDF-Mediathek die Reihe „Schattenwelt“ und hier besonders den Teil 3, „Die neue Macht der Geheimdienste“ zu schauen. Die USA haben nach 9/11 einen beispiellosen Rachefeldzug gegen die halbe Welt begonnen. Psychologen haben geholfen, die Folterpraktiken, die von der Regierung genehmigt worden sind, zu verfeinern. Auch dem NAZI-Regime waren viele Mediziner gefällig. Von den geheimen Foltergefängnissen in Europa wollen unsere Nachbarn heute nichts mehr wissen.
Wenn Julian Assange wirklich ausgeliert werden sollte, dann kann niemand mehr an Recht und Gesetz glauben.

Christoph Kruppa, Riederich

fr-debatteAssange ist ein Erbe großer Philosophen

Die Prozessführung gegen Assange und seine Inhaftierung stellen eine Verhinderung seiner Berufsausübung dar. Das wird zuwenig ins Licht gerückt. Gerade dies ist für die USA entscheidend: Die Angst vor der weiteren publizistischen Tätigkeit von Assange. Damit wird auch zugegeben, dass die von ihm betriebene Arbeit rechtens ist. Die „gutmeinenden“ Anwälte haben zu sehr versucht, Assange von Vorwürfen reinzuwaschen, anstatt ihn in seiner grossen Bedeutung herauszustellen, die ihn für die Mächtigen so gefährlich macht.Und für uns notwendig.
Falsch ist es, immer seine gesundheitliche Not zu betonen (die evident ist), was darauf hinauslaufen könnte, dass er aus Mitleid nicht ausgeliefert wird. Das ist der falsche Weg. Für ihn und auch für uns.
Sein Weg im legitimen Entlarvungsjournalismus muss unser Weg bleiben.
Es darf kein Zweifel daran aufkommen, dass seine Arbeits- und Enthüllungsmethoden richtig waren und dass grosse Enthüller der Aufklärung wie Voltaire sie bereits mit Erfolg und weltweiter Anerkennung benutzt haben. Voltaire im Fall Calas, der ohne Voltaires gezielte Untergrabung der Vertuschungen durch Staat und Gerichte in Frankreich nie zu einer Wahrheitsfindung und Rehabilitierung des Unschuldigen geführt hätte. Assange ist ein Aufklärer im besten Wortsinn, ein Erbe der grossen Philosophen des 18. Jahrhunderts.

Hermann Hofer, Marburg

fr-debatteBaerbock könnte jetzt konkret handeln

Da haben US-Vertreter nun dem britischen Gericht „ein Paket von >feierlichen< Versprechungen zur Behandlung des Häftlings vor(gelegt)“. Na: das wären nicht die ersten Versprechen einer Regierung, die permanent Völker- und Menschenrechte verletzt und mit dreisten Lügen Kriege vom Zaun bricht. In dem informativen Beitrag wird noch etwas Essenzielles vorenthalten, das Stella Moris, die Verlobte von Julian Assange, in Reaktion auf diese perfide Gerichtsentscheidung zum Ausdruck bringt: „Wie kann es fair sein, wie kann es richtig sein, wie kann es möglich sein, Julian an genau das Land auszuliefern, das seine Ermordung geplant hat?“, sagte sie. Denn im September wurden die CIA-Pläne zur Ermordung von Julian Assange aufgedeckt. Demnach gab es Gespräche über die Ermordung von Assange in London „auf höchster Ebene“ der CIA und des Weißen Hauses von Trump, und konkrete „Optionen“ für die Ermordung auf Anweisung von Mike Pompeo, dem damaligen CIA-Direktor. Und nun der Bogen zu unserer neuen Außenministerin Baerbock, die früher die sofortige Freilassung von Assange gefordert hat, nun als Ministerin konkret handeln könnte. Die Frage lautet ja: wer sollte ins Gefängnis: diejenigen, die schlimmste Kriegsverbrechen begangen haben, oder derjenige, der diese aufgedeckt hat? Hier muss sie und die neue Bundesregierung klar Flagge zeigen – und Julian Assange z.B. politisches Asyl anbieten! Das wäre ein klares Zeichen souveräner, wertebasierter Außenpolitik, wovon dauernd geredet wird. Dazu braucht es aber Rückgrat, „aufrechten Gang“ (Ernst Bloch) auch gegenüber vermeintlichen „Freunden“ in Washington, die sehr böse werden können!

Edgar Göll, Langgöns-Oberkleen

fr-debatteDas Urteil ist eines Rechtsstaats nicht würdig

Bascha Mika hat vollkommen recht und trifft den Nagel voll auf den Kopf. Das Urteil des Londoner High Courts zu Lasten von Julian Assange ist in der Tat eine Schande und eines Rechtsstaats nicht würdig. Das Kuschen vor den USA ist in dieser Frage auch ein Generalangriff der Justiz eines demokratischen Staates gegen die Pressefreiheit und gibt den Vereinigten Staaten sozusagen einen Freibrief dafür, Julian Assange zu quälen und zu foltern. Es ist ein Einschüchterungsversuch frei arbeitender Journalistinnen und Journalisten in aller Welt. Es ist geradezu zynisch, wenn ausgerechnet an dem Tag der Menschenrechte dieses Urteil verkündet wurde und Assange jetzt mit seiner Auslieferung in die USA rechnen muss. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben vollkommen recht, wenn sie das Urteil scharf kritisieren und die Zusage der Vereinigten Staaten anzweifeln, wonach die USA Julian Assange menschenwürdig behandeln. Der Wikileaks-Gründer muss somit aus der Ferne ansehen, dass heute der Friedensnobelpreis an zwei zivilcouragierte Journalisten aus autoritären Systemen verliehen wurde. Die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, wenn sie es ernst meint, sollte sich dafür einsetzen, dass sich die USA wieder an die Werte erinnern, die in der Verfassung Amerikas niedergeschrieben sind und der Meinungs- und Pressefreiheit einen außerordentlich wichtigen Stellenwert einräumen. Und US-Präsident Joe Biden sollte sich, wenn er glaubwürdig bleiben will, auch gegen den erbitterten Widerstand, der von Republikanern und konservativen Demokraten ausgeht, zu einer Begnadigung Julian Assanges durchringen. Eine Demokratie, die es nicht ertragen kann, dass schmutziges Regierungshandeln an die Öffentlichkeit gebracht wird und engagierte Menschen sich die Freiheit nehmen, brisante Themen und Vorfälle einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist in Wirklichkeit keine Demokratie und dagegen müssen freiheitsliebende Demokratinnen und Demokraten in aller Welt demonstrieren. Das Urteil des High Courts muss alle, die den Begriff Freiheit ernst nehmen, auf den Plan rufen. Ohne Menschen wie Julian Assange ist kein demokratischer Staat zu machen, was sich auch die Vereinigten Staaten von Amerika verinnerlichen müssen, begreifen müssen.

Manfred Kirsch, Neuwied

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2 Kommentare zu “Gerichtsurteil im UK: Wir alle haben mit Julian Assange verloren

  1. Mit der Meinung von Bascha Mika stimme ich voll und ganz überein. Ich gehe sogar davon aus, dass Premier Johnson, der Vasall der USA, seine Hand mit im Spiel hatte.
    Wie kann man dem obersten Gericht eines Landes, dem britischen High Court, noch gerechte Gerichtsurteile zutrauen, wenn es den Rachegelüsten eine Geheimdienstes nachgibt und den Auslieferungsauftrag nach USA akzeptiert? Man kann jetzt bereits davon ausgehen, dass der dafür bekannte CIA vor Folterung nicht zurückschreckt. Man sollte sich immer wieder in Erinnerung zurückrufen, dass Assange nichts anderes getan hat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Bürger der USA begangen haben, und die die amerikanische Regierung weltweit mit Recht anprangert (s. China) der Weltöffentlichkeit preiszugeben.
    Viele Menschen habe gehofft, dass mit der Präsidentschaft v.J.Biden, eines Demokraten, mehr Gerechtiggkeit in die amerikaniche Politik einkehrt, wurden aber auch in diesem Falle tief enttäuscht.Auch Biden setzt die Verfolgung des freien Journalismus fort,wenn es um die Interessen der USA geht.
    Es wäre höchste Zeit, dass hier der amerikanische Präsident ein Machtwort spricht und die „Hexenjagd“ sowohl gegen Assange als auch Snowden einstellt.Dabei würde vielleicht auch helfen, dass sich die Regierungschefs von demokratischen Ländern ebenfalls für deren Freilassung besonders einsetzten.

  2. Das EU Parlament zeichnet Alexei Nawalny mit dem Sacharow-Menschenrechtspreis aus. Herr Krökel findet, das ändere zwar nichts an der Situation in Russland, es könne aber auch nicht schaden, wenn sich die Europäer durch solch eine Preisverleihung noch einmal ihres Standortes versichern: Wir gehören an die Seite von Demokraten und Freiheitskämpfern.
    Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Allerdings wäre das Signal, welches das EU Parlament hier aussendet, deutlich überzeugender, wenn es sich mit gleicher Freiheits- und Demokratieliebe für den im russischen Exil lebenden Edward Snowden einsetzen würde oder den in Großbritannien eingekerkerten Julian Assange, der massive Menschenrechtsverletzungen durch die USA publik gemacht hat. Dafür hätte er wahrlich schon längst den Sacharow-Preis verdient gehabt. Vehemente Aufforderungen der EU oder ihrer Mitgliedsländer an die USA oder Großbritannien, die Verfolgung von Snowden und Assange umgehend einzustellen, wären seit Jahren angebracht gewesen. Und falls dies nicht wirkt, vielleicht sogar eine Ausweisung von Diplomaten? Undenkbar. Stattdessen Schweigen im Walde, „aus wohlverstandenem Eigeninteresse“. Ich nenne das Doppelmoral.

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